In welche Richtung des Verkehrskreisels?

Wie werden sich die Gelbwesten politisch verorten?

17.10.2019
Ethan Earle

Seit einigen Monaten ist es ruhig um die Bewegung der Gelbwesten (frz. gilets jaunes) geworden, die bis vor Kurzem noch in ihren reflektierenden Warnwesten an Verkehrskreiseln in ganz Frankreich protestierten und weltweit die Nachrichten beherrschten. Durch ihre anhaltenden Proteste hatten sie das französische politische Establishment wie andere frühere Protestbewegungen in den Grundfesten erschüttert, denn entgegen ernst zu nehmenden Vorhersagen, dass die Gelbwesten schnell zusammenpacken und dorthin zurückkehren würden, woher sie kamen, waren sie noch lange jeden Samstag auf den Straßen präsent. Bis zum Sommer verlor die Bewegung indessen deutlich an Dynamik.

Grund dafür könnte das legendäre Sommerloch, die sogenannten vacances, in Frankreich sein, das selbst diejenigen in ein Vakuum eintaucht, die nicht von der landesweiten Ferienzeit profitieren. Vielleicht nahmen auch die Europäischen Wahlen am 26. Mai den Demonstrationen den Wind aus den Segeln, anlässlich derer abfällige Bemerkungen über die gilets jaunes und ihr Sammelsurium an politischen Forderungen für die verschiedensten Aspekte des sozialen Lebens gemacht wurden. Belastend können sich auch die rekordverdächtigen Hitzewellen ausgewirkt haben, mit landesweiten Temperaturen im Juni und Juli von weit über 40°C.

Aber die Jahreszeiten ändern sich. Die Urlaubszeit ist vorbei, der Sommer weicht dem Herbst und die Verhältnisse, die den bedeutendsten sozialen Unruhen seit den Jahren 1968 bis 2010 zugrunde liegen, haben sich nicht im Geringsten verändert. Derzeit hat es den Anschein, als ob die Gelbwesten in der ein oder anderen Form an die Verkehrskreisel und zumindest in die Köpfe der vernünftigsten französischen Politiker*innen zurückkehren werden

An der Schwelle zu ihrem bislang unbekannten zweiten Akt stellen wir uns folgende Fragen: Was haben wir bislang über die Menschen in den gelben Westen erfahren? Was fordern sie und welche politische Richtung werden sie einschlagen?

Sie sind gegen Macron, aber auch gegen Le Pen?

Die Proteste der Gelbwesten begannen am 17. November 2018 als Reaktion auf die von der Regierung geplante Erhöhung der Kraftstoffsteuer, die der Öffentlichkeit teilweise als Umweltmaßnahme auferlegt werden sollte. Die Größe und Intensität der ersten Demonstrationen, die dezentral über die sozialen Medien geplant wurden und an denen sich Hunderttausende in ganz Frankreich beteiligten, sowie die von Präsident Emmanuel Macron in der Folge angeordnete gewaltsame Repression durch die Polizei versetzte die Nation in einen Schockzustand.

Die Proteste waren fast von Beginn an sehr breit angelegt und zuweilen widersprüchlich, wodurch sich eine Verortung der Gelbwesten im traditionellen linken oder rechten politischen Spektrum als schwierig erwies. Den gemeinsamen Nenner bildete der verbreitete Missmut über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kombination mit einer instinktiven Ablehnung der Regierung und ihres ungestümen jungen Präsidenten.

Verfügbaren Umfragen zufolge stimmte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 lediglich eine einstellige Zahl der deklarierten Gelbwesten für Macron. Zwei Jahre später, bei den letzten EU-Wahlen am 26. Mai, sprach sich ebenfalls nur eine verschwindend geringe Anzahl ihrer Anhänger*innen für die Partei von Macron La République en Marche aus.

In diesen Wahlen konnte jede der beiden Listen, die der Gelbwestenbewegung zugeordnet wurden, weniger als 0,5  auf sich vereinen. Die Mehrheit der Gelbwesten enthielt sich oder gab leere Stimmzettel ab, während diejenigen, die sich aktiv an den Wahlen beteiligten, vorwiegend die rechtsextreme Partei Front National von Marine Le Pen (kürzlich umbenannt in Rassemblement National) wählten. Obwohl dieses Ergebnis zum Teil in der auf mehrere Listen zersplitterten Linken begründet liegt, die sich auf der öffentlichen Bühne nicht durchsetzen konnte, war die Bilanz sicherlich beunruhigend.

