Die WTO hat die Digitalisierung entdeckt

– zäumt aber das Pferd von hinten auf

11.10.2018
Arndt Hopfmann
WTO Public Forum 2018 — “Trade 2030”

Ohne Internet keine Zukunft

Das alljährlich stattfindende Public Forum der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) hat sich 2018 ganz einer Prognose zur Gestalt des Handels im Jahr 2030 verschrieben. Wenn es um derartige Visionen geht, steht bekanntlich der Spekulation Tür und Tor offen. Eines jedoch ist bereits jetzt Common Sense – der Handel wird 2030 vor allem digital stattfinden. Deshalb verwundert es auch kaum, dass Jack Ma, der geschäftsführende Vorstand von Alibaba, auf der Eröffnungsveranstaltung nicht nur seinen Glauben an Freihandel, sondern auch den an die Zukunft des Internets bekräftigte: 2030, so Ma, wird niemand mehr etwas auf ‚made in USA‘ oder ‚made in Switzerland‘ oder ‚made in China‘ geben – alles wird ‚made in Internet‘ sein.

Es fragt sich nur, woher Ma diese mit viel Verve verkündete Gewissheit nimmt. Offenbar verlängert er schlicht die vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen Alibaba zum nach Amazon größten internetbasierten Handelskonzern der Welt aufgestiegen ist, in die Zukunft. Der Internetpionier von einst offenbart damit eine, gemessen an den vielen überraschenden Wendungen, die gerade der IT-Sektor in den letzten Jahren durchgemacht hat – von künstlicher Intelligenz bis hin zur Block-Chain-Technologie –, erstaunlich konservative Sicht auf die Zukunft. Alles soll offenbar so weitergehen wie bisher; nur noch globaler und noch größer und noch monopolistischer. Ähnlich konservativ geprägt war auch die auf derselben Veranstaltung präsentierte Sicht von Erik Solheim (Direktor des UN-Umweltprogramms), der offenbar tatsächlich davon ausgeht, dass mit der weltweiten Verbreitung von elektrisch angetrieben Fahrzeugen die Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele bis 2030 bereits gesichert ist, trotz – oder gerade – weil auch er überzeugt ist, dass der Welthandel weiter nahezu ungebremst wachsen wird. Ähnliches vermutet auch der während des Public Forums veröffentlichte World Trade Report 2018 der WTO. Dort wird zum Beispiel davon ausgegangen, dass der Welthandel zwischen 2015 und 2030 um 31 bis 34 Prozentpunkte, vor allem infolge der durch die Digitalisierung ermöglichten Kostensenkung, zunimmt.

Allerdings muss auch Solheim einräumen, dass „Mutter Erde zürnt“. Das ist aber aus seiner Sicht wohl kein wirklicher Grund zur Besorgnis oder gar Anlass, das wachstumsfixierte Produktions- und Konsumtionsmodell infrage zu stellen, denn wir seien „besser denn je gerüstet“ mit den Folgen heftiger Stürme oder eines steigenden Meeresspiegels oder auch mit Dürren umzugehen. Mit anderen Worten: Bezüglich des Wachstumsmantras gibt es von Azevêdo, Ma und Solheim & Co. nichts Neues. Eine bessere Zukunft ist für sie nur mit immer mehr Freihandel und stetem Wirtschaftswachstum vorstellbar.

Freihändler und Fortschrittsfeinde

Diese Ansicht wurde von der überwältigenden Mehrzahl der Teilnehmer*innen des WTO-Public Forums, das vom 2. bis 4. Oktober 2018 im Hauptquartier der Welthandelsorganisation in Genf stattfand, geteilt. Kritische Stimmen von einigen wenigen Vertreter*innen aus Nichtregierungsorganisationen – wie zum Beispiel Our World is not for Sale – oder aus Ländern des globalen Südens wurden bestenfalls ignoriert. Wenn auf sie Bezug genommen wurde, dann stets mit dem manchmal offen vorgetragenen, in der Regel aber unterschwelligen Verdacht, dass es sich bei diesen Personen nur um „Verweigerer“ oder gar „Feinde des Fortschritts“ handeln könne. Diesen wurde dann, unter anderem vom WTO-Direktor Roberto Azevêdo ins Stammbuch geschrieben, dass es keinen Sinn mache, den technologischen Fortschritt zu bremsen oder gar verhindern zu wollen. Dieser werde so oder so voranschreiten. Da sei es schon besser, die Herausforderung anzunehmen und sich an die Spitze des unaufhaltsamen Prozesses zu stellen.

