Lassen sich die Gelbwesten einem politischen Lager zuordnen?
Soziologisches Profil, politische Nähe… das Kollektiv Quantité critique hat unter Koordinierung von Yann Le Lann, Dozent für Soziologie an der französischen Universität Lille, 526 Fragebögen untersucht, die an Anhänger*innen der Gelbwestenbewegung aus ganz Frankreich verteilt wurden.
Umfrageinstitute sowie die Wissenschaft interessieren sich seit dem 17. November für das Phänomen der Gelbwesten (Gilets jaunes). Eine Forschergruppe der Universität Bordeaux (1) entwickelte diesbezüglich einen aussagekräftigen empirischen Forschungsansatz, anhand dessen die Mobilisierung der Gelbwesten aus nächster Nähe analysiert wird, die aus Protest Straßen blockieren. Anhand des Ansatzes konnte die gesellschaftliche Verankerung der Bewegung und deren wichtigste Merkmale aufgezeigt werden, während Umfrageinstitute den Schwerpunkt verstärkt auf die Unterstützung der Gelbwesten in der Bevölkerung legen. Die vorliegende Umfrage ist daher von maßgeblicher Bedeutung, denn sie trägt zum Abbau der Vorurteile gegen sozial benachteiligte Gesellschaftsschichten in den ländlichen und stadtnahen Gebieten bei, die häufig als reaktionär angesehen werden.
Die signifikante Rolle von Social Media
Die Komplexität dieser Bewegung beruht seit den Anfängen auf ihrer Vielschichtigkeit. Die Aktionen, die im Namen der Bewegung durchgeführt werden, sind sehr verschieden und umfassen unter anderem Barrikaden an den Kreisverkehren, Demonstrationen und Petitionen im Internet. Das breite Aktionsspektrum bringt Umfrageinstitute dazu, eine Vielzahl von Erhebungen vorzunehmen, um die verschiedenen Ebenen der Protestbewegung zu erfassen. Wie bei zahlreichen sozialen Bewegungen in jüngster Zeit war die Nutzung der sozialen Netzwerke für die Mobilisierung von ausschlaggebender Bedeutung. Durch zahlreiche Facebook-Gruppen, denen jeweils Hunderttausende von Mitgliedern angehören, konnten die Gelbwesten ihre Politisierung und Koordinierung von Woche zu Woche vorantreiben, wie eine Analyse der Facebook-Kommentare (2) eines Forschungsteams aus Toulouse belegt. Wir haben die zentrale Dimension der digitalen Kommunikationswege zum Anlass genommen, die wesentlichen Merkmale der Gelbwestenbewegung nachzuvollziehen. Unser Kollektiv Quanité critique startete eine Umfrage in den Facebook-Gruppen der Gelbwesten, im Rahmen derer wir die Mitglieder aufforderten, Fragen zu ihrem Arbeitsplatz, ihren finanziellen Schwierigkeiten und ihrer politischen Orientierung zu beantworten. Vom 23. bis zum 30. November gingen in der Folge 526 beantwortete Fragebögen bei uns ein.
Die untere Mittelschicht und ihr Umweltengagement
Unsere Umfrageergebnisse stimmen mit den Erkenntnissen der Forschergruppe aus Bordeaux überein, die sich ebenfalls mit dem sozialen Hintergrund der Protestierenden beschäftigte. Wie insbesondere festzustellen war, handelt es sich bei den Befragten überwiegend um erwerbslose Personen (17,3 Prozent der Stichprobe) aus der unteren Mittelschicht, die 63,19 Prozent der Erwerbsbevölkerung (Arbeitnehmer*innen und Angestellte) in der Stichprobe darstellen. Das Ausmaß der Mobilisierung von Rentenempfänger*innen konnte durch unsere Erhebung jedoch nur schwer bemessen werden, da sie Facebook weniger nutzen. Eine unbestrittene Tatsache ist darüber hinaus der hohe Frauenanteil an der Protestbewegung. Unsere Ergebnisse bestätigen auch die weitläufige Meinung, dass sich durch die Gelbwestenbewegung Personen zu Wort melden, die aus der unteren Mittelschicht stammen und häufig ohne politischen Einfluss sind.
Zu Beginn der Bewegung versuchte die französische Regierung, eine künstliche Schere zwischen Umweltaktivist*innen und Gelbwesten aufzutun, da davon ausgegangen wurde, dass letztere dieser Problematik gleichgültig gegenüberstehen. Die Ergebnisse unserer Umfrage zeichnen jedoch ein ganz anderes Bild.
