Vom Greenwashing zu einer echten Verkehrswende

Automobilität in der Krise

09.05.2019
Janna Aljets
Autofrei-Demo und Blockade in Kiel, April 2019. Fotografin: Lenna (photosandprotest)

Auch wenn die Exporte deutscher Premium- und Luxusschlitten Rekorde verzeichnen und Tempolimits scheinbar „gegen jeden Menschenverstand“ sind, so ist doch genauso offensichtlich, dass der Automobilismus tief in der Krise steckt. Jahrzehntelang wurde der gesellschaftliche Konsens Auto aufgebaut: Ein Auto mit Verbrennungsmotor in privatem Besitz wird von einem Fahrer (immer noch meist männlich) gesteuert. Alles ist mit dem Auto erreichbar, aber vieles ist ohne Auto gar nicht mehr zu erreichen. Das Auto war über Jahrzehnte normative Kraft und sozialer Kitt gleichermaßen, versprach Freiheit und Mobilität für alle. Während der Fordismus ein Massenprodukt ermöglichte und still und heimlich die Autoindustrie zum zentralen Glied des deutschen Exportkapitalismus oder besser zur „heiligen Kuh der deutschen Wirtschaft“ ausgebaut wurde, wurden Städte autogerecht (aber leider menschenunfreundlich) gestaltet und „freie Bürger sollten freie Fahrt“ erhalten. Doch dieses rückwärtsgewandte Modell, welches wie kein anderes Ausdruck unserer „imperialen Lebensweise“ ist, stößt jetzt an seine Grenzen.

Die Klimakrise zwingt uns dazu, auch im Verkehrsbereich Emissionen zu vermindern, gerade erst sind neue EU-weite Flottengrenzwerte beschlossen worden. Das ist umso dringender, weil im Verkehrsbereich Emissionen immer noch steigen, statt zu sinken. Überall kämpfen wir zudem mit hoher Luftverschmutzung, trotz vermeintlich besserer Filtertechnik. Flächen werden für Straßen und Parkraum versiegelt, die Städte bieten keinen Freiraum mehr für Begegnung und Naherholung oder, paradoxerweise für Bewegung. Das Auto ist überall das dominante Verkehrsmittel, verstopft die Straßen und lässt kaum sicheren Raum für Fuß, Fahrrad oder ÖPNV. Und während sich die noch Begüterten immer größere und protzigere Autos leisten können, wird Mobilität mehr und mehr eine Frage der sozialen Ungleichheit, was nicht zuletzt bei den Protesten der Gilets Jaunes schmerzlich sichtbar wurde.

Doch auch die deutsche Industrie selbst ist einem starken Druck ausgesetzt: So steht durch technische Vorsprünge in den USA und China in Frage, wie sich die deutsche Ingenieursvorherrschaft halten soll, mit der sich bisher viel Geld verdient ließ. Zudem droht auch die Digitalisierung die Branche stark zu verändern: Während die Produktion immer stärker automatisiert und digitalisiert wird, so sind auch die Produkte der Autoindustrie immer mehr kleine Computer, die irgendwann selbst fahren sollen. In allen Fällen stehen aber vor allem die Arbeitsplätze der Industrie unter Druck und es wurden schon jetzt an zahlreichen Standorten Stellenkürzungen angekündigt. Und bei der Autoindustrie reden wir nicht mehr von 20.000 Kohlearbeitern, sondern von 800.000 allein in Deutschland, die in dieser Branche Arbeit haben. Wer diese morgen in die Arbeitslosigkeit entlassen will, der muss sich auch mit dem Vorwurf konfrontieren lassen, rechtspopulistische Parteien zu stärken. Denn sozial Abgehängte neigen deutlich stärker dazu, rechte und faschistische Parteien zu wählen.

Einfältige „Lösungen“ von Industrie und Politik: Greenwashing

Man kann wirklich nicht behaupten, dass Politik und Industrie ideen- oder einfallslos vor diesen Herausforderungen stehen. Sie haben vor allen anderen verstanden unter welchem Druck das bisherige System Auto steht. Und sie sind kreativ, jedoch einfältig, dabei, ihre Lösungen dafür zu präsentieren. Diese Lösungen erscheinen verführerisch, weil scheinbar naheliegend und technisch durchdacht. Das Auto wird jetzt grün und umweltfreundlich, elektronisch meist. Auf jeden Fall aber ganz ohne schlechtes Gewissen, wenn auch immer größer, schwerer, schneller und protziger.

