One step beyond

27.05.2019
Andreas Thomsen
Flickr / CC BY-ND 2.0

 

Die Wahl

 

Am 24. Mai, einen Tag nach der EU-Wahl im Vereinigten Königreich und in Nordirland, aber noch vor der Auszählung des Wahlergebnisses erklärte Theresa May ihren Rücktritt. Es ist nun mit einer Unterhauswahl noch in diesem Jahr zu rechnen und auch in dieser Hinsicht dürften die Ergebnisse der EU-Wahl für London von besonderem Interesse sein, denn auch wenn unter anderem aufgrund eines vollkommen anderen Wahlrechts die Unterhauswahl mit Sicherheit nicht wie die EU-Wahl ausgehen wird, gibt sie dennoch gute Hinweise auf die Stimmung im Land.

Brexit ist derzeit und ganz besonders natürlich im Zusammenhang mit einer EU-Wahl das alles beherrschende Thema. Das Wahlergebnis wird im Vereinigten Königreich vor allem in einer Hinsicht interpretiert werden: Wie verhält sich der Anteil der Stimmen für die Brexit-Parteien zu den Stimmen, die für Parteien abgegeben wurden, die sich für einen Verbleib in der Europäischen Union aussprechen? Und in dieser Interpretation bleibt die Labour-Partei die unbekannte Größe, ihre Haltung diesbezüglich wird höchstens als unentschlossen wahrgenommen, kann aber durchaus auch als Brexit-Kurs gesehen werden. Bei der EU-Wahl 2014 war es Nigel Farages damalige Partei UKIP, die die Stimmen der entschiedensten Befürworter*innen eines Austritts aus der EU sammelte.

Zwischenzeitlich hatte Farage UKIP verlassen und kandidierte mit seiner neuen „Brexit-Partei“ erneut für das Europäische Parlament. Auf der Seite der Befürworter*innen eines Verbleibs des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union bot sich eine ganze Reihe von Parteien an: Change UK, eine neue Partei, vor allem gegründet von ehemaligen Labour- und Tory-Abgeordneten, die Grünen, die Liberaldemokraten, die schottische Regionalpartei SNP (Scottish National Party) und in Wales Plaid Cymru. Die politische Landschaft in Nordirland unterscheidet sich stark von der in Großbritannien. Die mit Abstand wichtigsten politischen Kräfte dort sind die loyalistische Democratic Unionist Party (DUP) und die republikanische Sinn Féin. Die DUP hatte sich für einen Brexit ausgesprochen, dem May-Deal jedoch mit Hinweis auf die für sie inakzeptable Lösung für Irland verweigert. Sinn Féin steht in Opposition zu den Austrittsplänen.

 

Das Ergebnis

 

Klarer Sieger ist Nigel Farages neugegründete Brexit-Partei. 2014 erreichte Farage mit UKIP 26,6 Prozent der Stimmen und 24 Sitze. Die Brexit Partei konnte nunmehr 31,6 Prozent und 29 Sitze erreichen. Klarer Verlierer sind die konservativen Tories. Für sie ging es von 23,05 Prozent um sagenhafte 14,8 Prozentpunkte auf nur noch 9,1 Prozent bergab. Sie verloren 15 Sitze und kommen nur noch auf 4. Auch die oppositionelle Labour-Party verliert beinahe in ähnlichem Ausmaß wie die Regierungspartei. Sie fällt von 24,4 Prozent auf 14,1 Prozent und erreicht nur noch 10 Sitze, 10 weniger als 2014. Im Lager der klar für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU eintretenden Parteien konnten sich die Liberaldemokraten klar durchsetzen. Sie wurden nach der Brexit-Partei mit 20,3 Prozent zweitstärkste Kraft und erreichten 16 Sitze. 2014 hatte es mit 6,7 Prozent nur für einen Sitz gereicht. Als weitere Wahloptionen für „Remain“-Wähler*innen schnitten die Grünen mit 12,1 Prozent und 7 Sitzen sehr gut ab.