Vielmehr wird die Beziehung der Gelbwesten zum Umweltschutz durch ihre sehr großen finanziellen Schwierigkeiten bestimmt. So haben 62 Prozent Mühe, bis zum Monatsende über die Runden zu kommen, und 27 Prozent bestätigen, dass sie sich am Ende des Monats zuweilen in einer finanziellen Notlage befinden. Mit finanziellen Problemen nie konfrontiert sind nach eigenen Aussagen lediglich 10 Prozent der Befragten. Demgemäß erklären 93 Prozent, dass sie ihren Energieverbrauch genauestes nachverfolgen. Die Mehrzahl der Befragten ist für die Fahrt zum Arbeitsplatz auf ihr Auto angewiesen (das Auto ist für 83 Prozent das Hauptverkehrsmittel). Ihr Verhältnis zum Umweltschutz wird in erster Linie von finanziellen Engpässen und der eingeschränkten Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel bestimmt. Dies hindert sie indessen nicht daran, individuell einen Beitrag zur Lösung bestimmter Umweltproblematiken zu leisten, indem sie beispielsweise vorwiegend Produkte mit kurzen Transportwegen kaufen (63 Prozent). In dem Bewusstsein, dass sich eine „ökologische Katastrophe“ abzeichnet (83 Prozent stimmen dieser Aussage zu), vertreten die Gelbwesten die Ansicht, dass die Umweltkrise nicht durch individuelle Verhaltensänderungen, sondern durch strukturelle Maßnahmen zu lösen sei. Bei der Frage nach der Beurteilung politischer Aktionen spricht sich die Mehrheit für zahlreiche umweltpolitische Maßnahmen aus. So unterstützen 62,7 Prozent die Wiedereröffnung kleiner Eisenbahnstrecken, 64,4 Prozent das Verbot von Glyphosat und 62,7 Prozent die Besteuerung des Luftverkehrs.
Der inszenierte Widerspruch zwischen der Gelbwestenbewegung und den Protesten im Kampf gegen die Klimaerwärmung, welche im Klimamarsch Ausdruck finden, wird somit anscheinend dadurch widerlegt, dass sich die gelben Westen zur Unterstützung bestimmter ökologischer Reformen bereit erklären. Die beiden Bewegungen unterscheiden sich eher durch ihre soziale Zusammensetzung, wobei sich beim Klimamarsch vorwiegend „Beschäftigte aus dem Hochlohnsektor“ zusammenfinden. Obwohl noch in der Minderheit wurden Formen von Konvergenzen in den Klimademonstrationen sichtbar. Die Forderungen beziehen sich vorwiegend auf eine Verbesserung der Interferenz zwischen sozialer Gerechtigkeit und Umwelt, während einige Teilnehmer*innen nicht zögern, beim Klimamarsch demonstrativ gelbe Warnwesten zu tragen.
Die politische Verortung: Was sind die Beweggründe? Welche Ziele verfolgen die Gelbwesten?
Unsere Ergebnisse weisen in politischer Hinsicht geringfügige Unterschiede gegenüber den Resultaten der Forschenden der Universität Bordeaux auf. Eindeutig belegt werden kann beispielsweise nicht, ob in der Bewegung mehrheitlich die Teilnehmer*innen vertreten sind, die sich als links bezeichnen. 51 Prozent der Befragten lehnten es ab, sich auf der linken oder rechten Seite des politischen Spektrums zu positionieren, während nur 15 Prozent angaben, dass sie eine linke (3,6 Prozent extrem links) und 11,6 Prozent eine rechte politische Überzeugung (7,2 Prozent extrem rechts) vertreten. Personen, die sich weder links noch rechts verorten, scheinen folglich in der Mehrheit zu sein (siehe Grafik S. 6). Kennzeichnend für die Bewegung ist jedoch eine sehr starke politische Polarisierung.
Auf die Frage nach der Stimmabgabe bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2017 liegen Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon auf gleicher Höhe, wobei jeweils 20 Prozent der Befragten den jeweiligen Kandidat*innen ihre Stimme gaben. Über die zwei politischen Strömungen der Bewegung hinaus, die weitgehend entgegengesetzte Werte vertreten, ist für die Gelbwesten ein dritter Pol kennzeichnend, nämlich der der Stimmenthaltung, die in unserer Stichprobe 15 Prozent der Befragten betraf. Drei Gruppen innerhalb der Bewegung sind von fast identischem Gewicht, wenn wir ein linkes Mélenchon-Hamon-Poutou-Arthaud-Zentrum (123 Befragte), ein rechtsextremes Zentrum Le Pen-Dupont-Aignan (120 Befragte) und ein Zentrum der Stimmenthaltungen/Ungültigen Wahlzettel (130 Befragte) identifizieren.