Von diesem „Greenwashing“ der Industrie geht derzeit die größte Gefahr aus. Dazu zwei Beispiele: Anfang April trafen sich in der Brüsseler Vertretung des Autolandes Baden-Württemberg der Landesverkehrsminister, Vertreter*innen der EU-Kommission, des Bundesverbands der deutschen Industrie sowie der Automobilzulieferer, um zum Thema „Klimaschutz und Mobilität – Sektorziel umsetzen! Politische Weichenstellungen in Baden-Württemberg, Deutschland und Europa“ zu diskutieren. Dort wurde über die technischen Details synthetischer Kraftstoffe, den Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektromobilität und die verheißungsvolle Zukunft mit autonom fahrenden Autos gesprochen. Schicke Grafiken und Szenarien wurden an die Wand geworfen – die Zukunft der Mobilität scheint gesichert. Der ÖPNV wurde am Rande gelobt, aber eben auch bedauert, dass die Fahrgastzahlen halt einfach konstant blieben und wohl auch bleiben werden. Kein Wort über 3,5 Millionen Menschen in Europa, die in der jetzigen Autoindustrie in Lohn und Brot stehen und bei einer derartigen industriellen Konversion ihre Arbeit verlieren könnten. Kein Wort darüber, dass es weniger die deutschen Standorte mit ihren großen Forschungsabteilungen und dem Industrie-Know-How sein werden, die unter Stellenabbau zu leiden haben, sondern in Europa vor allem die osteuropäischen Länder, die sich im Dienst des deutschen Exportkapitalismus in eine fatale industrielle Abhängigkeit begeben haben. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass es vor allem diese Standorte sein werden, die Menschen in eine ungewisse Zukunft entlässt. Die europäische Automobilindustrie ist vor allem eine der klaren kapitalistischen Arbeitsteilung mit gut abgesicherten Produktionsstätten an der Spitze der Hierarchie und den flexibel kündbaren (Leih-)arbeiter*innen auf den unteren Skalen. Auch kein Wort fiel auf dieser Veranstaltung über noch unzureichend entwickelte Technik oder gar die ökologischen Schattenseiten doch nicht ganz so grüner Elektromotoren. Denn auch mit ihnen braucht es viele Ressourcen, werden Flächen verbraucht und versiegelt, die Straßen verstopft und es sterben Menschen bei Unfällen.

Das zweite Beispiel ist die Talk-Show „Hart aber fair?“ vom 25. März mit dem haarsträubenden Titel „Die Erde schwitzt, das Eis schmilzt: Wie radikal müssen wir uns ändern?“. Neben der wenig Antworten bietenden deutschen Umweltministerin Svenja Schulze („Wir haben aber auch schon ganz viel geschafft!“), dem von Eisbären sinnierenden TV-Moderator Marcus Lanz, einer leider schwachen Luisa Neubauer von Fridays for Future sowie dem selbst- und autoverliebten Chefredakteur der WELT-Gruppe gelang dem aktuellen VW-Chef Herbert Diess ein PR-Meisterstück: Er schaffte es tatsächlich in dieser Runde, sich als der größte Klimaretter aufzuschwingen. Er redete von dem Beschluss von VW jetzt ganz auf Elektromobilität zu setzen und schüttelte reuevoll den Kopf, als es darum ging, dass die Produkte und die Produktionen von VW weltweit zu 1% der globalen Emissionen beitragen. So könne es eben nicht weitergehen! Kein Wort von Dieselskandal, konzertierten Absprachen, Luftverpestung in unseren Städten, mafiösen Geschäftspraktiken. VW ist immer noch der sympathische deutsche Autobauer, der Deutschland unter die Räder bringt.

Die neuen glitzernden und grünen Lösungen nennen sich also Elektromotoren oder synthetische Kraftstoffe. Weiter sollen und wollen wir fröhlich von A nach B mit dem eigenen Auto fahren, nun eben ganz elektrisch und ohne schlechtes Gewissen. Besonders ökologisch ist das natürlich, wenn Deutschland bis 2038 weiterhin 40% seiner Energie aus Braun- und Steinkohle produziert.

Und wir können uns dabei sicher sein, dass die „Lösungen“ ganz sicher nicht die Profite derjenigen in Gefahr bringen, die auch bisher ausreichend vom System Auto profitiert haben. Genauso wie die Kosten dieses Systems auch weiterhin fleißig ausgelagert und externalisiert werden. Meistens auf Kosten von Menschen im Globalen Süden, von den Schwächsten innerhalb globalisierter Produktionsketten und zulasten zukünftiger Generationen. Also tragen eigentlich alle diejenigen die Kosten, die nicht gerade zufällig im SUV sitzen. Diese vermeintlich grünen „Lösungen“ stellen also unsere Produktions- und Konsummuster nicht mal ansatzweise in Frage.

Was wir tatsächlich brauchen: Druck von unten für eine echte Verkehrswende

Die beiden Beispiele zeigen: Kaum jemand spricht darüber, dass vielleicht das ganze System Auto kein nachhaltiges ist. An keiner Stelle wurde auch nur annähernd in Frage gestellt, dass es angesichts eines kollabierenden Verkehrssystems, einer Klima- und Ressourcenkrise und dem derzeit größten Artensterben vielleicht insgesamt nicht mehr nachhaltig ist, dass unser Verkehrssystem rund um das Auto aufgebaut ist. Dass wir vielleicht ganz neue Lösungen brauchen und dabei auch Bequemes und Nahes hinter uns lassen müssen. Dabei könnte die aktuelle Krise der Automobilwirtschaft genau das sein, was wir brauchen, um einen systemischen Wandel herbeizuführen.

