Expert*innenratschlag zur Transformation der europäischen Automobilindustrie

Gewerkschaften, Wissenschaft und Politikexpert*innen treffen sich bei der RLS Brüssel

27.11.2019
Janna Aljets

Am 26. September 2019 lud die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel erstmalig zu einer großen Expert*innenrunde ein, um über die Transformation der europäischen Automobilindustrie zu diskutieren.

Die europäische Automobilindustrie steht aus verschiedenen Gründen unter Druck: Zunächst einmal erreicht das Geschäftsmodell der Massenproduktion von Autos mit Verbrennungsmotoren seine ökologischen Grenzen. Ressourcen werden knapp, CO2-Emissionen müssen gerade im Verkehrssektor stark sinken und die Luftverschmutzung durch den motorisierten Individualverkehr ist in allen europäischen Ballungsgebieten ein zunehmendes Problem. Zweitens sieht sich die einst führende europäische Industrie mit verstärkter Konkurrenz aus den USA und China konfrontiert.

Neueste technische Entwicklungen wie die Einführung neuer Antriebe wurden von europäischen Autoherstellern bisher versäumt und die Vorsprünge sind kaum noch aufzuholen. Nicht zuletzt bringt die Digitalisierung nicht nur neue Produktions- und Arbeitsweisen mit sich, sondern auch völlig neue Autos, die vernetzter und autonomer funktionieren. Nicht zuletzt steht die große Frage im Raum, wie Verkehr zukünftig angesichts von Klimakrise, verstopften Städten und höheren Mobilitätsbedürfnissen gestaltet werden kann. Gerade in urbanen Zentren kann die normalisierte Fortbewegung in privaten Autos mit Verbrennungsmotoren, die außerdem immer größer und schwerer werden, hier nicht mehr zielführend sein. Aus all diesen Gründen steht also das gesamte Produktionsmodell der Autoindustrie in Frage, welches jahrzehntelang das Rückgrat der kapitalistischen Exportökonomie darstellte. So hängt die gesamte europäische Volkswirtschaft von einem letztlich nicht mehr nachhaltigen Industriemodell ab und gefährdet damit rund 3,5 Millionen Beschäftigte in ganz Europa. Wie kann also eine industrielle Transformation gestaltet werden, die nicht auf Kosten dieser Beschäftigen geht und dennoch den dringend notwendigen ökologischen Umbau zügig umsetzt?

Der Expert*innenratschlag setzte genau an dieser Frage an und wollte diese Probleme produktiv und konstruktiv mit knapp 35 Gewerkschafter*innen, Wissenschaftler*innen und Politikexpert*innen aus 12 Ländern diskutieren. Gemeinsam sollten die grundsätzlichen Konfliktlinien herausgearbeitet werden um aus diesen heraus progressive Strategien für linke Akteure in Europa zu entwickeln. Die RLS hat mit diesem Treffen zudem ihren neuen Schwerpunkt öffentlich gesetzt. Aus dem Expert*innenkreis soll ein länger arbeitendes Netzwerk entstehen.

Transformationsdruck auf die Automobilindustrie

In einer ersten Diskussionsrunde wurden zunächst kurze Inputs gehört, die die verschiedenen Herausforderungen, vor der die Automobilindustrie steht, im Detail beleuchtete. So wurde betont, dass der Transformationsdruck schon jetzt sehr stark auf den Schultern der Beschäftigen lastet und viele in der Zuliefererindustrie ohne ein technologisches Upgrade sehr abhängig von OEMs bleiben, die die großen Trends diktieren. Zudem wurde auch der anstehende Umbau auf Elektromotoren kritisch diskutiert, da deren ökologische Zielsetzung sowie die Sozialverträglichkeit in Bezug auf Jobverluste fraglich sind. Nach Angaben von IndustriAll könnten 600.000 Jobs bedroht sein. Nichtsdestotrotz gebe es zurzeit keine Alternativen, um Autos schnellstmöglich ökologischer zu produzieren. Viele der Gäste sahen das Management der Konzerne in einer starken Verantwortung, denn diese hätten einen Wandel bisher verschlafen und durch den Dieselskandal Glaubwürdigkeit verloren.

In der anschließenden Diskussion wurden aber zunächst auch Chancen betont, die in einer größeren industriellen Konversion liegen könnten. So ist die Automobilindustrie, insbesondere die deutsche, zu einem ausgeprägt mächtigen politischen Akteur geworden, der zahlreiche demokratische Entscheidungsprozesse auf europäischer und nationaler Ebene nach ihren Gunsten beeinflusst. Diese undemokratische Regulierungs- und Gestaltungsmacht müsse auch gebrochen werden. Darüber hinaus könnte eine stärkere De-Globalisierung als Folge von einer industriellen Konversion neue Märkte und eine integrative Industrie mit besseren Arbeitsbedingungen entstehen lassen. Eine weitere Idee einer industriellen Konversion könnte darin liegen, die bereits bestehende Autoflotte zu modernisieren statt immer neue Modelle zu bauen. Die Runde schloss mit zwei klaren Anliegen: Erstens müssten Beschäftigte für eine große industrielle Konversion gewonnen werden, um tatsächlich bessere Jobs zu schaffen. Zweitens müsste eine industrielle Konversion Teil einer sozial-ökologischen Transformation des Verkehrssystems sein. Dies sei aber nach Ansicht vieler Expert*innen mehr eine politische, statt eine technische Frage.