Eine Studie mit dem Titel „Ideologische Spaltungen innerhalb der Gelbwestenbewegung“, die von dem Forschungskollektiv „Quantité  Critique“ erstellt und von der Rosa Luxemburg Stiftung, Büro Brüssel, im Mai 2019 veröffentlicht wurde, schloss mit der Aussage, dass sich die „Fähigkeit der Gelbwesten, ihre Einheit zu wahren und der Versuchung der Wahl von Marine Le Pen zu widerstehen, [...] zweifelsohne bei dieser Gelegenheit [EU-Wahlen] zeigen“ würde.  Diese Hypothese scheint sich auf den ersten Blick nicht bewahrheitet zu haben.

Bedeutet dies aber, dass der Aufstand der Gelbwesten, der letztlich als Protest gegen eine CO2-Steuer begann, grundlegend dem rechten Flügel zuzuordnen ist, oder sind die Gelbwesten dabei, eine Rechtskurve im Verkehrskreisel einzuschlagen?

Der Versuch einer Bestandsaufnahme

Mit der Studie „Ideologische Spaltungen“ und einer zweiten Studie unter der Leitung von Quantité Critique, die im Juni 2019 unter dem aufschlussreichen Titel „Der Kern der Gelbwesten verweigert sich dem Rechtsextremismus erschien, stehen uns äußerst umfassende aktuelle Umfragen zur Verfügung, anhand derer wir versuchen werden, die Gelbwesten näher zu beleuchten.

Zunächst ist festzustellen, dass Arbeiter*innen und Angestellte zwei Drittel der befragten Teilnehmenden an den Gelbwestenprotesten ausmachen, während fast drei Viertel der Arbeiterklasse zugeordnet werden können. Noch aussagekräftiger ist die Feststellung, dass 90 Prozent der Teilnehmer*innen erklären, dass sie manchmal Mühe haben, über die Runden zu kommen, während 62,7 Prozent angeben, dass ihnen von ihren Einkünften in keinem Monat etwas übrig bleibt.

Während die gilets jaunes in vielen Kommentaren beiläufig als ländliches Phänomen bezeichnet wurden, weist Quantité Critique auf Forschungsergebnisse hin, denen zufolge lediglich 36 Prozent der Teilnehmer*innen in ländlichen Gebieten leben, die Mehrheit jedoch in Städten und vor allem in Vororten größerer Städte wohnhaft ist. Selbst die auf der Fahrzeugnutzung basierende Symbolik der Bewegung kann sich als irreführend erweisen. So zeigen einige Studien, dass nicht die auf dem Lande lebenden Arbeiter*innen, sondern diejenigen, die die Pariser Vororte bewohnen, in der Regel die meisten Minuten für tägliche Autofahrten angeben.

Wie die Studie abschließend feststellt, handelt es sich bei der Gelbwestenbewegung nicht um vorwiegend zu kurz gekommene Landbewohner, sondern um eine landesweite Mobilisierung von benachteiligten Bürgerinnen und Bürgern. Die einzigartige Tatsache, dass die Gelbwesten zu den erwerbstätigen Armen oder den Menschen, die knapp oberhalb der Armutsgrenze leben, gehören, beschreibt die Bewegung besser als jedes andere Faktum.

Ebenfalls sehr bezeichnend für die Teilnehmenden an den Gelbwestenprotesten ist ihr Widerstand gegen ideologische Etiketten. Rund 70 Prozent verorten sich weder im linken noch im rechten politischen Spektrum oder lehnen es ab, die Frage darauf zu beantworten. Lediglich 15 Prozent beschreiben sich als politisch links, 12 Prozent als dem rechten Lager  und etwas mehr als 3 Prozent der politischen Mitte zugehörig.

Eine Betrachtung von zwei Themenbereichen, in denen die Gelbwesten der gängigen Meinung nach rechtsgerichtete Positionen vertreten, liefert weitere interessante Ergebnisse. Die Immigration wird selten als Hauptthema der Bewegung genannt und taucht ebenso wenig in Werbematerial der Bewegung oder öffentlichen Debatten auf, an denen ihre Sprecher teilnehmen. Dagegen stimmen mehr als 82 Prozent der Befragten zumindest teilweise der Aussage zu: „Wenn die Entwicklung der Dinge weiter so voranschreitet, stehen wir bald vor einer großen Umweltkatastrophe.“

Entgegen dem, was von einer Bewegung zu erwarten sein könnte, die sich nach eigenen Aussagen keiner Ideologie verschreibt, sich bei Wahlen jedoch (wenn auch nur als Pluralität) für das rechte politische Spektrum ausspricht, kommt die Studie zu dem Schluss, dass ihre Forderungen weiterhin entschlossen auf „Steuergerechtigkeit, die Neuverteilung des Reichtums durch die öffentliche Hand und die Demokratisierung der Institutionen über das Referendum per Volksinitiative“ ausgerichtet sind, „Forderungen, die eher dem linken politischen Spektrum zuzuordnen sind.“

Eine Bewegung also, die sich nicht ideologisch verortet, ihre Stimme aber den Rechtsextremen gibt und linke Forderungen stellt? Können aus diesen Sachverhalten überhaupt irgendwelche Schlüsse gezogen werden?

