Europawahl 2019 in Ungarn

Analyse und Aussichten

27.04.2019
Szilárd Mészáros
Ronan Shenhav / Flickr

Vielleicht ist es auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar, bei der diesjährigen Europawahl kam es jedoch zu erdbebenartigen Veränderungen in der politischen Landschaft Ungarns. Am eindeutigen Sieg von Viktor Orbáns Parteibündnis Fidesz-KDNP bei der Europawahl bestand auch im Voraus kein Zweifel: Mit der skrupellosen Thematisierung der Flüchtlingsfrage bzw. der Einwanderung (von der Ungarn ja so gut wie überhaupt nicht betroffen ist) konnte der ungarische Ministerpräsident bei breiten Wählerschichten erneut punkten. Innerhalb der pro-europäisch gerichteten Opposition kam es aber zu tiefgreifenden Umstrukturierungen in der Stimmenverteilung. Ihre Zersplittertheit ist jedoch der Hauptgrund für ihre Ineffektivität gegenüber der national-populistischen Regierung. Welche Chancen hat die Opposition bei den Kommunalwahlen im Oktober? Was für Szenarien lassen sich langfristig für die ungarische Linke aufstellen? – Diese sind vielleicht die interessantesten Fragen, die Antworten bedürfen.

Gemäß den ungarischen Gesetzen muss die Wahlliste einer Partei oder eines Parteibündnisses bei der Europawahl von mindestens 20.000 Wahlberechtigten unterzeichnet werden (sog. Unterstützungsunterschriften). Es haben sich 25 Parteien im Voraus registrieren lassen, letztendlich haben es neun geschafft, die erforderliche Zahl der Unterschriften zu sammeln – obwohl eine wahlberechtigte Person sogar mehrere Wahlvorschläge unterzeichnen kann. (Diese Regelung diente bei den vorherigen Parlamentswahlen 2014 und 2018 dazu, dass sich enorm viele Kleinparteien zur Wahl stellen konnten und dadurch die regierungskritischen Wählerstimmen sich noch breiter verteilt haben. 2018 sind schließlich 18 Parteien an der 5 %-Hürde gescheitert, 16 davon sogar an der 1 %-Hürde – insgesamt erreichten sie aber beachtliche 7,57 %).

In Ungarn gibt es auch bei den Europawahlen eine 5 %-Hürde. Diese konnten bei der diesjährigen Europawahl letztendlich fünf Parteilisten überspringen: das Bündnis der Regierungsparteien Fidesz-KDNP, die linksliberale Partei „Demokratische Koalition” (DK), die liberale „Momentum Bewegung”, das Bündnis der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) und der grünen Partei „Dialog für Ungarn” (Párbeszéd), und die früher rechtsradikale, neulich in die Mitte gerückte Jobbik.

Orbán konnte zwar mehr Wähler*innen mobilisieren als vor fünf Jahren, 40 Prozent seiner Wählerschaft vom Vorjahr ging aber diesmal nicht zur Wahl. Sein Ziel, ein Ergebnis von ca. 60 % zu erreichen, wurde verfehlt. Man konnte seine Enttäuschung und die seiner Parteifreund*innen und Sympathisant*innen am Wahlabend eindeutig wahrnehmen. Die bittere Stimmung hatte aber noch einen, gar wichtigeren Grund: Die Opposition hat – völlig unerwartet – eine neue führende Kraft, die „Demokratische Koalition” (DK), die von Orbáns größtem Gegner, dem ehemaligen Premier Ferenc Gyurcsány geführt wird.

Die DK konnte mit ihrer charismatischen Spitzenkandidatin Klára Dobrev, die mit ihrer eindeutig pro-europäischen Haltung, ihrem linken Wahlprogramm (mit dem sie sich im Übrigen den west-europäischen Wahlversprechen des europäischen Mindestlohnes, der Mindestrente und der konsequenten Besteuerung der Multis anschloss) und einem konsequent geführten Wahlkampf mit mehr als 16 Prozent der Stimmen wahrhaftig triumphieren. Sie haben auf überraschende Weise vier Mandate gewonnen. Die DK hat die absolute Zahl ihrer Stimmen im Vergleich zu der Parlamentswahl 2018 fast verdoppelt und sie hat damit die alte Sozialistische Partei (MSZP) nicht nur abgelöst, sondern gleich an den Rand des politischen Aus (6,66 %) gedrängt. Beide Parteien werden sich der S&D-Fraktion im Europaparlament anschließen.

