Die Grünen Frankreichs und/oder Macron – der Kampf um die politische Mitte

16.12.2019
Pauline Graulle
Climate change protesters march in Paris streets

Fern den Vögeln, Herden, Dörflern
Trank ich, gekauert in Heidekraut

Umgeben von zarten Haselstrauchwäldern
Einem Nachtmittagsnebel, grünlich und lau.

~Arthur Rimbaud, „Eine Zeit in der Hölle“

Die beiden politischen Parteien Europe Écologie-Les Verts (EELV, die Grünen Frankreichs) und La République En Marche (Die Republik in Bewegung!, abgekürzt LREM, die Bewegung von Emmanuel Macron) konkurrieren um Wähler aus der politischen Mitte. Jedoch, während die LREM nach rechts abdriftet, wird die französische Umwelt-Partei bei ihrer Erneuerung durch eine militante Basis „behindert“, die sich politisch vermehrt links verorten will.

Eine Wahl, zwei siegreiche Parteien. Bei den Europawahlen im Mai 2019 konnten zwei Parteien ihre Position in der politischen Landschaft Frankreichs festigen. Trotz der Verstrickung in die Krise der Gelbwesten, welche die längste soziale Bewegung in der Geschichte der Fünften Republik darstellt, gelang es der jungen Partei unter Emmanuel Macron, sich bei dieser ersten Zwischenwahl seit der Präsidentschaftswahl als feste politische Größe zu etablieren. Die LREM erhielt 22,4 Prozent der Stimmen und lag damit nur wenige Punkte hinter der am rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelten Partei Rassemblement National, die wie 2014 die meisten Stimmen auf sich vereinte.

Die Grünen Frankreichs, die man aufgrund ihres finanziellen Ruins und dem Fehlen wichtigster Vorreiter*innen und Kämpfer*innen dem Ende nahe sah – bei den letzten Präsidentschaftswahl konnten sie keine Kandidatin bzw. keinen Kandidaten präsentieren – schnitten ebenfalls überdurchschnittlich gut ab. Neben den fast drei Millionen Stimmen, welche die Grüne Partei Frankreichs auf sich vereinte, gelang ihr ein spektakulärer Durchbruch bei den jungen französischen Wähler*innen: Ein Viertel der 18- bis 24-jährigen wählten grün. Dieses gute Ergebnis katapultierte die EELV am 26. Mai auf den dritten Platz mit 13,5 Prozent der Stimmen, weit vor der linken Partei Frankreichs La France insoumise (Unbeugsames Frankreich, abgekürzt LFI) und dem restlichen linken Flügel. Somit kann die Umwelt-Partei berechtigt darauf hoffen, dass sie sich als „progressive“ Alternative zu dem von Emmanuel Macron vertretenen Neoliberalismus positionieren kann.

Wer gewinnt das Rennen im sozialdemokratischen Lager?

Grüne gegen Anhänger*innen der LREM: Die ersten träumen davon, als ernstzunehmende Gegenkraft bei den Präsidentschaftswahlen 2022 anzutreten. Anstatt jedoch als antagonistische Kräfte zu wirken, erscheinen die LREM und die EELV heute als die zwei Seiten derselben Medaille. Sie haben grundlegend unerwartet viele gemeinsame Schwerpunkte und bemühen sich strategisch um eine ähnliche Wählerschaft, nämlich die der politischen Mitte.

Eine Wählerschaft, die den Wahlerfolg sichert? Angesichts der mehrfach gescheiterten Versuche der auf Initiative von François Bayrou gegründeten Partei Mouvement démocrate (Demokratische Bewegung, abgekürzt MoDem), sich als Zentrumspartei in Frankreich zu etablieren, könnte diese Frage begründeter Weise verneint werden. Die Situation ist heute jedoch eine andere. Die Agonie der Sozialdemokratie, die in der vernichtenden Niederlage der Sozialistischen Partei (PS) nach der fünfjährigen Amtszeit von Präsident François Hollande Gestalt annahm, eröffnete einen breiten Freiraum zwischen einer extremistischen Rechten und einem linken Flügel, welcher kaum ein Viertel der Wählerschaft ausmacht. Indem sich die EELV sowie die LREM (wenngleich mit geringfügigen Unterschieden) in konsensträchtigen Themenbereichen mit einer Mischung aus wirtschaftlichem Liberalismus und gesellschaftlichem Progressivismus profilieren, hoffen die beiden französischen Parteien, dass sie rechts sowie links verortete Wählerinnen und Wähler überzeugen und die für das Präsidentschaftsamt erforderlichen 51 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können.