Die unterschiedliche Situation in den einzelnen Ländern

In einer zweiten Inputrunde wurde von Expert*innen die Situation einzelner Länder vorgestellt. Diese können hier nur selektiv genannt werden.

Zunächst kamen Länder zu Wort, die von einer starken Zuliefererindustrie geprägt sind. In Österreich sorgen die anstehende Elektrifizierung sowie die Just-in-time-Produktion für Jobängste. Serbien ist in einem besonderen Maße von den deutschen OEMs abhängig und muss sich, trotz schlechter gewerkschaftlicher Organisierung, gegen billigere Konkurrenz aus Ländern wie Nordmazedonien wehren. In Slowenien ist die Automobilindustrie der wichtigste Pfeiler der nationalen Wirtschaft und es besteht unter den organisierten Arbeiter*innen ein großer Wunsch nach gewerkschaftlicher internationaler Kooperation. In Ungarn sind nicht einmal ein Zehntel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Automatisierung und Digitalisierung sorgen für große Unsicherheiten, denn die bisherige Produktion ist von geringer Wertschöpfung geprägt.

In den Ländern, in denen OEM stärker präsent sind und oftmals auch die technologischen und wirtschaftlichen Zielrichtungen vorgegeben werden, sind die Unsicherheiten unter den Beschäftigten aber nicht geringer. In Deutschland führten der Dieselskandal sowie die neuen EU-Flottengrenzwerte zu intensiven Debatten um zukünftige Mobilitätssysteme und deren Auswirkung auf Beschäftigung. In Spanien ist der Wandel durch einen stetigen Abbau der Produktion bereits spürbar. Hier wird das aber auch als Chance angesehen, wenn der Wandel von den Beschäftigten angeführt wird und sie bessere Jobs mit Unterstützung durch Umschulungen erhalten. In Belgien ist der Organisierungsgrad hoch, auch hier ließ die Produktion stark nach. Das Problem wird von der Gewerkschaft hier in hierarchischen Entscheidungsprozessen in Konzernen gesehen. Aus Frankreich berichteten Gewerkschafter von dem kürzlichen Schließungsprozess der Fabrik in Blanquefort, bei der Tausende Jobs verloren gingen und keinerlei Unterstützung durch die Politik erfolgte.

Wie könnten gerechte Übergänge für die Beschäftigen und die Industrie aussehen?

In einer dritten Runde wurden erste Ansätze einer alternativen Produktion und Beschäftigung diskutiert. Zuvorderst wurde deutlich gemacht, dass die europäische Automobilindustrie vor einem Paradigmenwandel und damit auch das gesamte europäische Wirtschaftsmodell in Frage steht. An vielen Stellen werde das Problem nicht in seiner Größe erkannt, dies sei aber dringend notwendig. Einerseits müsse die Produktion von Autos gedrosselt werden, wofür ein europäischer Strukturplan notwendig sei. Zum anderen brauche es weniger Autos und damit ein grundlegend neues Verkehrssystem. Die dritte industrielle Revolution werde dekarbonisiert und digitalisiert sein – die Gefahr liege darin, dass einzelne Länder abgehängt werden, weshalb regionale De-Industrialisierung vermieden werden müsse. Technologischer, ökologischer, ökonomischer und sozialer Druck könnten über Umschulungen, aber auch Arbeitszeitverkürzungen abgefedert werden.

Auch dürfe dabei aber auch nicht die globale Dimension vergessen werden. Neoliberale Handelspolitik, die die nationalen Wirtschaften verändert, müssen ebenfalls in den Blick genommen werden. Von europäischer und internationaler Ebene wurde gewünscht, dass es mehr Wissenstransfer, Subventionen für einen industriellen Wandel sowie größere Investments in neue Produktionen gebe.

Es herrschte insgesamt viel Zustimmung darüber, dass die Industrie sich schlecht nur „vergrünen“ könne, sie müsste sich stattdessen grundlegend verändern. Gerade weil aber die Klimakrise eine soziale Frage sei, müsste und könnte sie auch von den Arbeiter*innen in den Produktionsstätten und den Gewerkschaften angegangen werden. Hierfür müsse die Produktion auch in staatliche und öffentliche Hand übergehen, auch über Enteignungen im Sinne des Gemeinwohls solle diskutiert werden.

Im Jahr 2020 soll der Expert*innenratschlag fortgeführt werden. Ein Programm vom 26. September findet sich hier.

 

Bei Fragen und Kommentaren zum Expert*innenratschlag wende dich an die zuständige Projektmanagerin Janna Aljets: janna.aljets(at)rosalux(dot)org.