Ein neues Projekt: Eine Zeit in der Hölle

Brennpunkte französischer Politik

16.10.2019
Andreas Thomsen & Ethan Earle

Eine Zeit in der Hölle, das Meisterwerk des französischen Dichters Arthur Rimbaud, wurde vor dem Hintergrund der konservativen Gegenreaktion auf die revolutionäre Pariser Kommune des Jahres 1871 geschrieben. In einem bäuerlichen Haus nordöstlich von Paris grübelte das enfant terrible der französischen Dichterszene über sein eigenes gescheitertes Experiment mit der Freiheit und über die Verwirrung, die Desillusionierung und die Zweifel, die daraus entstanden waren. Fast 150 Jahre später erlebt das heutige Frankreich seine eigene Zeit in der Hölle und wird durch ein von tiefen Spaltungen und Ungewissheiten bestimmtes politisches Klima in Aufruhr versetzt, in dem finstere Trugbilder ihre Macht entfalten und der Weg zu einer besseren Welt in keiner Weise vorgezeichnet ist.

Frankreich kann auf eine der reichsten demokratischen Traditionen der Welt zurückblicken, aber auch auf eine folgenreiche Revolution und eine von brutalen Repressionen gekennzeichnete Kolonialzeit. In einem Land, das de facto das zweitgrößte EU-Land und die sechstgrößte Volkswirtschaft und Militärmacht der Welt und seit jeher Protagonist zahlreicher Revolutionen in allen Bereichen von Poesie bis Politik ist, sollten die jüngsten politischen Unruhen in Frankreich für politische Beobachter*innen Anlass zur Sorge geben.

In dieser aktuellen politischen Gemengelage steht nichts weniger auf dem Spiel als die Zukunft des liberaldemokratischen Modells, und Frankreich dient zurzeit als offenes – und instabiles – Experimentierlabor für alles, was die weitere Entwicklung für das Land bereithalten könnte. Als politische Institution, die sich der Unterstützung der internationalen Linken verschrieben hat, zeigt sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung besonders besorgt über die mit dieser Entwicklung einhergehenden Auswirkungen auf fortschrittliche Bewegungen in Europa und darüber hinaus.

Mit der Präsidentschaftswahl 2017 hat der 40-jährige Emmanuel Macron ein Parteisystem in die Bedeutungslosigkeit geschickt, das in den Jahrzehnten nach dem Krieg bemerkenswert stabil gewesen war. Seine neue gegründete Partei La Republique En Marche versprach alles und nichts: Nicht weniger als eine neue Politik jenseits der Beschränkungen linker und rechter orthodoxer Gewissheiten, und nicht mehr als eine Reihe in sich widersprüchlicher Parolen und einer hochfahrenden, dabei aber leeren Rhetorik, die alle und jeden einfangen soll, der vor dem neuen Sonnenkönig Frankreichs in die Knie geht.

Zwischen 2017 und der Europawahl 2019 gelang es Macron, die beiden traditionsreichen französischen Parteien, die Republikanische Partei und die Sozialistische Partei, in der Bedeutungslosigkeit verschwinden zu lassen bzw. sie zum Teil seines eigenen politischen Projekts zu machen. Die Frage ist – wer führt die jetzt noch verbleibende bedeutendste Opposition an? Die Antwort ist – niemand anderes als Marine Le Pen, seit vielen Jahren Thronfolgerin der internationalen extremen Rechten und ihrer finsteren politischen Ziele.

Die Verstetigung der Konfrontation zwischen diesen beiden Personen wertet sowohl den Status Macrons als auch Le Pens auf: Er als vernünftiger Moderater mit der Aufgabe, die Mächte der Finsternis im Schach zu halten, sie als Anwältin der einfachen Bürgerinnen und Bürger, die einer elitären Politik überdrüssig sind, die für sie nicht funktioniert.  Wenn sich das neoliberale Zentrum und die nationalistische extreme Rechte gegenseitig als einzige legitime Opposition betrachten, gewinnen sie zunehmend an Einfluss, und echte Alternativen haben hinter den Bugwellen dieser übermächtigen Konstellation Mühe, nicht unterzugehen.

Dieses fehlende Licht am Ende des Tunnels scheint für die gesamte politische linke Szene symptomatisch zu sein und sie in der gegenwärtigen politischen Debatte zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen. Die Hoffnung auf eine vereinigte Linke – zuerst in Form der Front Gauche und danach als Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, die bei der Wahl 2017 mit nur zwei Prozent mehr Stimmenanteil Le Pen geschlagen hätte und gegen Macron angetreten wäre – dürfte sich damit erledigt haben. An ihrer Stelle finden wir heute eine zersplitterte Landschaft voller beschädigter Parteien, tief zerstritten über Themen wie EU und Einwanderungspolitik und in einem sich verschärfenden Kampf um immer weiter abnehmende politische Spielräume.

Mittlerweile bedrohen massive soziale Unruhen, die durch die für Autofahrer*innen vorgeschriebenen gelben Westen symbolisiert werden, die Grundfesten des politischen Systems. Die gilets jaunes, wie sie im Französischen genannt werden, gehen inzwischen zu Hunderttausenden auf die Straße und besetzen seit dem 17. November 2018 in Frankreich jeden Samstag Kreisverkehre und öffentliche Plätze. Zunächst als Protestaktion gegen die angekündigte Erhöhung der Steuern auf Benzin und Diesel organisiert, hat dieser dezentrale Aufstand seither immer neue Themen gefunden, so dass jetzt auch eine Solidaritätssteuer auf Reichtum, eine Erhöhung des Mindestlohns, die Einführung von Volksinitiativen und zahlreiche andere Maßnahmen gefordert werden, die dem traditionellen Verständnis des politischen Links-Rechts-Spektrums diametral entgegenstehen.

