Achtung! Bei diesem Produkt könnte es sich – statistisch gesehen – um einen Service handeln…

Ein Kommentar von Arndt Hopfmann

22.10.2019
Arndt Hopfmann
© WTO/Jay Louvion / CC BY-SA 2.0

Wie die Welthandelsorganisation mittels statistischer Tricks mehr Wachstum entdeckt und ganz nebenbei sperrige Begriffe erfindet – aber trotz Public Forum nicht aus der Krise kommt.

War es im Jahr 2018 noch der e-commerce, auf dem die Wachstumshoffnungen der Welthandelsorganisation (WTO) ruhten, so ist diese Rolle im neuen World Trade Report 2019 (WTR 2019) dem Handel mit Dienstleistungen zugedacht.

Um nun den Bereich möglichst bedeutungsvoll erscheinen zu lassen, wird auf eine bewährte Methode zurückgegriffen: Sein wertmäßiger Umfang wird mittels Veränderung der Statistik möglichst groß dargestellt. Dabei reicht es längst nicht mehr, Aktivitäten, die früher Bestandteil eines Fertigungsprozesses waren, als selbstständige Leistungen zu erfassen, da sie jetzt von einem externen Dienstleister erbracht werden. Das Zeitalter der „Servicification“ (ein kaum sinnvoll ins Deutsche übersetzbarer Begriff) erfordert eine Um- bzw. Neubewertung der statistischen Erfassung von Serviceaktivitäten. Vor allen durch Einbeziehung von Mode-3-Exporten (Ausfuhren an Dienstleistungen, die durch Filialen eines ausländischen Unternehmens in einem Drittland erbracht werden ) wurde so der statistische Ausweis von Dienstleistungsexporten erheblich gesteigert.

Aber auch eine schleichende Uminterpretation dessen, was bisher unter Mode-1 (grenzüberschreitender Handel mit Gütern) fiel, nämlich als Service, trägt dazu bei, den Anteil von Dienstleistungen am gesamten Welthandel zu erhöhen. Denn fast jedes materielle Gut kann auch als Service verstanden werden – Brot ist geeignet eine Leistung zu erbringen, die den Hunger stillt, Schuhe dienen dazu, die Verschmutzung der Füße in Grenzen zu halten und das Gehen angenehmer zu machen und Bücher können auch als Beratungsleistung (Sachbuch) oder als Unterhaltungsservice (Roman), ja auch als Bildungsdienstleistung (Kinderbuch) verstanden werden usw.usf.

Mit dieser neuen Sicht auf die Dinge wird nicht nur das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), das auf Produkte rekurriert, unabhängig davon wie diese hergestellt oder angewandt bzw. konsumiert werden, tendenziell „überwunden“, sondern auch das Allgemeine Abkommen über den Dienstleistungshandel (GATS) aufgewertet und mit Elementen angereichert, die dereinst im Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Trade in Services Agreement – TiSA) festgeschrieben werden sollten. Auf jeden Fall wird durch die Einbeziehung von Leistungen in die Exportstatistik, die im Ausland möglicherweise ausschließlich von dort beheimateten Arbeitskräften  erbracht werden, der Geldwert der weltweit gehandelten Serviceleistungen auf 13,3 Billionen US-Dollar (2017) erhöht, was einer Steigerung um 20 Prozent gegenüber der bisherigen statistischen Erfassungsmethode entspricht. Daraus wird dann unter Verweis auf das Global Trade Model der WTO geschlossen, das der Anteil von Dienstleistungen am gesamten Welthandel bis 2040 auf 50 Prozent steigen wird. Damit scheint – zumindest statistisch – das weitere Wachstum des Welthandels gesichert. Und genau auf diese optische Täuschung kommt es angesichts zurückgehender Handelsumsätze infolge der Eskalation von Handelsstreitigkeiten und nationalen Egoismen auch an, weil sie allen Widrigkeiten zum Trotz als Ausweis für das erfolgreiche Funktionieren der WTO herhalten muss.

Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde der neue WTR wie alle Jahre wieder auf dem Public Forum, einer Großveranstaltung, die von der WTO als ihre wichtigste Form des Dialogs von Handelsexpert*innen mit der Zivilgesellschaft, mit Unternehmern, Akademiker*innen und Medienvertreter*innen gepriesen wird. Auf ca. 140 Einzelveranstaltungen präsentierten 2019 eine Vielzahl von Organisationen – NGOs, Handelskammern, Universitäten Unternehmerverbände etc. – verschiedenste Themen oder versuchen ihre Kritik an der Arbeit der WTO und ihrer Freihandelsbesessenheit in die Öffentlichkeit, aber insbesondere an WTO-Funktionäre, heranzutragen.

Dies jedoch erweist sich zunehmend nicht nur als mühsam, sondern auch als erfolglos. Denn das Public Forum ist längst in zwei Megaveranstaltungen unter einem Dach, dem des malerisch am Ufer des Genfer Sees gelegenen WTO-Hauptquartiers, zerfallen. Und so ziehen die Vertreter*innen einer ganzen Reihe von freihandelskritischen Organisationen von einer Veranstaltung zur nächsten, wo sie wieder auf alt-bekannte Aktivist*innen treffen und wieder gemeinsam darüber klagen, dass die WTO keine globale Entwicklungsorganisation ist. Die Repäsentant*innen der WTO und ihre Strategieexpert*innen treffen sich derweil in anderen Arbeitsgruppen. Auch sie bleiben unter sich und überlegen angestrengt, wie sie die WTO gegen ihre Gegner*innen – nicht nur aus der Zivilgesellschaft, sondern zunehmend auch gegen autokratische Handelskrieger – am besten verteidigen; wobei ihnen, ganz im Sinne der Zweckbestimmung der WTO als weltwirtschaftliche Liberalisierungsagentur, kaum mehr einfällt als der Versuch, eine einzige neue Regel durchzusetzen, nämlich die, dass es möglichst keine neuen Reglungen mehr geben darf; am wenigsten solche, die die Handlungsspielräume von Regierungen im Rahmen einer nationalen Wirtschaftsinteressen dienenden Politik erweitern.

Die möglichst weitgehende Deregulierung ist in Zeiten grassierender handelspolitischer Konflikte ein wesentlicher, neben der Simulation fortwährenden Wachstums (mithilfe aller nur erdenklichen, auch statistischen, Tricks) der wichtigste Erfolgsmaßstab und der (vermeintliche) Nachweis der WTO-Daseinsberechtigung.

Das allein wird jedoch nicht genügen, die existentielle Krise der WTO zu überwinden, denn es droht bereits die Eskalation eines weiteren Großkonflikts wegen der Forderungen der Trump-Administration nach Neubestimmung des Prinzips der besonderen und differenzierten Behandlung (Special & Differential Treatment – S&DT) für Entwicklungsländer, das in den Gründungsdokumenten der WTO festgeschriebenen ist. Wenn es nach den USA geht, verlieren WTO-Länder, die Mitglied in der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) sind bzw. werden wollen oder den G20 angehören oder von der Weltbank als „Hocheinkommensland“ klassifiziert werden oder deren Anteil am Welthandel mindestens 0,5 Prozent beträgt, quasi automatisch den Status eines Entwicklungslandes. Diesem Ansinnen haben bislang nur Südkorea und Singapur freiwillig nachgegeben, während China, Indien, Brasilien Südafrika und etwa 30 weitere betroffene Länder erbitterten Widerstand leisten.

Sollten sich die USA nicht durchsetzen, droht der Austritt aus der WTO, was mit hoher Wahrscheinlichkeit deren „sudden death“ zur Folge hätte.

* Dr. Arndt Hopfmann – arbeitet als Referent für Wirtschafts- und Handelspolitik für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel.