Seltsame Zeiten, mein Liebling.

08.01.2020
Maryam Madjidi
A convoy from the UK brings crucial aid to the Calais "Jungle" Refugee Camp in 2016. French authorities refused to allow the convoy to enter the country, citing a possible "threat to public order".

Ich erfand die Farbe der Vokale!–
A schwarz, E weiß, I rot, O blau, U grün.
– Ich bestimmte Form und Bewegung jedes Konsonanten 
und schmeichelte mir, mit den Rhythmen des Instinkts
eine poetische Sprache zu erfinden, die eines Tages allen 
Sinnen verständlich sein sollte.

~Arthur Rimbaud, „Eine Zeit in der Hölle“

In dieser krummen Gasse, in diesen Windungen der Kälte
entfachen sie das Feuer

mit Gedichten und Liedern als Brennmaterial
riskiere nicht das Nachdenken,
Seltsame Zeiten, mein Liebling.

~Ahmad Shamlou, „In dieser Sackgasse“

„Seltsame Zeiten, mein Liebling.“

Dieser Vers ist der erste eines Gedichts, das der bedeutende iranische Dichter Ahmad Shamlou im Juli 1979 einige Monate nach der Errichtung der islamischen Republik im Iran schrieb.

Die misslungene Revolution verwandelte das Land für die iranische Bevölkerung in ein noch größeres Gefängnis. In einen Alptraum, der Hunderttausende ins Exil trieb.

Ahmad Shamlou verließ uns im Jahr 2000, zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Dieser Vers, der vor 40 Jahren in einer anderen Sprache, einem anderen Land, einem anderen, von Frankreich weit entfernten Kontext geschrieben wurde, halt heute tief in meiner Seele wider.

Ich lebe seit 1986 in Frankreich. Als ich sechs Jahre alt war, beschlossen meine Eltern, in ein Land auszuwandern, das sie das „Land der Menschenrechte“ nannten. Ein Land, das uns schützen und unsere Grundrechte garantieren würde, die im eigenen Land mit Füßen getreten wurden.

Ich fragte meine Eltern als Jugendliche, warum sie sich für Frankreich entschieden hatten. Meine Mutter antwortete mir: wegen Simone de Beauvoir. Die Antwort meines Vaters lautete: für die Philosophen der Aufklärung.

Heute, im Alter von 39 Jahren, erkenne ich dieses Land nicht wieder, das uns seine Grenzen geöffnet und uns Schutz, Aufnahme und Zuflucht gewährte.

Die Situation im Jahr 1986 war eine andere, wird man mir sagen. Die Welt war nicht dieselbe. Frankreich war nicht das, was es heute ist.

Seltsame Zeiten, Freund Shamlou.

Auch du würdest dieses Land, dieses Europa, diese Welt und deine Mitmenschen nicht wiedererkennen.

Frankreich und Europa scheinen von einer alten Krankheit heimgesucht zu sein, einer alten und hartnäckigen Krankheit, die ich Ultranationalismus, Rechtsextremismus, Abschottung in die eigene Kultur und hemmungslosen Rassismus nenne. Sie alle gedeihen auf dem Nährboden der Unwissenheit und der menschlichen Dummheit.

Die Ausländerin, die ich ursprünglich ohne ein Wort Französisch zu sprechen in diesem Land war, wurde allmählich französisch, europäisch, verliebte sich in die französische Sprache und Literatur, schrieb in dieser Sprache, entdeckte die Welt in dieser Sprache, diesem unermesslichen Schatz, der meine einzige Heimat ist.

Seltsame Zeiten, meine Schwestern und Brüder im Exil. 

Heute zeigt man mit Fingern auf euch, ihr, die ihr bis zu uns gelaufen seid, die ihr den Tod für ein würdiges und freies Leben riskiert habe, die ihr keine anderen Ambitionen als die Hoffnung auf ein besseres Leben habt. Unabhängig davon, ob ihr wirtschaftliche, politische oder Klimaflüchtlinge seid, ihr dient für alle Übel und Nöte Europas als neue Sündenböcke.

Ihr seid verdächtig, dubios, gefährlich und ich leide mit euch, denn ihr haltet uns einen Spiegel vor, in dem wir uns für uns selbst schämen müssen.

Am 7. Oktober fand im französischen Parlament eine Debatte zum Thema Einwanderung statt. Merkwürdige Bezeichnung, eine „Debatte“ über Einwanderung. So als ob Immigration ein Thema der Rhetorik wäre, das wir befürworten oder ablehnen könnten. Sind Sie für oder gegen die Missstände in der Welt? Sind Sie für oder gegen Krieg? Sind Sie für oder gegen die Verfolgung von Menschen durch andere? Sind Sie für oder dagegen, dass eine Person medizinische Versorgung benötigt? Sind Sie für oder dagegen, dass sich ein Mensch bessere Lebensumstände, einen höheren Lohn, eine verbesserte Rente wünscht?

