Grüne Welle
Die Europawahlen 2019 in Deutschland
Die Ergebnisse
Die Europawahlen in Deutschland haben zwei klare Verlierer und einen klaren Gewinner. CDU und SPD haben bei dieser Wahl deutlich verloren. Für die CDU ging es um 7,5 Prozentpunkte auf 22,6 Prozent abwärts. Für die SPD ist der Wahlausgang noch verheerender, sie stürzt um 11,4 Prozentpunkte auf 15,8 Prozent ab. Niemals in ihrer Geschichte fiel die SPD bei freien bundes- oder reichsweiten Wahlen unter die 20-Prozent-Marke, die sie nunmehr ganz deutlich unterschritt. Doch auch für die CDU ist es das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte bei bundesweiten Wahlen. Gewonnen haben diese Wahl die Grünen mit einem Zuwachs von 9,8 Prozentpunkten und einem Ergebnis von 20,5 Prozent. Das mit Abstand beste Ergebnis ihrer Geschichte führte sie zugleich erstmals auf den zweiten Platz bei bundesweiten Wahlen vor die SPD.
Neben diesen erdrutschartigen und historischen Ergebnissen gibt es noch eine Reihe kleinere Gewinner und eine Verliererin. Zu den kleinen Gewinnern gehört die AfD, gegenüber der Europawahl 2014 konnte sie 3,9 Prozentpunkte zulegen, blieb jedoch unter dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017 und erreichte 11 Prozent. Auch die liberale FDP legte leicht zu, ebenso die CSU aus Bayern, die dieses Jahr mit Manfred Weber den europäischen Spitzenkandidaten der EPP stellen konnte. Schließlich wird auch die Satirepartei „Die Partei“ mit einem Zuwachs von 1,8 Prozentpunkten gestärkt und wird künftig zwei Sitze im EU-Parlament einnehmen. Die vergleichsweise kleine Verliererin ist Die Linke, die nur noch 5,5, Prozent erreichen konnte und dabei 1,9 Prozentpunkte verlor.
Das deutsche Ergebnis reproduziert damit einen Teil der Trends, die sich für die neue Zusammensetzung des EU-Parlament abzeichnen. In der EPP Fraktion werden künftig 5 Deutsche weniger sitzen, in der Fraktion der europäischen Sozialdemokrat*innen wird es 11 Deutsche weniger geben, Greens-EFA wird durch 10 zusätzliche deutsche Abgeordnete verstärkt, die liberale ALDE erhält zwei deutsche Angeordnete hinzu, GUE-NGL wird nur noch 5 statt bisher 7 Mitglieder aus der Linken haben und falls sich die AfD-Abgeordneten Salvinis Allianz „der Völker und Nationen“ anschließen wollen, tragen sie 11 Sitze zu dieser neuen Fraktion bei.
Das Momentum der Grünen
Das Erstarken der Grünen hat sich nach der Bundestagswahl 2017 deutlich abgezeichnet. Insbesondere bei den Landtagswahlen in Hessen und in Bayern gelangen ihnen bemerkenswert gute Ergebnisse. Für die Grünen spricht derzeit viel. Sie waren es nicht, die die Bildung einer schwarz-grün-gelben Jamaika-Koalition auf Bundesebene zum Platzen brachten und sie präsentieren sich seither als pragmatische bürgerlich-liberale Kraft. Doch bei aller Pragmatik: Sie werden als die Klimaschutzpartei wahrgenommen und besetzen damit exakt das allgegenwärtig zentrale Thema der öffentlichen politischen Diskussion in Deutschland. Und nicht nur in Fragen des Klimawandels ist es ihnen gelungen, den entgegengesetzten Pol zur AfD einzunehmen.
Es ist also nicht nur ein Momentum, nicht nur ein Thema, sondern es sind eine ganze Reihe von Faktoren, die den Grünen derzeit in die Karten spielen und gemeinsam mit einer klugen Personalauswahl gelingt es ihnen scheinbar mit Leichtigkeit die Sozialdemokratie zu überholen, nun nicht nur in einzelnen Bundesländern sondern auf bundesdeutscher Ebene. Zwischenzeitlich hat die Partei sich gleichermaßen für Koalitionsbildungen nach links (mit der SPD), wie auch nach rechts (mit CDU/CSU) geöffnet und bietet angesichts der Schwäche der Sozialdemokratie eine durchaus attraktive Koalitionsoption für die konservativen Parteien.