Die „Momentum Bewegung” konnte sich als eine neue liberale Kraft etablieren. Mit ihrem unverhofft hohen Ergebnis wurde sie die drittstärkste politische Kraft Ungarns – obwohl sie bei der Parlamentswahl im vorherigen Jahr nur noch knapp 3.6 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Was die absoluten Zahlen anbelangt, konnte sie – ebenfalls wie die DK – ihre Wählerstimmen fast verdoppeln. In mehreren Bezirken von Budapest wurde sie die zweitstärkste und unter den jungen Wähler*innen sogar die beliebteste Partei. Ihre 2 Abgeordneten werden der ALDE-Fraktion beitreten.

Der einstigen Regierungspartei MSZP ist es nicht gelungen, jegliche innovative Stärke aufzuzeigen. Sie wird von Wahl zur Wahl immer schwächer und kann daraus keine richtigen Konsequenzen ziehen. Das erledigen die Wähler*innen, indem sie dieser Partei nicht mehr ihre Stimmen geben. Der jüngste Verbündete, die kleine grüne Partei „Dialog” setzte offensichtlich auf das falsche Pferd, als sie sich mit der MSZP zusammenschloss. Ihr renommierter Europaabgeordnete, Benedek Jávor, der neulich mit dem Titel des erfolgreichsten grünen Politikers im Europäischen Parlament geehrt worden ist, muss um sein Mandat bangen (er kandidierte auf Platz 4 der Liste, kann aber eventuell gemäß einer Entscheidung des Parteibündnisses seine Arbeit doch fortsetzen – Ungarn hätte nur in diesem Fall weiterhin einen grünen Abgeordneten im Europaparlament).

Die einstige rechtsradikale Partei Ungarns, die Jobbik, sah keine Alternative für die „Zusammenarbeit der europäischen Nationen“, warnte jedoch vor dem föderalen Modell der „Vereinigten Staaten von Europa“. Das Stoppen der Migration und die Bekämpfung der Lohndifferenz standen in ihrem Fokus – eine Mischung aus rechten und linken Themen also, wodurch sie eine Position in der Mitte einzunehmen versuchten. Das Projekt dieser Umpositionierung ist schließlich nicht gelungen: Allem Anschein nach wurde sie Opfer des „Weder Fleisch noch Fisch”-Syndroms und musste somit ebenfalls verheerende Verluste hinnehmen.

Der Verlauf des Wahlkampfes

Das Interesse von Viktor Orbán war auch diesmal, einen sogenannten „tiefgekühlten” Wahlkampf zu führen, indem er und seine Parteifreund*innen alle öffentlichen Debatten negierten, sich auf keine Diskurse einließen (was langfristig auch zum Verfall der Debattenkultur in Ungarn beiträgt). Sie mobilisierten herkömmlicherweise über die öffentlich-rechtlichen und inzwischen angekauften privaten Fernsehkanäle, außerdem betrieben sie eine aktive Haustür-Kampagne. Vom Inhalt her setzten sie überwiegend auf das Thema Einwanderung, dessen Ablehnung laut Minister Gergely Gulyás „keine Xenophobie, sondern reiner Lebensinstinkt” sei. Bei den Europawahlen würden entweder „Migrationsmanager“ gewählt oder Politiker *innen, die sie stoppen wollten. Die Flüchtlings- bzw. Migrationsfrage diente also dieser nationalistischen, populistischen Politik der Abschottung als unentbehrlicher Ansatz zu einer neuen Kampfansage. Dieses immerwährende Kämpferische ist zum bedeutendsten Merkmal dieses Regimes geworden. Und wer dagegen hält, ist ein zu verachtender Spielverderber.

