Die Gilets Jaunes in Frankreich
Der Aufstand der Autofahrer*innen?
Seit dem 17. November finden als Reaktion auf Macrons Ankündigung einer Steuererhöhung auf Benzin und Diesel in Frankreich massenhafte Blockaden des Straßenverkehrs statt. Macron will mit dieser Ökosteuer Klimaschutzmaßnahmen finanzieren. Am ersten Protesttag sollen laut Medienberichten knapp 300.000 Menschen an Blockaden teilgenommen haben, im ganzen Land gab es bereits mehr als 2.000 Protestaktionen. Neben mehreren hunderten Verletzten sind bereits zwei Menschen ums Leben gekommen. Am folgenden Samstag waren zwar sichtbar weniger Menschen auf den Straßen, doch die Proteste waren deutlich gewalttätiger und eskalierten auf den Pariser Champs-Elysées. Immer sind die Demonstrant*innen dabei in gelben Warnwesten („Gilets Jaunes“) sichtbar, die jede*r Autofahrer*in in Frankreich im Fahrzeug haben muss. Sie verteidigen nach eigenen Angaben die Rechte der Autofahrer*innen, die sie von Präsident Macrons Klimapolitik bedroht sehen.
Protest ohne politische Heimat?
In Frankreich haben militante Auseinandersetzungen eine lange Tradition. Meist sind es Oppositionsparteien, linke Bewegungen oder Gewerkschaften, die den Widerstand gegen die Regierungspolitik anführen. Doch die „Gilets Jaunes“ brechen dieses Muster auf – es seien „normale“ Bürger*innen auf den Straßen, die häufig vorher nicht politisch aktiv gewesen sind. Sie erinnern dabei an die „Bonnets Rouges“, die 2013 gegen eine Ökosteuer erfolgreich monatelang protestiert haben. Die „Gilets Jaunes“ konzentrieren sich vor allem auf lokale Blockaden, die nun auch Auswirkungen auf das wirtschaftliche Leben haben. Langsam werden die Straßenblockaden zu Konsumblockaden, Verkaufsregale bleiben vielerorts leer. Besonders angespannt ist die Lage auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean. Die Regierung reagiert darauf nun mit zunehmender Repression.
Ausgelöst wurden die spontanen Protestaktionen einerseits durch eine Onlinepetition der 33-jährigen Priscilla Ludosky, andererseits durch ein Video der 51-jährigen Jacline Mouraud, das inzwischen über sechs Millionen Male geklickt worden ist. Sie nennt hier die Ökosteuer eine „Hetzjagd gegen Autofahrer“ und beklagt den staatlichen Umgang mit den Dieselkäufer*innen, die für umweltschädliche Fahrzeuge zur Kasse gebeten werden sollen. Mouraud wird inzwischen als eine der inoffiziellen Anführer*innen und als Sprachrohr der „Gilets Jaunes“ angesehen, obwohl diese keine zentrale Organisation hinter sich hat.
Die „Gilets Jaunes“ organisieren sich spontan, dezentral und über die sozialen Netzwerke, ein Phänomen wie es immer üblicher wird. Erste Umfragen ergaben, dass zwar viele Demonstrant*innen auf das Auto angewiesen sind, aber eben nicht alle Beteiligten. Die meisten leben auf dem Land oder in Vorstädten, sind jung und haben eher geringe berufliche Qualifikationen. Viele sympathisieren mit der rechtsnationalen Partei von Marine Le Pen (Rassemblement National). Dazu passen die von einigen Demonstrant*innen verbreiteten Verschwörungstheorien und rassistischen Ausfälle, sowie eine Ablehnung von Geflüchteten. Doch ebenso finden sich Sympathisanten von Mélenchon sowie vor allem viele bisherige Nicht-Wähler unter den Protestierenden. So gelingt es den „Gilets Jaunes“ als „normale“ Autofahrer*innen“und Normalverbraucher*innen aufzutreten, die für ihr Recht auf Automobilität eintreten.
Viele sind nicht einmal gegen Umweltschutz – ganz im Gegenteil zeigen Umfragen, dass sie sich der Klimakrise bewusst sind, eine Flugsteuer begrüßen würden und Glyphosat ablehnen. Doch die Kosten des Umweltschutzes dürften nicht zu ihren Lasten gehen. Immer deutlicher wird zudem, dass die Steuerpolitik insgesamt als ungerecht empfunden wird. Es geht um mehr als die Spritpreise, für viele geht es um eine ganz grundlegende Steuerungerechtigkeit. Aus Sicht der Protestierenden sind es vor allem einfache Arbeiter und Angestellte, die am meisten zahlen müssen. Das Auto oder das Recht auf Automobilität sind also nicht entscheidend für die Teilnahme an den Protesten – an den „Gilets Jaunes“ entbrennt an einer ökologischen Problematik eine zutiefst soziale Frage.