Es liegt indessen klar auf der Hand, dass es sich hierbei nicht um eine Debatte handeln konnte, sondern um den ewigen Ohrwurm, den die Regierung bis zum Überdruss wiederholt, wenn sie von den echten Problemen, die dieses Land entkräften, ablenken und sich ihnen nicht stellen will.  Eine „Debatte“ über Einwanderung anstelle einer echten Diskussion und konkreter Maßnahmen zur Rettung von Krankenhäusern, Schulen, Renten, zur Bekämpfung des Anstiegs der Obdachlosen, der Studentenarmut, der Femizide? Nein, natürlich nicht, denn es ist so viel einfacher und strategisch vorteilhafter, die Probleme auf Einwanderer*innen, Migrant*innen ohne Papiere, Asylbewerber*innen, auf all diejenigen abzuwälzen, die zu uns kommen, weil ihnen in ihren Ländern Arbeit, medizinische Hilfe und Schutz fehlen.

Der Sündenbock trägt die Schuld, er ist der Feind.

Seltsame Zeiten, mein Liebling. 

Wir verlängern heute die Frist, nach der Asylsuchende ärztliche Versorgung erhalten. Wir schieben sie in der Hoffnung hinaus, die medizinische Hilfe nie bewilligen zu müssen. Es ist eine Schande! Wie man uns sagt, werden Schwindler, Betrüger, Profitgeiger, unehrliche Menschen zu uns kommen, um sich hier – während eines reizenden Aufenthalts – im Rahmen des „Medizintourismus“, wie die Regierung dies nennt, medizinisch behandeln zu lassen.

Die Gesundheitsministerin sucht den Fehler bei Menschen aus Georgien und Albanien. Morgen wird die Regierung auf andere Nationalitäten, andere Herkunftsländer, andere Staaten mit dem Finger zeigen, und die Liste wird sich verlängern, wird sich erweitern und immer ausgrenzender werden.

Die französische medizinische Versorgung muss man sich verdienen. Um in ihren Genuss zu kommen, müssen Sie dem Tod ganz nahe sein, denn die Notfallversorgung wird stets vor diesem letzten großen Termin gewährt. Das ist ein schwacher Trost, denn es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien der jeweilige Notfall beurteilt wird.

Abgewiesenen Asylsuchenden wird der Krankenversicherungsschutz anstatt zwölf nur noch sechs weitere Monate gewährt.

Wie ist diese Maßnahme zu verstehen? Handelt es sich dabei um ein Beispiel für die „Standhaftigkeit“, von der der Präsident sprach? „Standhaftigkeit“ und „Effizienz“ sind in aller ministeriellen Munde und blenden einen anderen Begriff aus, den der Menschlichkeit.

Meine im Iran lebende Großmutter ist an Epilepsie erkrankt. Sie muss Medikamente einnehmen. Infolge des Embargos, das auch gegen den Gesundheitssektor in diesem Land verhängt ist, sind die Arzneimittel nicht mehr erhältlich.

Das Embargo wurde von der Regierung Trump, gefolgt von den Ländern der Europäischen Union, einschließlich Frankreich, entschieden. Ursprünglich sollte der Gesundheitssektor verschont bleiben, was heute jedoch nicht mehr der Fall ist.

Die Iranerinnen und Iraner, die seit über 40 Jahren eine freiheitsbedrohende Regierung ertragen, werden nun auch durch die Folgen dieses Embargos, das von den angeblichen Menschenrechtsverteidigern im Ausland durchgesetzt wurde, in Mitleidenschaft gezogen.

Will man ganzen Völkern weltweit in aller Stille und unter strikter Wahrung der diplomatischen Beziehungen einen Tod auf Raten bereiten?

Stellen wir uns einmal vor, meine Großmutter käme nach Frankreich, um ihr Leben zu retten, da sie im Iran aufgrund fehlender Medikamente sterben könnte. Würde sie damit das Gesundheitssystem betrügen? Wird man ihr vorwerfen, dass sie ein System ausnutzt, dass sie Medizintourismus betreibt? Der Iran ist schließlich genau wie Afghanistan ein „sicheres Land“. Wie Sie sich sicherlich erinnern, wurden die afghanischen Flüchtlinge vor einigen Monaten in ihr Land zurückgeschickt, da es sich ab sofort angeblich um ein „sicheres Land“ handelt.

Seltsame Zeiten, mein Liebling. 

Es geht bei diesem Kampf ums Überleben. Die Welt spaltet sich in diejenigen auf, die um Hilfe bitten, und diejenigen, die ihre Hilfe verweigern.

In diesem Sinne werden die Empfänger*innen der staatlichen medizinischen Versorgung in den ersten neun Monaten nicht mehr in den Genuss der so genannten „nicht dringenden“ medizinischen Behandlung kommen können. Eine kleinliche Krämerrechnung, die mich an die 2017 beschlossene Kürzung des Wohngelds um fünf Euro erinnert.