Die Sozialdemokratie und die Große Koalition
Das Bündnis zwischen Unionsparteien und Sozialdemokratie wird in Deutschland immer Große Koalition genannt, auch wenn es nicht das Bündnis der zwei stärksten Parteien sein sollte. Bei der EU-Wahl 2019 erhielten CDU, CSU und SPD gemeinsam knapp 45 Prozent der Stimmen. Bei einer Bundestagswahl würde dies höchstwahrscheinlich noch sehr knapp für eine parlamentarische Mehrheit reichen, für eine „Große Koalition“ ist es eine verheerende Niederlage. Die Verluste dieser drei Parteien summieren sich gegenüber der letzten Europawahl auf 15 Prozentpunkte und gegenüber der Bundestagswahl 2017 auf etwa 9 Prozentpunkte.
Wenn eine Partei wie die SPD eine dermaßen erschütternde Wahlniederlage erlebt, wird sie gewöhnlich Konsequenzen ziehen. Diese können inhaltlicher und personeller Natur sein, auch der Bestand der Großen Koalition müsste in Frage stehen. Fraglich ist jedoch, ob die zweifellos in der SPD bestehende Unruhe zu solchen Konsequenzen führt. Drei Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern stehen nach der Sommerpause an, in allen drei Ländern regiert die SPD in Koalitionen, in Brandenburg führt sie die Regierung an. Setzt sich der Trend der Europawahl auch bei diesen Landtagswahlen fort, wird es für die SPD existenziell, in diesem Fall wäre es doch sehr unwahrscheinlich, dass die gegenwärtige Parteispitze im Amt bleiben und auch, dass die SPD die Große Koalition im Bund fortsetzen könnte.
Die radikale Rechte
Das bundesweite Ergebnis der AfD ist beinahe schon eine Ernüchterung für die Partei, ihr Ergebnis der Bundestagswahl 2017 konnte sie nicht erreichen. Doch die Ergebnisse der Partei insbesondere in Ostdeutschland sind bedrückend. In Sachsen wurde sie mit 25,3 Prozent stärkste Partei, In Brandenburg holte sie ebenfalls den ersten Platz mit 19,9 Prozent, in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern wurde sie mit Ergebnissen um die 20 Prozent durchweg zweitstärkste Kraft bei dieser Europawahl. In Westdeutschland konnte die AfD lediglich in Baden-Württemberg mit 10,0 Prozent ein zweistelliges Ergebnis erreichen und blieb ansonsten unter diesem Wert. Parteichef Jörg Meuthen zielt klar auf eine Allianz mit Salvinis neuer nationalistischer Fraktion, kommt es zu dieser Zusammenarbeit, wird es interessant zu beobachten, ob diese in sich sehr widersprüchlichen Kräfte tatsächlich einen gemeinsamen Boden der Zusammenarbeit finden können. Auf die diesjährigen Wahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern gibt die EU-Wahl jedoch einen bitteren Vorgeschmack.
Die Linke
Angesichts der massiven Verluste der SPD und der CDU scheinen die Verluste der Linken mit 1,9 Prozentpunkten moderat. Dennoch sind sie dramatisch. Nicht einmal die enormen Verluste der Sozialdemokratie können die schwache Stellung der Partei abfedern. In dieser Europawahl wurde die Linke nicht als politisch treibende Kraft, als Kraft der gesellschaftlichen und politischen Veränderung wahrgenommen, das Ergebnis ist mehr als ein Warnschuss für künftige Wahlen in Bundesländern und auch im Bund. Mangelnde Mobilisierungskraft zu Europawahlen ist seit geraumer Zeit ein bekanntes Problem für die Partei, angesichts der dramatisch steigenden Wahlbeteiligung zu dieser Wahl wirkte sich dieses Defizit in besonderem Maße aus. Und auch wenn das gute Ergebnis der Grünen gerade bei jungen Wählerinnen und Wählern auch ein Zeichen eines starken Vertrauensvorschusses darstellt, so muss ja auch dieser erst einmal erhalten werden.