Change UK landete abgeschlagen mit 3,4 Prozent auf dem achten Platz und verpasste den Einzug ins Europäische Parlament. Die beiden Regionalparteien SNP und Plaid Cymru konnten drei bzw. einen Sitz erreichen. In Nordirland gibt es in Sachen Sitzverteilung nur eine Veränderung. Sinn Féin und DUP haben wir bisher je einen Sitz erhalten, neu erhält die Alliance Party einen Sitz. Statt an eine protestantische Unionistenpartei wie bisher, geht dieser Sitz also an eine liberale, überkonfessionelle Regionalpartei.

Die Parteien, die sich klar für den Verbleib einsetzen (Liberaldemokraten, Grüne, Change UK, SNP, Plaid Cymru, Sinn Féin), erreichen ca. 41 Prozent, aber es ist zugleich festzustellen, dass auch die klaren Brexit-Parteien [Brexit, Tories, DUP, UUP] die absolute Mehrheit mit etwa 44 Prozent verfehlen. Die Labour-Party kann keinem dieser beiden Lager zugerechnet werden, und so wirkt dieses Ergebnis wie ein Verweis auf die ebenfalls sehr unentschlossene Lage im House of Commons.

 

Uneindeutigkeiten und Vorahnungen

 

Die Europawahlen im Vereinigten Königreich und in Nordirland fanden in einer einzigartigen, beinahe surrealen politischen Situation statt. Der ursprüngliche Termin des Ausscheides des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist nun bereits eine Weile verstrichen, ein Austrittabkommen liegt vor, jedoch gelingt es dem britischen Parlament nicht, dem Abkommen zuzustimmen oder einen gangbaren Gegenvorschlag zu unterbreiten. Der Brexit ist verschoben, für einen harten Brexit ohne Austrittsabkommen ist im Unterhaus ebenfalls keine Mehrheit zu erhalten. Die weitere Entwicklung ist mehr als ungewiss. Dabei ist die Premierministerin aufs Äußerste geschwächt, ihre Regierung steht auf tönernen Beinen. Gespräch mit der Labour-Partei zur Findung einer Kompromisslösung wurden kurz vor der Europawahl ergebnislos abgebrochen. In dieser offenen und ungeordneten Lage ist die verwirrende Situation entstanden, in der das Land, dessen Regierung längst den Austritt aus der Europäischen Union vollzogen haben wollte, an den Wahlen zum EU-Parlament teilnehmen musste. Die EU-Wahl im Vereinigten Königreich wurde bereits am 23. Mai durchgeführt.

Am Tag zuvor, am 22. Mai jedoch überschlugen sich die Ereignisse noch einmal. Die konservative Abgeordnete Andrea Leadsom trat von ihrem Amt des „Leader of the house“ zurück und erläuterte diesen Rücktritt in einer scharfen, gegen die Premierministerin gerichteten Erklärung. Es verdichteten sich noch am gleichen Tag Gerüchte, Theresa May werde noch in der laufenden Woche zurücktreten. Nachfolgekandidaten brachten sich bereits in Stellung, darunter auch der frühere Außenminister und Befürworter eines Austritts ohne Abkommen Boris Johnson. All dies geschah auch vor dem Hintergrund von Wahlumfragen, die der Tory-Partei ein wahrlich vernichtendes Ergebnis bei der anstehenden Europawahl prognostizierten und am 24. Mai kündigte Theresa May dann ihren Rücktritt für den 7. Juni an.