Wie das geht und dass es möglich ist, zeigen überall lokal aktive Gruppen und Initiativen. So blockieren Aktivistinnen die Innenstädte, Bürger*innen fordern Lufreinhaltung, erste Innenstädte in Europa werden autofrei, der städtische Raum wird zurückerobert und an immer mehr Orten wird der kostenlose Nahverkehr getestet. Alle diese Initiativen haben gemeinsam, dass sie sich Mobilität wünschen, die ökologisch nachhaltig, post-fossil, erschwinglich, diskriminierungs- und barrierefrei ist – und dass sie das Auto zurückdrängen wollen. Das kann in der Konsequenz nur mit Fahrrad, Fuß und ÖPNV gelingen; ganz sicher aber nicht mit dem 2-Tonnen-Stadtpanzer auf Öl- und Blutbasis; ganz sicher nicht mit Wochenend-Shoppingtrips nach Barcelona; ganz sicher nicht mit stundenlangen Pendler*innenstaus.

Der gesellschaftliche Raum für solche Aktionen scheint zudem gerade zu wachsen. Während es immer offensichtlicher wird, dass sich Verkehrsministerien als Autoministerien verstehen und Politik und Industrie in ihrem Gebaren kaum noch unterscheidbar sind, hat sich im letzten Jahr der Wind im öffentlichen Diskurs langsam aber sicher etwas gedreht. Die Gretchenfrage „Nun sag, wie hältst du es mit dem Auto?“ wird immer öfter gestellt und Diskussionen um das Auto finden sich jeden Tag in den Zeitungen. Der vermeintliche gesellschaftliche Konsens Auto erhält Kratzer im Lack – überall in Europa. Soziale Bewegungen müssen dabei der Sand im Getriebe der Autoindustrie bleiben. Sie müssen auf die falschen grünen Lösungen den Finger legen und dorthin weisen, wo es hingehen könnte, wenn wir uns anders bewegen. Mit dem Fahrrad, zu Fuß, dem Skateboard, der Bahn oder mit Sammeltaxis per App. Sie müssen aber auch Diskussionen darüber beginnen, warum wir uns wie wohin bewegen und welche Form von Mobilität ein Recht darstellt und welche auch überflüssig gemacht werden könnte.

Denn längst ist einer Mehrheit, wenn auch noch auf einer etwas mulmigen Ebene, klar, dass es so nicht weitergehen kann, dass wir stehenbleiben und ersticken werden, wenn wir uns nicht die Mühe machen, uns anders zu bewegen.

Alles nur utopische Träumerei?

Der sozio-ökonomische und polit-industrielle Komplex Auto ist perfekt, er hat uns das Auto in die Mitte unseres Lebens geparkt und viele von uns können sich ein Leben ohne Auto nicht mehr vorstellen. Und das nicht aus reiner Bequemlichkeit! Viele können alltägliche Wege, um zu Arbeit, Einkauf oder Freund*innen zu kommen, nicht mehr ohne Auto zurücklegen. Dies liegt in vielen Gebieten vor allem daran, dass es praktisch keine Alternativen gibt und allein die Fortbewegung im privaten Auto politisch wie gesellschaftlich jahrzehntelang gefördert und gewollt worden ist. Dazu zählen nicht nur steuerliche Privilegien wie die Dienstwagenregelung, sondern eben auch der fast überall günstige oder sogar kostenlose Parkraum für Autos. Doch dies ist eine vergleichsweise junge Entwicklung aus den letzten 100 Jahren! Systematisch wurden wir von Politik und Industrie in die Abhängigkeit vom Auto getrieben, weil das Auto Freiheit versprach. Inzwischen bedeutet es Abhängigkeit, der Konsens Auto ist gescheitert.

Aber genau aus diesem Grunde, weil dies eine politisch gewollte und gesteuerte Abhängigkeit ist, kann es ermutigend sein: Es ist und muss daher genauso möglich sein, diese Entwicklung zurückzudrängen und mit der gleichen Anstrengung könnten heute ökologisch nachhaltige Fortbewegungsmittel gefördert und das Auto zunächst aus den Städten verbannt werden. Wer glaubt, dass es keine Alternativen gibt, hat die Macht unterschätzt, die von unten und von sozialen Bewegungen ausgehen kann. Sie haben schon immer bewiesen, dass sie Umstände ins Wanken bringen, von denen man immer dachte, dass sie für ewig sind. Und wir müssen fest daran glauben, dass Fortbewegung von 80kg Mensch in einem 2 Tonnen schweren, stinkenden, lauten und umweltverpestendem Gerät nicht wirklich den höchsten Fortschritt von Mobilität bedeutet, sondern damit eigentlich der gesellschaftliche Stillstand erreicht ist.

Der Artikel ist eine leicht geänderte Fassung eines Vortrags im Rahmen der RLS-Konferenz Car Crash. Ratschlag gegen das Auto am 27. April 2019 in Frankfurt am Main.