Interview mit Ian Brossat

„Wir möchten weiterhin den Parisern und Pariserinnen mit geringem Einkommen und dem Mittelstand helfen in Paris zu wohnen“

06.03.2020
Ethan Earle

Ian Brossat, 39 Jahre, ist Professor für moderne Litteratur. Er hat in Sarcelles, einem Pariser Vorort gelehrt, bevor er 2008 zum Stellvertreter der Bürgermeisterin von Paris gewählt wurde und für den Wohnungsbau und die Notunterkünfte zuständig ist. Er ist ebenfalls ein nationaler Sprecher der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF).

In diesem Interview von Ende Februar hat er sich mit Ethan Earle zusammen gesetzt, um über französischen Kommunalwahlen im März, die Annäherung der Linken, den sozialen Wohnungsbau, Airbnb und die Olympischen Spiele 2024 zu sprechen.

Ethan Earle: Du bist wieder Kandidat bei den Kommunalwahlen im März und deine Partei, die PCF, steht hinter der amtierenden Bürgermeisterin, Anne Hidalgo. Kannst du uns sagen, warum die Liste von Hidalgo die beste Option für die Pariser darstellt?

Ian Brossat: Paris ist eine Stadt mit vielen Besonderheiten, unter anderem der Tatsache, dass sie sehr attraktiv ist und daher sehr stark der liberalen Globalisierung unterworfen ist. Angesichts all dessen brauchen wir ein kommunales linkes Team, das den öffentlichen Dienst und die Idee verteidigt, dass unsere Stadt nicht nur den Privilegierten vorbehalten sein darf. Anne Hidalgo ist am besten in der Lage, diese Politik zu führen. Unsere Bilanz ist ein Beweis dafür, zunächst mit Bertrand Delanoë, dann unter diesem Mandat. Die Frage, die den Pariserinnen und Parisern bei den Kommunalwahlen am 15. März gestellt wird, lautet, ob wir weiter dafür kämpfen, Paris zu einer zugänglichen Stadt zu machen, oder ob wir sie in ein Finanzzentrum und ein Ghetto der Reichen verwandeln.

EE: Was habt ihr konkret dafür getan, um Paris zu einer für alle zugänglichen Stadt zu machen?

IB: Zunächst einmal haben wir ein großes Paket zur Wohnungsfrage geschnürt, welche für die Pariserinnen und Pariser eine Priorität darstellt. Es ist das größte Budget für die Pariserinnen und Pariser; es ist das, was sie am meisten kostet. Wenn wir wollen, dass Paris eine Stadt der Mittelschicht und der Familien von Angestellten bleibt, ist es unerlässlich, hier einen Schwerpunkt zu setzen. Seit 2014 haben wir 42.000 Sozialwohnungen geschaffen und finanziert, seit 2001 insgesamt 110.000. So viele und so gut, dass in Paris 1 von 4 Bewohnern bzw. 550.000 Pariser und Pariserinnen in Sozialwohnungen leben und damit den Auswirkungen der Immobilienspekulation entgehen. Dadurch ist es möglich, dass es in Paris immer noch Angestellte, Lehrer, Kassierer, Kinderbetreuer, kurz gesagt, so viele soziale Kategorien gibt, die gezwungen gewesen wären, Paris zu verlassen, wenn es keine Sozialwohnungen gegeben hätte.

Wir haben auch andere Hebel in Bewegung gesetzt, insbesondere mit der Entwicklung öffentlicher Kindertagesstätten, mit der Schaffung von 5.000 Plätzen in öffentlichen Kinderkrippen. Paris ist das französische Departement mit der höchsten Anzahl an Krippenplätzen, was es Familien ermöglicht, ihre Kinder von klein auf zu betreuen zu lassen, ohne dafür immense Betreuungskosten zu zahlen. Wir haben auch Maßnahmen zur sozialen Preisgestaltung eingeführt. In den Schulkantinen zahlen Kinder aus den ärmeren Familien 13 Eurocent pro Mahlzeit, was erschwinglich ist. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind für ältere Menschen und für Kinder zwischen 4 und 11 Jahren kostenlos.