Bei der Wahl 2017 haben laut Umfrage rund 19% der gilets jaunes jeweils für Le Pen und Mélenchon gestimmt, jedoch nur 5% für Macron. Das eigentliche Thema sind aber – wie bei der späteren Europawahl – die ungültigen Stimmen und die Wahlenthaltung. In erster Linie erinnert uns dieser ideologisch unterschiedlich motivierte Aufstand der vergessenen französischen Arbeiterklasse daran, dass die Politik des Landes nicht mehr für die Mehrheit des einfachen Volkes spricht oder handelt.

Diese Tatsache bestimmt heute die in Aufruhr versetzte französische Politik. In ungewissen Zeiten, in denen jede Art von Hölle denkbar ist, besteht aber auch – und so ist es immer in Zeiten wie diesen – die Hoffnung auf das Rettende.

„Eine Zeit in der Hölle“ ist ein Projekt des Büros Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das gemeinsam mit seinen zahlreichen regionalen Schwesterbüros, dem Hauptsitz in Berlin  und seinem umfangreichen Netzwerk internationaler Partner daran arbeitet, fortschrittliche Analysen, Debatten und die Entwicklung einer transnationalen linken politischen Zusammenarbeit zu fördern. Als Auslandsbüro mit Sitz in der Hauptstadt der Europäischen Union und zurzeit zuständig für dreizehn EU-Länder einschließlich Frankreich ist RLS Brüssel besonders daran interessiert, einen Beitrag zu einem echten linksorientierten öffentlichen Raum in Europa zu leisten.

Die Debatten und die politischen Mobilisierungsaktionen in den EU-Mitgliedstaaten brauchen einen gemeinsamen Kontext, und es wird für die linken Kräfte in Europa zunehmend wichtig, sich selbst als Teil einer transnationalen linken Bewegung zu begreifen. Was uns einigt, ist die Krise der Demokratie, der Aufstieg rechtsradikaler Kräfte und die sich überlagernden sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen unserer Zeit, wobei sich die durch diese Krisen verursachten Schockwellen allerdings in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich manifestieren können. Deshalb ist es umso wichtiger, politische und soziale Entwicklungen auch in anderen Ländern als dem eigenen zu verstehen, und in der Tat sehen wir dies als die einzige Möglichkeit an, ein vollständiges Bild und somit ein tieferes Verständnis der aktuellen Konstellation zu bekommen.

„Eine Zeit in der Hölle“ beginnt als eine Reihe kurzer analytischer Artikel, die einem iterativen Ansatz folgen, aufeinander aufbauen und in ihrer Behandlung eines dynamischen Themenkomplexes, der sich permanent „in Echtzeit“ entwickelt, natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das Projekt wird sich im Vorfeld der Parlamentswahl  2020 und schließlich der Präsidentschaftswahl 2022 weiter entwickeln und um weitere Elemente wie Präsentationen und Debatten online sowie in Paris und Brüssel ergänzt.

Mit diesem Projekt will RLS Brüssel Licht in das diabolische Chaos bringen, in dem sich die aktuelle politische Landschaft Frankreich besonders für die Linke jenseits der Grenzen des Landes und außerhalb der französischsprachigen Welt befindet. Für die internationale fortschrittliche Gemeinschaft war es bisher schwierig zu verstehen, was genau in der französischen Politik eigentlich geschieht: vom umfassenden Zusammenbruch des traditionellen Parteiensystems und der politischen Kultur der Präsidialdemokratie über die widersprüchlichen und bemerkenswert entschlossenen Proteste der gilets jaunes bis hin zur tiefen Spaltung der politischen Linken und der wichtigen Rolle des Populismus im gesamten politischen Spektrum. Die im Rahmen dieses Projekts veröffentlichten Artikel und Beiträge wollen diese komplexe Gemengelage in ihren Details nachvollziehen, denn ein genaues Verständnis dieser Situation ist die Voraussetzung für eine gemeinsame politische Analyse und gemeinsames politisches Handeln.

Als ein versöhnlicher abschließender Hinweis zu dieser Zeit in der Hölle sei angemerkt, dass sich – ganz einfach – die Zeiten auch wieder ändern. Das politische Klima in Frankreich wird zurzeit von Turbulenzen und durchgreifenden Veränderungen bestimmt, aber auch dies wird nicht so bleiben. Wie der Endpunkt dieses Systemwandels im Guten oder im Schlechten aussehen wird, ist kein fait accompli, sondern wird durch die politische Auseinandersetzung bestimmt.

An diesem Punkt will sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung als Akteur der internationalen Linken ins Spiel bringen. Wir können natürlich der französischen Linken keine Handlungsanleitungen geben. Aber wir können Neuigkeiten, Analysen und Erkenntnisse aus ihrem Umfeld mit Gesinnungsgenossen*innen in aller Welt teilen und Feedback von dort an Frankreichs Linke weitergeben in der Hoffnung, dass wir die politischen Auseinandersetzungen mit unseren Gegner gemeinsam führen, wo immer neue Brennpunkte entstehen.

Andreas Thomsen ist Leiter des Büros Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ethan Earle ist in Paris als politischer Berater  tätig, war früher Programmmanager bei RLS-NYC  und ist Leiter dieses Projekts.