Die Sache ist ... komplex

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass soziale Bewegungen um bestimmte Themen kreisen, und sie werden danach beurteilt, was sie in Bezug auf einzelne Punkte erreichen. So stellt der Chor der Skeptiker häufig Fragen wie Was fordern sie konkret? und Was haben sie überhaupt bewirkt? Diese Tendenz ist in einer Zeit umso ausgeprägter, in der die nicht gewinnorientierte Interessenvertretung und themenbezogene NGOs inmitten des generellen Rückgangs von Massenorganisationen an Bedeutung gewinnen.

In ihrem bahnbrechenden Werk Poor People‘s Movements: Why They Succeed, How They Fail liefern Frances Fox Piven und Richard Cloward ein überzeugendes Argument für eine andere Lesart der sozialen Bewegungen. Die Autoren verweisen auf die lange Tradition der Bewegungen armer Menschen, welche sich basierend auf dem verallgemeinerten Gefühl, dass keine andere Lösung verfügbar ist, als diffuse Aktionen des Widerstands gegen ein bestehendes Gesamtsystem manifestieren. Mehr als nur Bewegungen, wie wir häufig konditioniert sind zu denken, handelt es sich dabei um Aufstände ganzer Menschengruppen, die sich nicht mehr damit zufrieden geben wollen, dass ihre Beschwerden ad acta gelegt werden und in irgendwelchen Schränken verstauben.

Der Aufstand der Gelbwesten ist in erster Linie eine Bewegung der französischen Arbeiterklasse, die in einem damit verbundenen ideologischen Chaos „Business as usual“ offen ablehnt. Angesichts des breiteren Rechtsdrucks, der nicht nur in der französischen Politiklandschaft, sondern in Ländern weltweit zu spüren ist, schließt dieses Sammelsurium verständlicherweise auch Menschen mit ein, die sich im rechten Spektrum verorten. In dieser Gruppe befinden sich zudem Rechtswähler, für die Marine Le Pen de facto die Stimme der Opposition in Frankreich ist. Sowohl Le Pen als auch Macron haben alles daran gesetzt, ein Bewusstsein für diese Vorstellung zu bilden, welche die Schwäche des linken Flügels weiter verfestigt hat.

Aufbauend auf diesen Tatsachen kann ein tieferes Verständnis für die Gelbwesten im aktuellen Umfeld entwickelt werden. Sie lehnen die gegenwärtige Situation in Frankreich ab, und da keine glaubwürdige progressive Alternative vorhanden ist, wird ein Teil ihrer Anhängerschaft politische Parteien unterstützen, die sich gegen den Status quo aussprechen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Mehrheit der Gelbwesten bei jeder der beiden letzten wichtigen Wahlen entweder leere Stimmen abgegeben oder sich ganz der Stimme enthalten hat. Dies war die eigentliche mehrheitliche Botschaft der Bewegung, nämlich dass sie sich mit der Politik des Landes insgesamt nicht mehr identifizieren kann. In diesem Sinne besteht die weitere Rolle der Gelbwesten unter den aktuellen Umständen darin, an den Verkehrskreiseln Präsenz zu zeigen. Ungewiss ist jedoch die Richtung, die sie einschlagen werden.

In welche Richtung des Verkehrskreisels?

Der wichtigste Beitrag, den Piven und Cloward leisteten, ist neben ihrer Beobachtung der Bewegungen armer Menschen die daraus abgeleitete beweisende Tatsache, dass diese Form des Protestes für eine ganze Gruppe von Menschen, die vom politischen Prozess ausgeschlossen sind, de facto die effektivste sein könnte.