Die eigentliche Krise der links-liberalen bzw. links-grünen Opposition besteht größtenteils darin, dass sie sich nicht nur gegenüber Orbán, sondern auch gegenüber den anderen Oppositionsparteien identifizieren müssen. Ihr Wettlauf ist also zweigleisig und somit –auch den ungarischen Medienverhältnissen geschuldet – eigentlich ziemlich aussichtslos. Dennoch haben sie im Wahlkampf wichtige Themen aufgegriffen: z. B. das Modell des Sozialen Europas (in diesem Zusammenhang die Ideen des europäischen Mindestlohnes und der Mindestrente usw.), das Modell des nachhaltigen Europas und die Notwendigkeit einer rigorosen Prüfung der Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien in den einzelnen Mitgliedsländern. Gerade bei Letzterem muss darauf hingewiesen werden, dass die Europäische Union das Problem „Ungarn” offensichtlich weder schlucken noch ausspucken kann: Weder die Verabschiedung des sog. Tavares-Berichtes im Jahr 2013 noch die Annahme des sog. Sargentini-Berichtes im Jahr 2018 konnte bislang zu einem wirkungsvollen Mechanismus führen, was die Behandlung autoritärer Tendenzen in einem Land anbelangt.

Mitten im Wahlkampf sorgte Orbán für einen weiteren Skandal: Die Werbeplakate der unabhängigen, aber regierungskritischen Wochenzeitung „HVG” bekommen künftig keine öffentlichen Werbeflächen von jener Privatfirma, die solche in ganz Budapest zur Verfügung stellt – und natürlich in den Händen von regierungsnahen Oligarchen ist. Der Grund für diese Verweigerung dürfte sein, dass kürzlich die Ehefrau eines Ministers im satirisch-ironischen Stil auf der Titelseite dieser Zeitung abgebildet worden war. Solche Eingriffe der Regierungsmacht in die Presselandschaft sind keine Neuigkeiten mehr: Vor einigen Jahren wurde die größte oppositionelle Tageszeitung „Népszabadság” durch Scheingeschäfte eliminiert. Geachtet dieser Phänomena darf man sich gar nicht wundern, dass Ungarn im diesjährigen Bericht des Freedom House lediglich als „teilweise freies Land” eingestuft worden ist.

Inzwischen waren die Straßen landesweit voll mit den Plakaten der Regierungsparteien: „Unterstützen wir das Programm von Viktor Orbán, halten wir die Einwanderung auf!” – hieß die Aufschrift. Den Oppositionsparteien wurden die Werbeflächen enorm teuer angeboten, so dass sie sich es kaum leisten konnten überhaupt welche zu mieten. Dieser Mangel an Ressourcen stand bereits bei den vorherigen Parlamentswahlen unter internationaler Kritik: Auch das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hielt in seinem Abschlussbericht fest, dass die unausgeglichenen Medienverhältnisse in Ungarn erheblich dazu beigetragen hatten, dass die Wähler*innen an der genauen Überlegung ihrer Wahlentscheidung gehindert wurden.

Die beiden erfolgreichen Parteien der Oppostion, DK und Momentum, haben einen sehr frischen und lebendigen Wahlkampf geführt. Sie haben viel auf die Präsenz im Internet gesetzt und kamen bei der Bildungselite sehr gut an. Obwohl sie ressourcenmäßig mit der Regierung gar nicht Schritt halten konnten, ist es ihnen gelungen, ihre Botschaften mit Fleiß und Ausdauer hinüberzubringen.

Aussichten nach der Europawahl

a) Für Orbán und seine Partei Fidesz

Orbán konnte zu Hause zwar erneut triumphieren, in der EU gehört er aber einer rechtsradikalen Minderheit an. Der offiziell bis dato noch nicht verkündete, aber von beiden Seiten bereits angedeute Bruch mit der Europäischen Volkspartei und Orbáns Annäherung an die neue rechte Allianz von Salvini, Le Pen und Co. kann ihn (bzw. die EU-Abgeordneten seiner Partei) in eine oppositionelle Fraktion im Europäischen Parlament drängen – der Schlagabtausch zwischen Manfred Weber und dem ungarischen Premier lässt eine solche Schlussfolgerung zumindest zu. Der oppositionellen Grudhaltung hat Orbán etliche innenpolitische Erfolge zu verdanken, jetzt wird sich jedoch vielleicht herausstellen, wie er damit auf europäischer Ebene umgeht – falls er die Europäische Volkspartei verlässt.