Aus linker Perspektive erscheinen folgende Fragen besonders spannend: Kann es angesichts eines drohenden Verkehrskollapses in unseren Städten und einer sich zuspitzenden Klimakrise ein Recht auf Automobilität geben? Und: Wer muss am Ende für eine Reduktion des Autoverkehrs verantwortlich gemacht werden und trägt am Ende die Kosten von klimapolitischen Maßnahmen? Wie müsste die Linke Mobilität so organisieren, dass sie sozial und ökologisch verträglich und für breite Teile der Bevölkerung attraktiv ist?
Macrons Klimapolitik ist nur scheinbar ökologisch, vor allem aber unsozial
Präsident Macron verteidigt die Steuererhöhung durch die klimapolitische Notwendigkeit, den Autoverkehr massiv zu reduzieren. Dies passt zu seinem Image als Klimavorreiter, das er sich geben will. Sein Ziel ist angesichts der fortschreitenden Klimakrise und den geringen Fortschritten bei der Emissionsreduktion wichtig und notwendig. Der Verkehrssektor ist seit Beginn der internationalen Bemühungen um Klimaschutz der einzige Bereich, in dem die Emissionen auch im Globalen Norden entweder stagnieren oder sogar steigen. Dies ist nicht verwunderlich, da nicht nur die Anzahl der Autos auf europäischen Straßen stetig wächst, die Autos werden auch immer größer und schwerer. In Deutschland ist bereits jedes fünfte neu zugelassene Fahrzeug ein SUV (Sport Utility Vehicle). Diese verbrauchen nicht nur mehr Treibstoff, sondern verursachen klimaschädliche Gase und giftige Luft, die wir alle atmen müssen. Während einige europäische Städte nun beginnen, Dieselautos aus Innenstädten teilweise zu verbannen, sind große Sprünge in Richtung einer klimaneutralen Mobilität nirgendwo in Sicht.
Macron äußerte sich zunächst nicht zu den Protesten, ließ aber am vergangenen Dienstag bei einem Staatsbesuch in Belgien verlauten, er versuche, „Gewohnheiten zu ändern“ und den Französinnen und Franzosen fossile Brennstoffe abzugewöhnen, was „niemals einfach sei“. Diese Aussage ist gleichermaßen richtig, wie sie falsch und voller Hohn ist. Richtig ist, dass unsere Gesellschaften von fossilen Energieträgern für nahezu alle Lebensbereiche abhängig sind und diese Produktions- und Lebensweise weder nachhaltig ist noch derzeit echte Alternativen sichtbar sind. Konkreter: Mit der weiteren Verbrennung fossiler Energieträger steuern wir auf eine unumkehrbare Klimakrise zu, die die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen bedroht. Es braucht daher radikale politische Maßnahmen, die zum Beispiel den motorisierten Individualverkehr in Frage stellen muss. Richtig ist auch, dass das System Auto in unseren Gesellschaften derart tief verankert ist, dass die Abhängigkeit vom eigenen Auto teilweise mit einer Suchtkrankheit verglichen wird.
Doch eine Steuererhöhung auf Sprit ist dafür eine wenig geeignete Maßnahme. Die Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, fühlen sich gezwungen, das Auto zu benutzen, ob sie wollen oder nicht. Sie müssen auch weiterhin das Auto benutzen, weshalb bei Steuererhöhungen nicht wirklich weniger Verkehr oder weniger Spritverbrauch und damit weniger Emissionen zu erwarten sind. Der erhoffte ökologische Gewinn ist damit so oder so mehr als zweifelhaft.
Abhängigkeit vom System Auto
Falsch ist Macrons Aussage aber ebenso, da man Abhängige auch nicht einfach auf kalten Entzug setzt, ohne ihnen Unterstützung und Alternativen anzubieten. Menschen in Europa sind in den meisten Lebenslagen und Orten darauf angewiesen, sich von A nach B bewegen zu können. Insbesondere die erhöhten Anforderungen eines flexibilisierten Arbeitsmarktes sorgen dafür, dass immer weitere Strecken für die Arbeit in Kauf genommen werden müssen. So hat sich seit den 1970er Jahren zwar die Anzahl der täglichen Wege nicht verändert, die zurückgelegten Strecken haben sich allerdings verdoppelt. Menschen sind heutzutage daher gezwungenermaßen mobil bzw. produzieren (Auto-)Verkehr, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dies trifft umso mehr prekär Beschäftigte, die für (mehrere) Jobs weite Strecken auf sich nehmen müssen. Es scheint immer mehr zu einem sozialen Privileg zu werden, sich nicht bewegen zu müssen. Es werden zwar gerne die jungen Menschen aus der urbanen Mittelschicht hervorgehoben, die auf ein eigenes Auto verzichten. Doch sie leben in privilegierten Umständen, die ihnen diese Haltung auch erlauben. Eine allein erziehende Mutter mit drei prekären Jobs auf dem Land kann sich diese Freiheit nicht leisten und ist auf das eigene Auto angewiesen.