Die rechtsrepublikanische Regierung unter Nicolas Sarkozy erhöhte deutlich den Druck auf die französische Arbeiterklasse, während die Regierung der sogenannten sozialistischen Partei unter der Führung von François Hollande ihr anschließend in den Rücken fiel. Der amtierende Präsident, dessen Thema im Wahlkampf der Wandel war, der jedoch in weiten Teilen die Politik seiner Vorgänger zum Nachteil derselben Personengruppe fortführt, erklärt nun, dass diese Gruppe mehr für die Schäden zahlen muss, die ihr zugefügt werden. Welche andere Reaktion ist angesichts eines solchen Vorgehens noch möglich? Wenn nur endlich die Linken einen Beitrag zu dieser Debatte leisten könnten ...

2017 fand sich eine breite Anhängerschaft des linken Flügels um Jean-Luc Mélenchons und seine Partei La France Insoumise zusammen, die es mit zwei Prozentpunkten hinter Le Pen nicht in die Stichwahl gegen Macron schaffte. Die ohnehin fragile und angeschlagene linke Front wurde durch diese Niederlage indessen vollständig lahm gelegt. Seitdem ist die Möglichkeit eines gemeinsamen politischen Projekts aufgrund einer Kombination aus internen Machtkämpfen, Fehleinschätzungen der politischen Führung, strukturellen Mängeln und reiner Politikmüdigkeit nicht mehr gegeben. In ihrer zersplitterten und inkohärenten Form wird die breitere Linke derzeit von den beiden schwarzen Sternen am Horizont Macron und Le Pen überschattet.

Ein Hoffnungsschimmer bei den Wahlen 2019  waren somit nicht die traditionellen Linksparteien, sondern die französischen Grünen im EU-Parlament Europe Écologie Les Verts, die 13,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinten. Die anfänglich gehegte Vermutung, dass die Grünen eine neue linke Opposition aufbauen könnten, haben sich bisher jedoch nicht bewahrheitet. Stattdessen nähert sich die Partei der politischen Mitte rund um das Thema Marktreformen an, worüber jedoch weiterhin Unklarheit herrscht. Ungewiss ist auch der politische Kurs der vielen Menschen, die sich seit Kurzem politisch engagieren und grün wählten, um alles Notwendige für eine Trendwende in unserer aktuellen Klimakrise zu tun.

Die französische Linke muss sich in einer Art wieder zusammenfinden, die gegenseitiges Zuhören und die Unterstützung der überzeugendsten Vertreter möglich macht. Gleichzeitig muss sie kategorisch die schlimmsten Neigungen ablehnen, die im Gemenge der Gelbwestenbewegung vertreten werden. Eine erneuerte französische Linke würde die Notwendigkeit der Zusammenarbeit anerkennen, um inmitten ihrer verschiedenen Neigungen einen dritten politischen Pol zu schaffen, der Wähler*innen überzeugen kann. Sie sollte ein eindeutiges Programm festlegen, das auf die Erhöhung der Einkommens- und Vermögensgleichheit und die Bewältigung des Klimawandels und andere soziale Fragen ausgerichtet ist, dessen Kosten vorwiegend von Konzernen und wohlhabenden Eliten zu tragen sind.

Es ist damit zu rechnen, dass die Bewegung der Gelbwesten im Herbst teilweise wieder in Schwung kommt. Wie aber sieht es mit den härteren Wintermonaten aus? Ich erinnere mich gut an den Einfluss der kalten Jahreszeit auf die Auflösung der Lager der Protestbewegung Occupy Wall Street in Nordamerika, die wie die Gelbwesten unter dem doppelten Druck der starken polizeilichen Repression und ihrer eigenen ideologischen Heterogenität ins Wanken geriet. Gleichzeitig bin ich aber überzeugt davon, dass die aktuelle Erneuerung des US-amerikanischen linken Spektrums - von Black Lives Matter über Bernie Sanders bis hin zu den Democratic Socialists of America - ohne die Breschen nicht möglich gewesen wäre, die die Occupy Wall Street geschlagen hatte.

Die gilets jaunes haben sich in gleicher Weise zu Wort gemeldet und neue Anliegen in den politischen Diskurs für diejenigen eingebracht, die sie hören wollen. Und ihre Stimme wird, in der einen oder anderen Form, mit all ihrer Inkohärenz, Lebensweisheit und Unmittelbarkeit, erneut zu hören sein. Welche Richtung sie im Verkehrskreisel einschlagen werden – ob nach links oder rechts, zu einem besseren Ort oder zurück zu ihrem Ausgangspunkt –, wird von konkreten politischen Projekten abhängen, die konzeptuell auf die arbeitende Bevölkerung Frankreichs ausgerichtet sein müssen, um diese zu reflektieren, einzubeziehen und für sie von Nutzen zu sein.