Der Linken jedoch konnte es erkennbar nicht gelingen, deutlich zu machen, warum ihre Rolle in der EU und auch im Europäischen Parlament von größerem Nutzen für Wählerinnen und Wähler sein könnte. Monate, gar jahrelang vorgetragene Widersprüchlichkeiten in Migrationsfragen, gelegentlich ambivalente Signale gegenüber „nationalen“ politischen Lösungen, eine schlingernde, unklare Haltung zur Vertiefung der europäischen Integration, schließlich auch Widersprüche in der Klimaschutzpolitik haben ganz sicher dazu beigetragen, diese Mobilisierungsschwäche noch zu verstärken. Während in den Jahren ab etwa 2005 bis etwa 2015 die entscheidende politische Achse in Deutschland die zwischen den Kräften des Marktes (FDP) und den solidarischen Kräften des Öffentlichen (PDS/WASG/Linke) lagen, hat sich diese Achse nunmehr inhaltlich neu ausgerichtet und verschoben. An den wichtigsten Polen stehen sich nunmehr AfD und Grüne gegenüber, es ist der Linken nicht gelungen, ihre Rolle in den Auseinandersetzungen dieser Zeit deutlich zu machen.
Die Kleinen
In Deutschland gilt zu den Europawahlen keine Prozenthürde, es kann damit Kleinparteien und Wählergruppen bereits ab 0,5 Prozent der Stimmen gelingen, ein Mandat im Europaparlament zu erlangen. In der kommenden Wahlperiode haben sieben Kleinparteien insgesamt 9 Mandate erhalten können. Zwei Mandate erhielten jeweils die „Freien Wähler“ und das Satireprojekt „Die Partei“, außerdem erhielten je ein Mandat: Die Piratenpartei, die Tierschutzpartei, die Familienpartei, die ÖDP (ökologisch-demokratische Partei) und Volt. Yanis Varoufakis war in Deutschland als Spitzenkandidat von Diem25 angetreten, 0,3 Prozent reichten nicht für ein Mandat im EU-Parlament.
Was wird?
Die EU-Wahlen sind letztlich eine Sammlung nationaler Wahlen, es gibt in vielen teilnehmenden Ländern sehr unterschiedliche politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Europapolitik spielt bei der Wahlentscheidung nicht die einzige, oft auch nicht einmal die wichtigste Rolle. Dennoch, und das ist bemerkenswert, lässt sich – bei vielen Ausreißern und Sonderentwicklungen – eine Reihe von europaweiten Trends ausmachen. Die teils beträchtliche Steigerung der Wahlbeteiligung – in 22 von 28 Ländern stieg sie an – gehört zu diesen Trends. Und wenn es also auch nicht zu einem, von vielen befürchteten Rechtsruck bei der EU-Wahl kam, die Stärkung nationalistischer und souveränistischer Kräfte der Rechten ist erkennbar. Die Schwächung der EPP-Parteienfamilie ist es ebenfalls. Und der dramatische Einbruch der Sozialdemokratie ist ebenso ein Trend. Für die Linke der GUE-NGL und der Partei der Europäischen Linken bedeuten die Wahlergebnisse mit sehr wenigen Ausnahmen fast durchweg Hiobsbotschaften, die EU-Wahl ist eine schwere Niederlage der Linken. Zur Stärkung der liberalen ALDE-Fraktion trägt die FDP mit zwei zusätzlichen Sitzen zwar wenig, aber immerhin etwas bei. Und auch die Grüne EP-Fraktion wird deutlich gestärkt, das deutsche Wahlergebnis ist hier der wichtigste Faktor.
Alles in allem liegt das deutsche Wahlergebnis also gänzlich innerhalb all dieser europaweit erkennbaren Trends, mal mehr mal weniger stark, aber doch immer im Trend. Auch dies wird zu analysieren sein, kann es doch Ausdruck einer sich zunehmend entwickelnden gemeinsamen politischen Landschaft und Öffentlichkeit innerhalb der Europäischen Union sein und insbesondere die Parteien der Linken täten gut daran, die kommende Zeit zu nutzen, um offen und solidarisch Schlüsse aus dem Wahlergebnis zu ziehen. Alle haben für sich kandidiert, mit eigenen Strategien, mit eigenen Kampagnen und doch werden sich zur Konstituierung des neuen Europaparlaments im Rahmen der politischen Linken fast nur Verlierer zusammenfinden. Es ist eine gemeinsame Niederlage der europäischen Linksparteien und diese gilt es dann auch gemeinsam aufzuarbeiten.