Gleichzeitig sind die Alternativen zum Auto häufig schlechter. Gerade auf dem Land sind öffentliche Verkehrsmittel nicht gut ausgebaut oder schlicht zu teuer. Insofern ist Macrons Aussage auch voller Hohn, hat er doch selbst erst kürzlich in einer landesweiten Verkehrsreform dafür gesorgt, dass zahlreiche Zugverbindungen auf dem Land eingeschränkt oder eingestellt wurden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Proteste der „Gilets Jaunes“ vor allem in ländlichen Regionen am stärksten sind und sich auch gegen die Arroganz von Präsident Macron richten.
Nichtsdestotrotz: Aus einer klimapolitischen Perspektive ist es notwendig, den Autoverkehr in Europa massiv zu reduzieren. Doch über eine Verteuerung der Treibstoffe ohne einen gleichzeitigen Aufbau von Alternativen wird hier eine unsoziale Ordnungspolitik betrieben, die die Falschen trifft. Am härtesten getroffen werden mit Macrons Ökosteuer diejenigen mit geringem Einkommen. Wer heute schon in einem 100.000 Euro teuren SUV durch Europas gut betonierte Innenstädte fährt, den jucken am Monatsende die steigenden Benzinkosten nicht und der oder die wird auch weiterhin das Auto für die Fahrt zum Bäcker nehmen. Die Abhängigkeit vom Auto ist keine individuell gewählte, sondern eine politisch gewollte. In den europäischen Verkehrspolitiken geht es zumeist nicht darum, Menschen Mobilität zu ermöglichen, sondern möglichst viele klimaschädliche und ressourcenintensive Produkte zu verkaufen. Dies zeigt sich an der Verflochtenheit von Automobilindustrie und Politik und den zahlreichen indirekten und direkten steuerlichen Begünstigungen in europäischen Ländern (Dienstwagenprivileg, Pendlerpauschale etc.). Verschärft wird die Verkehrskrise also durch zahlreiche politische Fehlentscheidungen, die den Privatbesitz eines Autos mit Verbrennungsmotor bevorzugt und damit vor allem die fossilen Industrien stützt.
Die Klimakrise erfordert eine echte Verkehrswende
Die Proteste der „Gilets Jaunes“ offenbaren daher vor allem zwei Dinge: Erstens, die derzeitige Alternativlosigkeit des Systems Auto. Wenn im Verkehrssektor echter Klimaschutz betrieben werden soll, muss es eine ernstgemeinte Verkehrswende geben. Die notwendige absolute Reduktion des Autoverkehrs ist nur zu erreichen, wenn wirkliche Alternativen aufgebaut werden. Dies erfordert einen massiven Ausbau und eine Vergünstigung des öffentlichen Nahverkehrs sowie den Ausbau des Schienenverkehrs. Zudem müssen viele Wege mit Fuß und Rad gestaltbar sein. In Städten wie Kopenhagen und Amsterdam, wo solche Politiken seit Jahren umgesetzt werden, zeigt dies die größten Wirkungen.
Die Wahl des Autos darf nicht nur aus finanziellen Gründen unattraktiv werden. Sie darf schlichtweg nicht mehr die politisch gewollte und unterstützte sein. Dazu gehört auch, den öffentlichen Raum durch Straßen und Parkplätze zu verteuern, nicht aber nur den Benzinpreis zu erhöhen. Dies trifft daher ebenso auf die Elektroautomobilität zu, die vielfach als umweltpolitische Alternative angepriesen wird. Denn so lange unsere Gesellschaften im Kern von fossilen Brennstoffen abhängen, so sind auch Elektroautos nur geringfügig ökologischer – vor allem, wenn der dafür benötigte Strom aus klimaschädlicher Kohle oder gefährlicher Atomkraft kommt. Zudem lösen Elektroautos viele verkehrspolitische Probleme nicht, sondern verstärken sie nur. Gerade dann, wenn das Elektroauto zum Zweit- oder Drittwagen avanciert, so wie es in Norwegen erkennbar ist.
Zweitens machen die „Gilets Jaunes“ zudem klar: Echter Klimaschutz, der nicht auf Kosten der unteren Einkommensklassen gehen soll, wird alles andere als einfach umzusetzen sein. Eine Verkehrswende gelingt nur dann, wenn die Komplexität der verkehrspolitischen Probleme bedacht wird und politische Maßnahmen umgesetzt werden, die ökologisch wie sozial sind. Ökologisch notwendige Maßnahmen werden sonst von Rechtspopulist*innen missbraucht und spielen ihnen in die Hände. Gerade die tiefe Überzeugung, ungerechter und elitärer Politik „von oben“ ausgeliefert zu sein, passt in das Weltbild der französischen Rechtsextremen, die deshalb den Protest der „Gilets Jaunes“ für ihre menschenfeindlichen Zwecke vereinnahmen. Macron hat das offensichtlich ebenso unterschätzt wie die Widerstandspotentiale von denjenigen, die heute vom Auto abhängig sind. Doch erst mit einer echten sozial-ökologischen Verkehrswende überwinden wir das klimaschädliche System Automobilität ohne dieses Feld den Rechtspopulist*innen zu überlassen.