Dass sie damit Erfolg haben werden, ist bisher jedoch in keiner Weise gewährleistet. Zwischen den gegen die Rentenreform geplanten Streiks, den Protesten, die sich gegen den Abbau des öffentlichen Gesundheitssystems oder die Reform der Arbeitslosenversicherung mehren, weist nichts darauf hin, dass ein „breiteres“ gemäßigtes Wahlangebot in diesen sehr konfliktbeladenen Zeiten, die mehr polarisieren als vereinen, Abnehmerinnen und Abnehmer finden wird.

Der Europawahlkampf hat seinerseits einen Vorgeschmack darauf gegeben, was die Französen*innen in der seit dem „Big Bang“ 2017 fortgesetzten Neugestaltung der politischen Landschaft erwarten könnte. Beide Parteien gaben sich proeuropäisch (und gegenüber den europäischen Institutionen unkritisch) und machten sich in ihrem Streben nach Pragmatismus dafür stark, die bestehende liberale Politik der Europäischen Kommission weitgehend „hinzunehmen“. Zudem formulierten die zwei Parteien das Versprechen, die ehemaligen politischen Spaltungen überwinden zu wollen. Emmanuel Macron präsentierte sich wie bei seiner erfolgreichen Strategie für die Präsidentschaftswahlen wieder als „rechts und links“. Yannick Jadot, der EELV-Spitzenkandidat, befürwortete seinerseits die Autonomie des Paradigmas der politischen Ökologie, das ihm ermöglichte, recht erfolgreich an die politische Linie „weder rechts noch links“ anzuknüpfen, die Antoine Waechter vor dreißig Jahren als Kandidat der Grünen bei den Präsidentschaftswahl 1988 vertrat.

Yannick Jadot gab außerdem offen zu, dass er seine strategische Ausrichtung die der deutschen Grünen-Partei nachempfunden habe, diesen „Realos“, die heute in einigen Bundesländern mit den Rechten und den Liberalen gemeinsam regieren. Diese Inspirationsquelle bewog den Euroabgeordneten, der einst die Kandidatur von Michel Barnier (von der sehr liberalen Europäischen Volkspartei, abgekürzt EPP) für den Vorsitz der Europäischen Kommission unterstützt hatte, zu der Aussage, dass die EELV in der zweiten Runde der Kommunalwahlen 2020 die Wahllisten des rechten politischen Spektrums unterstützen könne. Diesbezüglich erklärte er gegenüber der französischen Zeitschrift Journal du Dimanche am 18. August diesen Jahres:

„Ein Bürgermeister, der Bio-Mahlzeiten in Schulkantinen bevorzugt, sich für den Erhalt von Geschäften im Stadtzentrum einsetzt, Migranten*innen würdevoll aufnimmt und die soziale Mischung unterstützt, ist zu einem Grünen geworden. Unabhängig davon, ob er zuvor der rechtsstehenden Unabhängigen, der LFI bzw. den Sozialisten angehörte oder parteilose, gemäßigte oder kommunistische Standpunkte vertrat. Was zählt ist, dass sich dieser Bürgermeister nun dieser großen Herausforderung stellt und sich für die Werte stark macht, die wir unterstützen. “

Überparteiliche Allianzen und ideologische Bündnisse

Bei ihrer Gründung hatte die LREM mit einer Strategie der überparteilichen Allianz experimentiert: Emmanuel Macron suchte seine Führungskräfte im sozialistischen Lager und ernannte dann, sobald er an der Macht war, einen Premierminister nahe dem rechten Lager unter Alain Juppé, Bürgermeister von Bordeaux und ehemaliger Premierminister von Jacques Chirac. Diese Strategie wurde direkt nach den Europawahlen von der EELV übernommen. Anfang Juli zelebrierten die französischen Grünen einen Schulterschluss mit liberal ausgerichteten Umwelt-Mikroparteien (Corinne Lepages Cap 21 oder Antoine Waechters unabhängige ökologische Bewegung) und verlagerten ihren politischen Schwerpunkt effektiv von links in die politische Mitte.