Und da war es dann auch wieder, das alte, nur zu bekannte TINA-Prinzip – „there is no alternative!“. Die WTO hat keine Wahl, sie muss sich – koste es, was es wolle – den Herausforderungen des digitalen Handels stellen. Und am besten kann sie das offensichtlich, wenn sie sich im Rahmen von „Handels-Dialogen“ gleich von den führenden internetbasierten Konzernen (B20), also von Amazon, Apple, Facebook, Google, Microsoft & Co. und von der International Chamber of Commerce (ICC) direkt beraten lässt. In einem Papier, das am 7. Juni 2018 im Rahmen eines „Handels-Dialogs“ entstanden ist, wird in sechs Punkten zur digitalen Wirtschaft (e-commerce) insbesondere ein „kohärentes Regelwerk“ gefordert, das vor allem grenzüberschreitenden Datenflüssen den Weg ebnet sowie Datenlokalisierungserfordernisse und Besteuerung von elektronischen Handelsaktivitäten im Interesse der bereits etablierten Unternehmen verhindert.

Die offensichtliche Eile und der (Über-)Eifer, mit dem die WTO in Bezug auf die digitale Wirtschaft zu Werke geht, hat allerdings nicht nur wegen seiner offensichtlichen Fixierung auf die Interessenlage der globalen Großkonzerne einen faden Beigeschmack. Hier geht es angesichts der wachsenden Skepsis, die der WTO von wichtigen Mitgliedsländern, nicht zuletzt den USA entgegengebracht wird, ganz offensichtlich auch um den Nachweis der Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit.

Mit Blick auf das, was mit der Ausweitung des digitalen Handels vor allem auch für weniger entwickelte Staaten und für kleine und mittelständige Unternehmen auf dem Spiel steht, erscheint es jedoch eher ratsam vorsichtig und überlegt vorzugehen. Und so empfiehlt der Trade and Development Report 2018 der UNCTAD (Konferenz für Handel und Entwicklung der Vereinten Nationen) auch aus einsichtigen Gründen eine übereilte Festlegung von Regeln, die langfristige Auswirkungen auf eine sich rasch entwickelnde Branche haben, die zudem von einflussreichen Akteuren mit eigensüchtigen Geschäftsinteressen dominiert wird, unbedingt zu vermeiden (S. IX).

Die Zukunft von Handel und Industrialisierung

In der Tat gibt es eine ganze Reihe guter Gründe vorsichtig zu sein und wohl überlegt zu handeln, wenn es um die Zukunft der digitalen Wirtschaft geht.

Erstens muss Handel von einem Selbstzweck wieder zu dem werden, was er eigentlich ist: nämlich ein Mittel, um durch den Austausch von Gütern, Leistungen und Informationen die wirtschaftliche Effektivität und das Gemeinwohl zu steigern. „Inklusiver Freihandel“, wie er von der WTO propagiert wird, ist dazu allerdings wenig geeignet. Bestenfalls konserviert er den Status quo – also bereits bestehende Entwicklungsunterschiede –, in der Regel verschärft er allerdings infolge der ungleichen Verteilung der Gewinne die dem kapitalistischen Weltwirtschaftssystem inhärente Tendenz zur Polarisierung – zur Vergrößerung der Kluft im Entwicklungsniveau. Es kann also nicht nur um inklusiven Handel für alle (bzw. mit allen) gehen, vielmehr muss eine Angleichung der Entwicklungsniveaus eine wichtige Zielgröße darstellen. Dazu bedarf es der strategischen Ausrichtung und politischen Steuerung des Handels – und seiner Abstimmung mit einem weiteren unverzichtbaren Instrument: einer progressiven Industriepolitik.

Zweitens ist die digitale Wirtschaft ein komplexes Feld, das nicht allein Handelsaktivitäten im engeren Sinne umfasst. Neben dem eigentlichen elektronischen Handel (e-trade), bei dem es vor allem um Marketing, Zahlungsabwicklung, internetbasierte Leistungen und Informationsaustausch geht, spielt die elektronische Geschäftskommunikation (Cloud-Computing, Smartphone- und zunehmend auch die Block-Chain-Technologie) eine wesentliche Rolle. Schließlich ist auch die digitale Verwaltung (e-Gouvernement), also die Bearbeitung von Anträgen, die Erstellung von Dokumenten, Zertifikaten etc. von zunehmender Bedeutung. Für all diese spezifischen Tätigkeitsfelder werden wohl überlegte, wirksame Regelungen gebraucht.