Es ist nunmehr sehr wahrscheinlich, dass noch in diesem Jahr, wahrscheinlich sogar noch vor dem neu angesetzten Austrittstermin am 31. Oktober Unterhauswahlen durchgeführt werden. Bei einer Rückkehr zu Mehrheitswahlrecht ist zwar ein vollkommen anderes Wahlergebnis zu erwarten, als es nun bei der EU-Wahl zu sehen war, aber genau dieser Umstand könnte die Unruhe noch einmal deutlich verstärken. Denn durch das Mehrheitswahlrecht können dritt- oder gar viertplatzierte Parteien sehr vernichtende Niederlagen erleben, die die prozentualen Verluste noch weit übersteigen. Für die konservativen Tories, die sich in der EU-Wahl auf dem fünften Platz wiederfinden mussten, erhält ihr Abschneiden bei der Unterhauswahl durchaus eine existentielle Dimension. Für Labour sieht es auf dem dritten Platz zwar etwas besser, aber ebenfalls alarmierend aus. Kommt es in naher Zukunft zur Unterhauswahl und ist die Brexit-Frage dann immer noch offen, könnte diese Wahl für beide ehemals großen Parteien zum Desaster werden und die politische Landschaft im Vereinigten Königreich vollkommen umkrempeln. Diese Perspektive vor Augen deutet wohl kaum eine Beruhigung der überaus polarisierten und aufgeheizten politischen Stimmung in allen politischen Lagern des Landes an.

 

Die Rache beider Lager und das Dilemma der Labour-Party

 

Die Rache des überzeugten Brexiteers ereilt bei dieser Europawahl – und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich dies auch bei künftigen Wahlen wiederholen wird – die konservative Tory-Partei, die nun um ihre schiere Existenz fürchten muss. Doch auch Labour wird schwer bestraft. Angesichts der massiven Zuspitzung des einen, das beinahe komplette politische Leben des Vereinigten Königreichs beherrschenden Themas und der ungeheuren Polarisierung, die das Land an diesem Thema erlebt, entscheiden sich viele Wählerinnen und Wähler für klare, unmissverständliche Optionen. Die Wahl der Brexit-Partei bedeutet: Raus, aber schnell, gerne auch ohne Abkommen, ohne weitere Verhandlungen. Die Wahl der Remain-Parteien LibDems, Greens, UK Change, SNP, Plaid Cymru und Sinn Féin heißt: Rücknahme des Austrittsgesuchs nach Artikel 50, Verbleib in der EU, gerne auch zur Bestätigung über ein zweites Referendum.

Die Labour-Partei steht in dieser Situation in einem doppelten Widerspruch. Die Demoskopie, aber auch Parteibeschlüsse bestätigen, dass die Mitglieder wie AnhängerInnen der Partei sich in der Mehrheit keinen Brexit wünschen, auch wenn es in der Partei eine bedeutende Brexiteer-Fraktion gibt. Die Signale der Parteispitze sollen möglichst in beide Richtungen wirken, ins Remainer-Lager, wie auch ins Brexiteer-Lager. Es stellt sich allerdings heraus, sie wirken eher in keine Richtung wirklich gut. Die Unentschlossenheit und Unklarheit der Partei nervt und irritiert und sie schadet ihr massiv. Zugleich ist Labour aber auch die (parlamentarisch) wichtigste Oppositionspartei, Jeremy Corbyn ist Schattenpremier und Oppositionsführer. In einem faktischen Zweiparteiensystem wird es für die Opposition schnell schwierig und gefährlich, wenn sie zum zentralsten Projekt der Regierung keine fundamentale Gegenposition aufzubauen vermag.

Beabsichtigt die Führung der Labour-Partei also, den Kurs der Unentschiedenheit in der derzeit alles bestimmenden Frage fortzusetzen, dann kann sie nur hoffen, dass Neuwahlen im Vereinigten Königreich noch in weiter Ferne sind. Nach Lage der Dinge und mit der bestehenden Positionierung kann Labour eine General Election wahrscheinlich erst dann gewinnen, wenn die Brexit-Frage auf die eine oder auf die andere Weise vom Tisch ist. Fraglich bleibt aber, ob ihr dieses Glück vergönnt sein wird.