b) Für die ungarische Linke

Aus politischer Hinsicht bleibt es in Ungarn weiterhin spannend, denn im Oktober dieses Jahres folgen die landesweiten Kommunalwahlen. Ein langerwarteter Zusammenschluss der Oppositionsparteien könnte dem Fidesz Schwierigkeiten verursachen, vor allem in den meisten Bezirken von Budapest. Die ungarische Hauptstadt ist nämlich – ähnlich wie in anderen Großstädten weltweit – deutlich mehr links eingestellt als die Provinz: Bei den Parlamentswahlen 2018 konnte hier die linke Opposition 12 von den 18 Direktmandaten gewinnen, und im Falle eines Zusammenschlusses hätte sie sich in den übrigen sechs Wahlkreisen ebenfalls durchsetzen und damit die Zweidrittelmehrheit von Fidesz verhindern können. Wenn also die politischen Voraussetzungen dazu geschaffen werden, könnte die Hauptstadt von den Rechten zurückerobert werden.

In den Kleinstädten und Dörfern ist aber weiterhin mit einem starken Fidesz-Einfluss zu rechnen. Die sich vertiefenden feudalen Strukturen in der ungarischen Provinz haben auch schon für internationales Aufsehen gesorgt. Hier darf auf einen wichtigen soziologischen Zusammenhang hingewiesen werden: Die Wähler*innenbasis der Orbán-Regierung setzt sich überdurchschnittlich aus Menschen mit bildungsfernen Hintergründen zusammen, die in kleinen Gemeinden wohnen und inzwischen der älteren Generation angehören. Studien zeigen außerdem, dass das Bildungsniveau der wichtigste Faktor bei den Wahlentscheidungen ist. Vereinfacht formuliert: Die weniger gebildeten Wähler*innen in der Provinz wählen eindeutig rechts, die Gebildeten in den Städten wählen mehr links. Anders gedeutet heißt das, dass die Linke und die Mitte ihre weniger gebildete Wähler*innenschaft allmählich eigentlich verloren hat. (Man kann also leicht nachvollziehen, warum das staatlich gelenkte, jegliche Autonomie verbannende Bildungssystem im Interesse von Orbán steht: Je nationalistischer die Jugendlichen erzogen und geschult werden, desto leichter wird es, eine auf Neid, Angst und Hass gebaute Gesellschaft zu festigen.) Vor der ungarischen Linke stehen etwa folgende drei Möglichkeiten für eine langfristige politische Strategie:

1) Es könnte ein neues Bündnis mit den Gesellschaftsgruppen der modernen Lebensweisen geschlossen werden. Diese Auffassung geht von der Überlegung aus, dass die „alte”, „ungeschulte” Arbeiter*innenschaft politisch nicht mehr zurückgewonnen werden kann. Stattdessen sollte man sich mehr auf die städtischen Mittelschichten konzentrieren, um ihnen ein lockendes politisches Angebot anbieten zu können. Das wäre eigentlich eine Art „grüne” Option, welche aus linker Perspektive durchaus als ungenügend bewertet werden könnte und sollte.

2) Eine weitere Alternative wäre die Integrationsbemühung nach links, etwa den Beispielen von Corbyn und Sanchez folgend. Diese würde gegen die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft gerichtet sein und damit einen eindeutigen linken Charakter aufweisen.

3) Man könnte aber auch versuchen, eine Integration zur Mitte anzustreben, wie dies z. B. von Macron und Trudeau vorgeführt wird.

Die Parteien links der Mitte stehen vor der riesigen Herausforderung, alles abzuwägen und sich für einen neuen Weg zu entscheiden. Ihre Verantwortung besteht nunmehr darin, die politische und gesellschaftliche Rückentwicklung Ungarns endlich aufzuhalten und der orbánschen Entdemokratisierung dieses Landes konzeptionell entgegenzuwirken. Die Ergebnisse der diesjährigen Europawahl deuten zumindest darauf hin, dass noch nicht alle Hoffnung verloren ist.