Was ist das Ziel solcher Berechnungen und Einschränkungen, einer solchen Pedanterie, die nur die Ärmsten triff? Die Abschaffung der Vermögenssteuer und die fehlende „Standhaftigkeit“ und „Effizienz“ beim Kampf gegen Steuerhinterziehung hat die Wut der Französinnen und Franzosen, die fast sechs Monate auf die Straße gingen, zum Explodieren gebracht.

Neben den anderen, von der Regierung geplanten Maßnahmen findet sich die Eröffnung von drei neuen Abschiebehaftanstalten mit hohen Aufnahmekapazitäten, um „die Verbringung aus dem Lande zahlenmäßig zu verbessern“. Es werden also Frauen, Kinder, Männer in immer größerer Anzahl und effizienter organisiert des Landes verwiesen.

Wenn es darum geht, riesige Summen auszugeben, um die Einwanderung zu bekämpfen, sichtbare und unsichtbare Mauern zu Land und zu Wasser zu bauen, die Kassen Libyens oder der Türkei zu füllen, um die „Migranten“ immer weiter zurückzudrängen, fehlt es nie an den erforderlichen Mitteln. Geht es jedoch um medizinische Versorgung, Beihilfen, ein bisschen Solidarität, ein Stückchen Menschlichkeit, wird uns der Eindruck vermittelt, dass die Staatskassen leer sind und dass Betrüger überall herumstreunen und versuchen, unser schönes Versorgungs- und Schutzsystem zunichte zu machen.

Wer sind aber die eigentlichen Betrüger? Es sind diejenigen, die an der Spitze der größten multinationalen Unternehmen stehen und stets jedwede Maßnahme treffen, um ihre Steuern nicht zahlen zu müssen und zwar mit Unterstützung der Regierung, die Regierung unterstützend, Hand in Hand, vereint fürs Leben.

Wie lange noch werden wir uns im Ziel täuschen und die Falschen für den Feind halten?

Seltsame Zeiten, mein Liebling.

Die Botschaft ist weder komisch noch zweideutig. Sie liegt in ihrer ganzen Traurigkeit klar auf der Hand: Frankreich ist nicht mehr das Aufnahmeland, an das einige gerne glauben möchten. Europa schließt insgesamt seine Grenzen, schottet sich nach außen ab und wird bald an dem drastischen Anstieg seiner rechtsextremen Parteien ersticken. Wir alle wissen das. Wir beobachten es jeden Tag neu.

Was also soll ich auf diesem Kontinent tun? Was wird aus mir in diesem Land? Ich, die ich meinen Verstand nach dem Humanismus von Montaigne und Rabelais geformt habe?

Wie kann ich mich in diesen kapitalistischen, entmenschlichenden, den Mensch zerstörenden Werten wiedererkennen?

Seltsame Zeiten, mein Liebling.

In drei Jahren von 2015 bis 2017 wurde 78.000 Personen in Frankreich Asyl gewährt, was 0,1 Prozent der französischen Bevölkerung entspricht.

Auf europäischer Ebene beläuft sich dieser Wert auf 0,2 Prozent der in den Ländern der Europäischen Union lebenden Bevölkerung.

Ist das die Invasion, von der die meisten europäischen Regierungen sprechen? Was für eine beschämende Lüge, uns davon überzeugen zu wollen, dass unsere Länder von Flüchtlingen überschwemmt werden. Ziel ist es dabei, Angst in den von Unwissenheit geprägten Ländern zu säen und ihre Menschlichkeit abzutöten, um aus ihren Einwohner*innen unmenschliche Wesen zu machen, die jedes Gesetz befolgen und jede Lüge, jede Propaganda schlucken.

80 Prozent der Migrantinnen und Migranten weltweit wandern in andere Länder außerhalb der Europäischen Union aus.

Aus der Invasion wurde ein Mythos gemacht, der nun realer als die Wirklichkeit selbst erscheint. Unsere Menschlichkeit gilt nun als ehemaliger Traum, der vor langer Zeit beerdigt wurde. Unsere Solidarität wird als Naivität und überholter Idealismus dargestellt.

Wenn ich von meinen Werten wie gegenseitige Unterstützung spreche, lacht man mir offen ins Gesicht und sagt mir, dass ich aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt stamme.

Seltsame Zeiten, mein Liebling.

Oft habe ich mich gefragt, wer ich bin. Bin ich Iranerin oder Französin? Bin ich beides oder keines von beiden? Heute kann ich mit Sicherheit sagen: Ich bin eine Weltenbürgerin, deren einziger Kompass die Literatur und die Freiheit sind.

Mein Humanismus, dieses wertvolle Erbe der französischen Literatur, findet indessen kein Echo mehr in der Welt, in der ich lebe.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, sich in einem Land als Ausländerin zu fühlen, das mich genährt, ausgebildet und mir Schutz geboten hat.

Seltsame Zeiten, mein Liebling.