Die Europawahlen in Deutschland

15.04.2019
Andreas Thomsen
Marius Brede / Flickr / CC BY-SA 2.0

Europawahlen ziehen in Deutschland üblicherweise nur geringe Aufmerksamkeit auf sich. Entsprechend niedrig sind auch die Wahlbeteiligungen. 2014 lag die Beteiligung bei der Europawahl bei gerade einmal 47,9 Prozent und dies war noch eine Steigerung zu 2004 und 2009 als die Beteiligung jeweils bei etwa 43 Prozent lag. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2017 lag die Beteiligung bei 76,2 Prozent und 2013 bei 71,5 Prozent. Bei den letzten Landtagswahlen in Hessen und Bayern wurden Beteiligungen von 67,3 und 72,3 Prozent erreicht.

Spitzenkandidat*innen

Eine Maßnahme, dem niedrigen Interesse an Europawahlen, das ja auch in anderen Mitgliedstaaten zu beobachten ist, entgegenzuwirken, soll die Einrichtung der „Spitzenkandidaten“ für das Amt des Kommissionspräsidenten sein. Ob die Benennung von „Spitzenkandidaten“ in diesem Sinne wirklich nützlich ist, muss sich erst noch erweisen. Bestimmt versuchen auch deutsche Parteien dieses Instrument für sich zu nutzen. Besonders auffällig entschied sich die SPD bei der Europawahl mit ihrem europäisch-sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Martin Schulz dazu, als sie plakatierte: „Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Kommissionspräsident werden“. Er wurde es nicht. Zur Europawahl 2019 wartet nun die konservative Union aus den Parteien CDU und CSU mit einem europäischen Spitzenkandidaten auf. Manfred Weber ist allerdings Kandidat der bayerischen CSU und somit auch nur in Bayern wählbar. Seine Kandidatur deckt in der Europäischen Volkspartei (EVP) allerdings einige Widersprüche auf. Es ist ausgerechnet Webers CSU, die in der Vergangenheit ein deutliches Abgrenzungsproblem sowohl zur ungarischen Fidesz („suspendiertes“ EVP Mitglied), aber durchaus auch zur österreichischen FPÖ zeigte. Insbesondere aus der CSU waren bis Herbst 2018 (im Oktober 2018 fand die bayerische Landtagswahl statt) insbesondere in der Flüchtlingsfrage klar rechtspopulistische Töne zu hören. In der bundesdeutschen Regierungskrise des Sommers 2018 hatte der damalige CSU-Vorsitzende und deutsche Innenminister Horst Seehofer sehr offen den politischen Anschluss an die Regierungen der sogenannten Visegrád-Staaten und des schwarz-blau regierten Österreichs gesucht und Kanzlerin Merkel in arge Bedrängnis gebracht. Dass nun ausgerechnet ein CSU-Spitzenkandidat die Aufgabe der Abgrenzung der EVP und ihrer Fraktion im EP gegenüber zweifellos erstarkenden rechten und rechtsradikalen Kräften vornehmen soll, ist also eine interessante ironische Wendung. Ob es ihm gelingt bleibt dabei zweifelhaft.

Auch die Grünen warten mit einer deutschen europäischen Spitzenkandidatin auf, Ska Keller ist eine der beiden Spitzenkandidatinnen der Europäischen Grünen Partei. ALDE, die europäische liberale Partei hat gleich sieben Spitzenkandidat*innen aufgestellt, Nicola Beer von der FDP ist eine der sieben.

Europawahl – nach der Wahl ist vor der Wahl

Die letzten größeren Wahlereignisse in Deutschland waren – nach der Bundestagwahl 2017 – die Landtagswahlen in Bayern und in Hessen. Am Tag der Europawahl findet die Landtagswahl (Bürgerschaftswahl) im kleinsten deutschen Bundesland, in der Hansestadt Bremen statt. Im Spätsommer und Herbst folgen dann die wichtigen Landtagswahlen in drei großen ostdeutschen Bundesländern, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Ob alle diese Wahlen Konsequenzen für die Bundespolitik haben, wird sich wohl erst nach der letzten Wahl des Jahres 2019, der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019 zeigen. Es stellt sich dann sicherlich die Frage nach der Zukunft der großen Koalition, auch möglicherweise nach einem vorzeitigen Wechsel im Kanzleramt, auch nach Andrea Nahles` Verbleib im Amt der SPD-Vorsitzenden. Hier könnten Herbst und Winter einige Überraschungen bereithalten.

SPD und Grüne

Insbesondere für SPD und für die Grünen dürften die Ergebnisse recht interessant werden. Zur Europawahl 2014 erreichten die Grünen 10,7 Prozent, 2017 zur Bundestagswahl 8,9 Prozent. Nach dem Scheitern der Gespräche zur Bildung einer „Jamaika“-Koalition aus Union, Grünen und FDP und der erneuten Bildung der großen Koalition aus Union und SPD ging es mit den Grünen steil bergauf. Die hervorragenden Umfragewerte wurden dann im Herbst 2018 zuerst mit den Landtagswahlen in Bayern und dann in Hessen im Oktober 2018 bestätigt. Die Grünen erhielten in Bayern 17,6 Prozent (plus 9 Prozentpunkte) und in Hessen 19,8 Prozent (plus 8,7 Prozentpunkte). In Bayern wurden die Grünen zweitstärkste Partei nach der CSU und auch in Hessen lagen sie auf dem zweiten Platz gleichauf mit der SPD. In Bayern verlor sie 10,9 Prozentpunkte, wurde lediglich fünftstärkste Partei, in Hessen verlor sie 10,5 Prozentpunkte. Die derzeitige Stärke der Grünen scheint sehr direkt mit einer neuen Schwächephase der SPD verbunden zu sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die SPD auch bei der Europawahl 8 bis 10 Prozentpunkte verliert, die Grünen fast so viel hinzugewinnen könnten. Auch könnte es den Grünen bei der Europawahl erstmals bei einer bundesweiten Wahl gelingen, auf dem zweiten Platz vor der SPD einzulaufen. Wenn sich diese Prognosen bei der Europawahl bewahrheiten und die drei Landtagswahlen im Herbst ähnlich drastische Trends zeigen, stehen bis Jahresende sowohl die Große Koalition als auch der SPD-Vorsitz auf tönernen Füßen.

Die Union

Die Union aus CDU und CSU ist der zentrale Träger des deutschen bzw. europäischen Handelsmerkantilismus. Die Exportorientierung, die Währungsstabilitätspolitik und damit auch die Austeritätspolitik, die maßgeblich aus dieser politischen Kraft der Europäischen Union und insbesondere dem Euroraum aufgedrückt wurde, ist ein zentrales, vielleicht sogar das zentrale politische Problem in der EU. Auch die neueren Vorschläge aus Paris, die auf eine Reform der EU und des Euroraumes abzielten, wurden aus Berlin von Kanzlerin Merkel, und auch von der neuen CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer brüsk abgebügelt. Mit dieser Politik werden – kurzsichtig vielleicht, aber konsequent dennoch – deutsche nationale Interessen auch gegenüber den europäischen Nachbarn in der Europäischen Union durchgesetzt. Und wenn es um die sehr unverhohlene Durchsetzung spezifischer Interessen geht – nationaler, regionaler oder partikularer – stand die CSU, die Partei des EVP-Spitzenkandidaten Weber der CDU, ihrer Schwesterpartei im restlichen Deutschland in nichts nach, im Gegenteil. Tatsächlich ist das Bundesland Bayern, das nun seit über 50 Jahren ununterbrochen von der CSU regiert wird, eines der wichtigsten Länder für die deutsche Exportindustrie. Im Jahr 2017 betrug der Anteil der bayerischen an den deutschen Exporten mit 192 Milliarden Euro beinahe 15 Prozent. Bayern ist im Übrigen der mit Abstand führende Rüstungsexporteur aller deutschen Bundesländer.

CDU und CSU haben bei den letzten Landtagswahlen in Bayern und in Hessen herbe Niederlagen erlitten. In Bayern erreichte die CSU 37,2 Prozent und verlor also 10,5 Prozentpunkte, in Hessen erreichte die CDU nur noch 27 Prozent bei einem Verlust von 11,3 Prozentpunkten. Trotzdem konnten die Regierungen beider Länder unter Führung der Union fortgesetzt werden, auch wenn die CSU in Bayern aufgrund des Verlusts der absoluten Mehrheit in eine Koalition mit den „Freien Wählern“, einer bürgerlich-konservativen Wahlliste gezwungen wurde. Für die Europawahl zeichnen sich eher leichte Verluste der CDU/CSU ab. 2014 erhielten beide Parteien bei der Europawahl 35,3 Prozent, ein Ergebnis knapp über 30 Prozent ist nicht unwahrscheinlich. Es zeigt sich bundesweit, dass die Präsenz der AfD mit um oder gar über 10 Prozent der Stimmen CDU und CSU zwar merklich schadet, ihre Stellung als mit Abstand stärkste Kraft aber nicht in Frage stellt.

Die AfD

Zur Bundestagwahl 2013 war die AfD noch sehr knapp an der 5-Prozent-Hürde gescheitert und erhielt bei der 2014 folgenden Europawahl 7,1 Prozent. Zwischenzeitlich ist die AfD, die gegenüber den Jahren 2013 und 2014 deutlich nach rechts gerückt ist, in den Parlamenten aller deutschen Länder und mit dem Ergebnis von 12,6 Prozent seit 2017 auch im Deutschen Bundestag vertreten. Bei den bayerischen und hessischen Landtagswahlen erhielt die Partei 10,2 und 13,1 Prozent. Erneut hohe Ergebnisse also, dennoch blieb sie bei diesen Landtagswahlen hinter den Erwartungen zurück. Tatsächlich kann die Europawahl als Test der Vermutung betrachtet werden, der Aufstieg der AfD habe nun einen Höhepunkt erreicht oder vielleicht überschritten. Als Maßgabe muss hierbei das letzten bundesweite Ergebnis, also die Bundestagwahl von 2017 gelten, denn seit der Europawahl 2014 hat sich das Auftreten und haben sich die Positionen der Partei maßgeblich verändert, vor allem ist die Partei inhaltlich wie auch personell ganz deutlich weiter nach rechts gerückt. Insbesondere ein einstelliges Ergebnis der AfD bei der Europawahl könnte als Anzeichen einer Trendwende für die Partei gewertet werden und ließe etwas optimistischer auf die kommenden ostdeutschen Landtagswahlen blicken.

Die LINKE

Mit dem Bonner Parteitag im Februar 2019, auf der das Europawahlprogramm und die Kandidat*innenliste beschlossen wurden, gelang der Partei zweierlei: Bei klarer und unmissverständlicher Kritik an der Politik der Kommission, aber auch an den grundlegenden Fundamenten der Europäischen Union, den Europäischen Verträgen, konnte eine verstehbare Reformagenda für die Europäische Union entworfen werden, die gleichzeitig die Europäische Integration grundsätzlich bejaht. Zum zweiten konnten, mit Blick auf die Kandidat*innenliste Signale personeller Kontinuität und auch Erneuerung gesetzt werden. Dabei waren die Diskussionen auf dem Parteitag waren ganz überwiegend konstruktiv, angesichts des Anfang des Jahres 2019 bedeutend zugespitzten Streits um die strategische Ausrichtung der Partei ist beides keine Selbstverständlichkeit. Das, für die Partei seit dem Zusammenschluss von PDS und WASG zur LINKEN bestehende Problem bezüglich der Europawahlen besteht jedoch fort. Bei der stets niedrigen Wahlbeteiligung steht die Frage der Mobilisierung der eigenen Anhänger*innenschaft zur Wahl bei allen Parteien im Vordergrund und die LINKE tut sich bei dieser Aufgabe besonders schwer. Die Europawahlergebnisse blieben in der Vergangenheit hinter zu erwartenden und auch erzielten Ergebnissen bei Bundestagwahlen und auch bei Wahlen in den Ländern zurück. Bei den Europawahlen 2014 konnte die LINKE nur 7,4 Prozent erreichen. Bei der Bundestagwahl 2013 waren es 8,6 Prozent und 2017 waren es 9,2 Prozent. Die Umfragen für die Europawahl 2019 sehen die Partei derzeit noch merklich unter diesen Ergebnissen.

FDP und weitere

Die liberale FDP war nach der Bundestagwahl 2017 an den Gesprächen zur Bildung einer „Jamaika-Koalition“ aus CDU/CSU, Grünen und FD beteiligt. Es war die FDP, die diese Gespräche und damit diese auf Bundesebene neue Koalitionsoption zunächst ad acta legte. Sollte es nach den Landtagswahlen im September und Oktober 2019 zu einem Bruch der Großen Koalition auf Bundesebene und zu einem vorzeitigem Rücktritt von Angela Merkel kommen, würden Gespräche zur Bildung einer solchen Koalition sehr wahrscheinlich wieder aufgenommen. Bei der Europawahl 2014 erreichte die Partei nur 3,4 Prozent, dieses Ergebnis stand jedoch noch im Zeichen ihrer schweren Wahlniederlage bei der Bundestagwahl 2013 und dem Ausscheiden aus dem Bundestag. Zwischenzeitlich hat sich die Partei wieder klar über der 5-Prozent-Hürde stabilisiert und kann mit einem Ergebnis leicht unter 10 Prozent rechnen.