Auch auf ideologischer Ebene weisen die Parteien EELV und LREM ebenfalls weniger Unterschiede auf, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die beiden Organisationen berufen sich in politischer Hinsicht vollständig oder in Teilen auf die undogmatische Linke (deuxième gauche unter Michel Rocard). Bei Umweltfragen erwies sich die linke Parti Socialiste Unifié (Vereinigte Sozialistische Partei, abgekürzt PSU), welcher der Kandidat der Grünen bei den Präsidentschaftswahlen 1981 Brice Lalonde angehörte, als einer der wichtigsten Inkubatoren. In der LREM wurde der Aufstieg von Emmanuel Macron von zahlreichen früheren politischen Verantwortlichen unterstützt, die Anhänger*innen des sogenannten „Rocardismus“ waren, bezeichnet nach dem früheren sozialistischen Premierminister Michel Rocard unter François Mitterrand. Dieser gemeinsame Einfluss ist zweifellos einer der Gründe für die geteilte Ablehnung des Marxismus; die deutliche Befürwortung der Dezentralisierung (gegenüber einer stark auf den Jakobinismus ausgerichteten „première gauche“); die Betonung der Eigeninitiative (unternehmerisch für die LREM, bürgerlich für die Grünen Frankreichs); die Akzeptanz der Globalisierung (liberale Globalisierung für die LREM, globalisierungskritisch für die Grünen) und die Verteidigung des Föderalismus auf europäischer Ebene. Folglich ist schwierig zu erraten, ob sich kürzlich ein Macronist oder ein Grüner „für die Marktwirtschaft, das freie Unternehmertum und die Innovation“ ausgesprochen hat (es war: Yannick Jadot).

Diese ideologische Nähe macht den Rückzug zahlreicher Kader der Umwelt-Partei nachvollziehbar, die anscheinend ohne große politische Gewissensbisse in den letzten Jahren zur Partei Macrons überwechselten. Dabei kommt als erstes natürlich die – misslungene – „Transplantation“ von Nicolos Hulot oder François de Rugy in den Sinn, die kurzweilig das Amt des Umweltministers in der Regierung von Edouard Philippe bekleideten. Zu nennen sind aber auch Pascal Durand, früherer Generalsekretär der EELV, und Pascal Canfin, ehemaliger Minister von François Hollande, die sich beide kurz vor den Europawahlen mit großem Getöse der Liste der Macron-Anhängerin Nathalie Loiseau anschlossen. In diesem Lager trafen sie auf frühere Mitstreiter des Zweigs „Europe Écologie“ der EELV, an deren Spitze Daniel Cohn-Bendit agiert.

Wie in der Politik ist die Durchlässigkeit zwischen diesen Welten auch bei der Wählerschaft zu beobachten. Bei den Europawahlen beispielsweise warfen 15 Prozent der Personen, die 2017 für den Kandidaten Emmanuel Macron gewählt hatten, einen Wahlzettel für die EELV in die Urne. Die französischen Grünen wollen es jedoch nicht dabei belassen. In der Überzeugung, dass sie 2022 letztlich die „vom Macronismus Enttäuschten“ gewinnen können, möchten sie auch die Anhänger*innen der gemäßigten Linke erreichen, die sich gegen den Stil eines Jean-Luc Mélenchon sträuben, und machen selbst bei den Wähler*innen der sozialen Rechte nicht Halt, welche über das Übermaß an Privatisierung (Pariser Flughafen, französische Lotto-Gesellschaft Française des Jeux) oder den maßlosen Autoritarismus (wie die Repression der Gelbwestenbewegung) der amtierenden Partei erzürnt sind. In einem gemeinsamen Interview mit Robert Habeck, dem Vorsitzenden der Grünen Deutschlands, im Oktober erklärte Yannick Jadot daher mit unvergleichbarer Vorsicht gegenüber Le Monde, dass er EELV „nie als Oppositionspartei“, sondern als eine „Partei der Vorschläge“ erachtet habe.

Derselbe Kampf ums Überleben?