Drittens ist auch das Internet selbst nur ein Instrument – wenn auch ein sehr wichtiges und machtvolles. Im Kern bewirkt es eine Kontraktion von Raum und Zeit und es schafft die technische Basis für bis dato unbekannte Serviceleistungen. In diesem Sinne ist das Internet zwar Quelle von „Effektivität“, aber es „produziert“ genau genommen nichts. Als Schlüsselinfrastruktur, als Basis für Plattformen aller Art, ist es jedoch unverzichtbar geworden, und bedarf der Regulierung, um die Abhängigkeit von einer Handvoll Superkonzernen zu brechen bzw. zu verhindern. Daher verweist der UNCTAD-Trade and Development Report 2018 darauf, dass es insbesondere für Entwicklungsländer, wenn sie vom digitalen Handel profitieren wollen, unerlässlich ist, nationale Marketing-Plattformen zu schaffen. Ansonsten werden die existierenden Superplattformen nur die Positionen der Konzerne, die sie betreiben, festigen, indem sie noch mehr Daten sammeln und so noch besser in die Lage versetzt werden, nationale Märkte zu durchdringen (S. VII). Diese neuen Oligopole oder sogar Monopole bilden faktisch Barrieren, die den Markteintritt neuer Akteure erschweren und Innovationen verhindern.

Viertens gibt es in Bezug auf die digitale Wirtschaft eine ganze Reihe ziemlich merkwürdiger Erwartungen. Da ist zum Beispiel die Annahme, dass es mittels Internet und Digitalisierung vor allem darum ginge, jedem mittelständigen Produzenten Zugang zum Weltmarkt zu verschaffen. Diese verkürzte Perspektive übersieht jedoch, dass es, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein, vor allem Weltklasseprodukte bedarf. Das ist nur im Ausnahmefall zu erreichen. Deshalb zielen in der Realität gerade kleinere Firmen eher auf regionale Absatzgebiete. Auch ist Jack Mas Vision von Milliarden von (kleinen) Paketen, die Millionen von Schiffscontainern ersetzen werden, eher eine Dystopie. Selbst beim Einsatz von noch mehr Technologie – zum Beispiel von Lieferdrohnen – und dem weiteren Ausbau der Transportinfrastruktur wird der Versuch, für alle Weltgegenden bis in den letzten Winkel eine Lieferung innerhalb von 24 Stunden möglich zu machen, nur zum Preis deutlich zunehmender CO2-Emissionen zu haben sein, wodurch die ohnehin schon gefährdete Erreichung der SDGs noch zusätzlich unterlaufen würde. Viel realistischer scheint daher die Verlagerung der Produktion in bisher kaum industrialisierte Gebiete. Nur eine Produktion vor Ort, in möglichst geringer Entfernung von Konsument*innen wird auf lange Sicht die weltweite Zugänglichkeit von qualitativ hochwertigen Gütern innerhalb kürzester Zeit und das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele möglich machen. Die Zukunft ist nicht eine weltweite Lieferinfrastruktur à la Alibaba oder Shippo, sondern eine weltweite Umverteilung von Produktionsinfrastruktur auf der Basis von Technologietransfer. Um mehr Inklusivität und mehr Gleichheit zu erreichen, muss die Exklusivität von intellektuellen Eigentumsrechten ein Stück weit aufgegeben werde – Open Source (z. B. Mozilla) ist die Zukunft, nicht der unbedingte Schutz von Quellcodes.

Digitaler Handel ist folglich nicht zwangsläufig globaler. Vielmehr sollte er vor allem für mehr lokale Produktion und Verteilung stehen. Mehr Inklusivität – als wichtiges Ziel der WTO – braucht mehr Wissenstransfer und weniger Transfer materieller Güter. Das wird allerdings notwendigerweise mit einer Umverteilung von Produktionsstandorten einhergehen müssen, bei der die Länder des industrialisierten Nordens tendenziell industrielle Fertigungen an den globalen Süden werden abgeben müssen.

Die WTO in ihrem selbstgefälligen Festhalten am Freihandelsdogma wird den Herausforderungen der digitalen Revolution so jedenfalls kaum gerecht. Denn es ist einfach naiv – um am Ende nochmals auf den UNCTAD-Trade and Development Report 2018 zu verweisen – niemanden zurücklassen zu wollen, indem man an die Einsicht von Unternehmen und Superreichen appelliert, bestenfalls eine bessere Welt fordert und schlimmstenfalls auf die ernsthafte Auseinandersetzung mit jenen realen Bedingungen verzichtet, die wachsende Ungleichheit, Verschuldung und Unsicherheit weltweit hervorbringen (S. II).

Arndt Hopfmann arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) im Büro Brüssel zu wirtschafts- und handelspolitischen Fragen und hat selbst am diesjährigen Public Forum der WTO teilgenommen. Der letzte Abschnitt des Artikels fasst den Beitrag zusammen, den er auf der Working Session, die die RLS gemeinsam mit dem Southern and Eastern African Trade Information and Negotiations Institute (SEATINI) Uganda organisierte, vorgetragen hat.