Bemühungen, fremdenfeindliche Strömungen auszugrenzen
Wie ist zu erklären, dass der große Anteil derjenigen, die Marine Le Pen wählten, nicht eine Politisierung der Gelbwesten in Bezug auf die fremdenfeindliche Thematik begründet? Ein erster Grund dürften die grundlegenden Organisationsformen der Bewegung sein, die eine Wahrung der Einheit zum Ziel haben. Die Sprecher*innen an den Straßenblockaden geben in den meisten Fällen einvernehmlichen Forderungen den Vorzug. Die Plattformen, über die Forderungen auf nationaler Ebene publik gemacht werden, erwähnen in den seltensten Fällen das Thema der Einwanderung. Im Übrigen kommt den Medien eine zentrale Rolle in diesem Prozess zu. Wie es scheint, bestanden zwischen den französischen Nachrichtensendern und der Bewegung Missverständnisse auf ganzer Linie. Die Sender ließen zunächst Wortführer*innen aus stadnahen Gebieten zu Wort kommen, die gegen Steuern und häufig für Lohnforderungen eintraten.
Die Berichterstattung zur Gelbwestenbewegung veränderte sich erst im späteren Verlauf. Wendepunkt dabei war die Demonstration am 1. Dezember und die Bilder der Beschädigungen des Triumphbogens in Paris. Dieser Entwicklung stand innerhalb der Bewegung jedoch eine immer deutlichere linke Verortung entgegen. Durch das Vorkommnis der protestierenden Schüler*innen in Mantes-la-Jolie und die Frage nach der Polizeigewalt gerät die Regierungspartei in eine heikle Situation, in der sie die Verteidigung der Bewegung und der der Polizei, die für sie wichtige Wählerstimmen darstellt, austangieren muss. Derzeit scheint die Bewegung vorwiegend eine soziale Dimension angenommen zu haben, ohne indessen fremdenfeindlichen Versuchungen zu erliegen. Dies zeigt sich insbesondere am Wegfall der Unterstützung durch den Rechtsflügel sowie der Anhänger von „La République en Marche“ (LaRem) (3). Die Gewaltakte während Demonstrationen und die Ankündigungen des Präsidenten beeinflussten zweifellos die Bereitschaft der Anhänger des rechten Lagers (64 Prozent) und von LaRem (93 Prozent), ein Ende der Proteste anzustreben, während im linken Flügel 72 Prozent der Protestierenden (nicht-sozialistisch) an einer Fortführung der Bewegung festhalten. Emmanuel Macron versuchte in seiner Ansprache, die Bedeutung der Proteste neu auszulegen, indem er die Migrationsfrage zwischen die von der Bewegung aufgeworfenen Themen stellte. Die Ereignisse in den kommenden Wochen werden darüber entscheiden, ob die Bemühungen der meisten Wortführer*innen, die auf eine Vermeidung der Polarisierung der Bewegung zu diesem Thema abzielten, erfolgreich waren. In diesen politisch unruhigen Zeiten und insbesondere nach dem Attentat in Straßburg bleibt die Frage weitgehend offen, in welche Richtung sich die Mobilisierung der Gelbwesten entwickeln wird.
Kollektiv Quantité critique
Yann Le Lann, Zakaria Bendali, Gauthier Delozière, Paul Elek und Maxime Gaborit
(1) Der vorliegende Artikel wurde zuerst am 11. Dezember in Le Monde veröffentlicht: https://www.humanite.fr/enquete-les-gilets-jaunes-ont-ils-une-couleur-politique-665360
(2) Les Gilets Jaunes, des cadrages médiatiques aux paroles citoyennes: https://fr.scribd.com/document/394250648/Rapport-Gilets-Jaunes
(3) Les Français, l'allocution télévisée d'Emmanuel Macron et les gilets jaunes: https://elabe.fr/wp-content/uploads/2018/12/20181211_elabe_bfmtv_les-francais-et-lallocution-televisee-demmanuel-macron.pdf