Die LREM und die EELV fechten also denselben Kampf aus? Die Sache scheint komplizierter zu sein. Grund dafür ist insbesondere, dass sich beide Parteien Gegenwinden jeweils aus ihren eigenen Reihen stellen müssen. Für die LREM ist die beschleunigte „Rechtswende“ nicht ohne Risiken, im Rahmen derer die Partei ihre feindliche Übernahme der liberal-konservativen Partei Les Républicains (Die Republikaner, abgekürzt LR) vollenden will. Sie könnte Emmanuel Macron das Vertrauen seines „rechten Flügels“ kosten. Die Einwanderungsdebatte, die von der politischen Mehrheit im Herbst 2019 eröffnet wurde, um von der risikobehafteten Rentenreform abzulenken, sowie die Veröffentlichung eines Interviews mit dem Staatschef im Oktober in der französischen rechtsextremen Wochenzeitschrift Valeurs Actuelles (eine Premiere) dürften eine große Anzahl seiner Wähler*innen, die ehemals dem sozialdemokratischen Spektrum angehörten, schockiert haben.

Die EELV stößt mit ihrem Wechsel zur gemäßigten Mitte ebenfalls auf Widerstände. Im Europawahlkampf kritisierten Anhänger*innen innerhalb und außerhalb der Partei die Äußerungen der Spitzenkandidaten der Umwelt-Partei, die als zu liberal eingestuft wurden. Der Parteitag Ende November zeigte ebenfalls, dass Yannick Jadot seine politische Linie mit den Parteimitgliedern an der Basis abstimmen muss, von denen ein Großteil glaubt, dass sich die Ökologie eindeutig links verorten muss. „Wir wollen den Konsens, nicht die politische Mitte! “, wiederholt immer wieder der neue Generalsekretär Julien Bayou, so als ob er eine Synthese vollbringen wolle. Letzterer war zuvor in den Jugendbewegungen gegen schlechte Wohnverhältnisse Anfang 2000 aktiv.

Auch der ehemalige Generalsekretär David Cormand ist monatelang gegen den Strom der von Jadot vorgegebenen politischen Ausrichtung geschwommen. In einem Interview auf der Website Le Vent Se Lève bestätigte David Cormand, gewissermaßen als Erinnerung für seine eigenen Truppen, dass „es keinen Kompromiss mit dem Kapitalismus geben kann“. Diese Erklärung sollte vermutlich durch das einstimmige Votum der französischen Grünen im Europaparlament gegen die Freihandelsabkommen belegt werden, die sich damit grundlegend von der Politik Macrons entfernen.

Die Grünen Frankreichs haben nun verstanden, dass sie ohne eine gewisse Radikalität den Teil der Jugendlichen, die an den Klimademonstrationen teilnehmen, verlieren werden, denn diese fordern einen systemischen und grundlegenden Wandel zur Rettung des Planeten.

In der Zwischenzeit hat die EELV entschieden, den eigenen Weg weiter zu ebenen, indem sie bei den Kommunalwahlen unabhängige Kandidaturen in allen Städten mit mehr als 100.000 Einwohner*innen präsentieren wird. In Paris beispielsweise werden die Kandidaten*innen in der ersten Runde gleichzeitig gegen die Wahlliste der vereinigten Linken unter Anne Hidalgo und gegen die Macronisten antreten. Angesichts des rechtsextremen Lagers soll in der südfranzösischen Stadt Perpignan ein Wahlkampf geführt werden, mit dem Anhänger*innen der republikanischen Rechten gewonnen werden können. Ihre Hoffnung setzen die Grünen Frankreichs zudem in die Gemeinden, in denen die/der amtierende Bürgermeisterin bzw. Bürgermeister nicht für eine Wiederwahl kandidiert. Dies gilt als erste Etappe, um langfristig eine Sozialdemokratie zu „ersetzen“, die dem Untergang geweiht sein dürfte.

Das endgültige Ziel der Partei sollte natürlich darin bestehen, der LREM im Wahlkampf 2022 – eventuell – als ebenbürtige Mitstreiterin zu begegnen.

***

Nach ihrem Kunst- und Soziologiestudium war Pauline Graulle zehn Jahre lang als Journalistin der Wochenzeitschrift Politis tätig. In diesem Rahmen war sie für die  Rubrik Soziales (social) und danach für die Rubrik Politik (politique) zuständig. Seit 2018 berichtet sie bei Mediapart umfassend über die in der französischen politischen Landschaft links verorteten Parteien und Bewegungen.