Für die Europawahl 2013 hatte der deutsche Bundestag beschlossen, die bislang geltende 5-Prozent-Hürde auf 3-Prozent abzusenken. Das Bundesverfassungsgericht kippte dann allerdings auch diese Hürde und seither gilt für Europawahlen keine solche Hürde mehr. Damit wird es in Deutschland möglich, ab ca. 0,5 Prozent ein Mandat für das EU-Parlament zu erreichen. Somit wird es auch 2019 aus Deutschland einige Kleinstparteien und Splittergruppen geben, die Einzelabgeordnete nach Brüssel entsenden können. Dies betrifft zum Beispiel die Satirepartei „Die Partei“ des auch EP-Abgeordneten Martin Sonneborn. Auch trifft dies für den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis zu, der als Spitzenkandidat der Splittergruppe „Demokratie in Europa“ antritt und sich durch die Abwesenheit einer Prozenthürde nicht unrealistische Chancen auf ein Mandat im Europäischen Parlament ausrechnen kann. Auch weitere Klein- und Kleinstparteien, wie zum Beispiel die Piratenpartei, haben gute Chancen Einzelmandate zu erringen.

Ausblick

In Deutschland werden die Europawahlen mit großer Wahrscheinlichkeit keine unmittelbaren politischen Folgen haben. Zu bedeutsam sind die drei ostdeutschen Landtagswahlen im September und Oktober 2019 und zu frisch ist die neuerliche Große Koalition. Erst nach diesen Wahlen sind auch merkbare und vielleicht einschneidende Reaktionen auf bundesdeutscher Ebene zu erwarten. Auf europäischer Ebene kann das Ergebnis von CDU und CSU einen erheblichen Beitrag dazu leisten, Manfred Weber die Position des Kommissionspräsidenten zu sichern und die Hegemonie der neoliberalen Austeritäts- und Währungsstabilitätspolitik schmerzhaft zu verlängern. Auch ist von einem Kommissionspräsidenten Weber kaum eine Verschärfung der Gangart gegenüber den Beschädigungen der Demokratie und Bürgerrechte insbesondere in Polen und Ungarn zu erwarten. Sollte die nun zu erwartende schwere Niederlage der SPD eintreten, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Wahlergebnisse in den drei ostdeutschen Bundesländern die Krise der Partei noch einmal entscheidend verschärfen. In diesem Falle stünde die Europawahl in einer Kette von Niederlagen der SPD und markierte somit einen weiteren Schritt hin zum Ende der Großen Koalition möglicherweise noch vor Jahreswechsel. Nicht unwahrscheinlich, dass auf diese Weise auch Angela Merkel letztlich nicht in erster Linie durch die Verluste ihrer eigenen Partei, sondern durch die des Koalitionspartners weiter und nun entscheidend geschwächt wird, denn ein Ende der Koalition würde wohl auch einen vorzeitigen Wechsel im Kanzleramt erzwingen. Das Abschneiden der AfD wird bei der Europawahl zu den interessanteren Entwicklungen gehören, denn es stellt sich die Frage, ob in Deutschland (und vielleicht auch in einigen weiteren Ländern) Anzeichen für das vorläufige Überschreiten eines Höhepunkts in der Mobilisierung rechtspopulistischer Kräfte erkennbar werden. Auch für die LINKE sind die ostdeutschen Landtagswahlen (in Brandenburg ist sie an der Regierung beteiligt, in Thüringen führt sie diese an) von ganz überragender Bedeutung. Auch wenn im Falle der LINKEN die Europawahlen einen echten Sonderfall darstellen, ist das vom Wahlergebnis ausgehende Signal nicht unbedeutend. Und schließlich ist die deutsche Delegation eine der zahlenmäßig stärksten in der Linksfraktion im Europaparlament. In schwierigen Zeiten für die europäische Linke käme ein gutes Ergebnis und eine erneut starke deutsche Delegation ganz sicher sehr gelegen.