EE: Ich würde gerne etwas mehr darüber erfahren, was ihr in einer zweiten Amtszeit tun würdet, aber wenn du uns zunächst etwas über die Opposition erzählen könntest... zur Situation in der „La République En Marche“ mit Griveaux und jetzt Buzyn, und auch der Republikaner mit Rachida Dati.

IB: Heute haben wir zwei Formen der rechten Opposition. Wir haben eine derbe, karikaturartige, vulgäre und in gewisser Hinsicht extremistische Rechte, die Frau Dati verkörpert und die an die fünfjährige Amtszeit von Nicolas Sarkozy anknüpft. Und dann ist da noch die Rechte von Benjamin Griveaux, jetzt die von Agnès Buzyn, die versucht, sich ein respektableres Image zu verleihen, die aber auch liberal ist. Das Kapital setzt hier auf zwei Kandidaten gleichzeitig.

Frau Dati und Frau Buzyn denken im Großen und Ganzen dasselbe. Sie sind zum Beispiel gegen den sozialen Wohnungsbau. Der Anteil der Sozialwohnungen in Paris ist von 13% auf fast 24% gestiegen. Die Politikerinnen wollen die Entwicklung nicht nur stoppen, sondern sie wollen sie auch noch veräußern! Sie wollen die Wohnungen, die wir geschaffen haben, um Familien mit bescheidenem Einkommen und der Mittelschicht das Leben in Paris zu ermöglichen, an den privaten Sektor verkaufen. Ganz konkret sollten die Familien, die dort leben, die Wohnungen kaufen oder ausziehen. Es ist eine Logik der Segregation: Die Politikerinnen sind der Ansicht, dass nur diejenigen, die sich die Stadt leisten können, in Paris wohnen dürfen.

Sollte die eine oder andere gewinnen, wäre dies eine Rückkehr zur Politik von Chirac und Tiberi als Bürgermeister, nämlich die Verjagung der arbeitenden Klassen aus Paris ganz ohne Vorbehalte. In den 70er und 80er Jahren baute die Stadt Sozialwohnungen... aber in den Vororten! Paris war den Reichen vorbehalten, und die Rechte „installierte“ die Mitarbeiter der Stadt Paris, diejenigen, die unsere Straßen säuberten, die Müllmänner, die, die in den Kinderkrippen arbeiteten, in den kommunistischen Städten des Departements Seine-Saint-Denis, die alle willkommen hießen. Wir wollen diese Vorstellung von unserer Stadt nicht. Die Stärke von Paris liegt gerade darin, dass es eine Stadt der Vermischung und der sozialen Durchmischung ist.

EE: Anne Hidalgos „Stadt der Viertelstunde“ ist ein ganz anderes Projekt. Was kannst du uns über die konkreten Pläne von Hidalgo sagen? Und auch du, was würdest du in deiner zweiten Amtszeit versuchen zu erreichen?

IB : Das Projekt von Anne Hidalgo basiert auf zwei Säulen. Zum einen die soziale Frage, über die ich vorhin gesprochen habe, nämlich dass wir den ärmeren Pariserinnen und Parisern und dem Mittelstand weiterhin helfen wollen, in Paris zu leben. Was den Wohnungsbau betrifft, so schlagen wir vor, noch mehr Sozialwohnungen zu bauen, um bis 2030 auf einen Anteil von 30% Sozialwohnungen zu kommen. Wir wollen die Mietpreise im privaten Sektor weiterhin regulieren. Wir schlagen vor, den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr auf alle Personen unter 18 Jahren auszudehnen und den Ausbau der Krippenplätze fortzusetzen, bis wir eine 100%ige Zufriedenheitsquote erreicht haben, d.h., dass bis zum Jahr 2020 alle Familien, die einen Krippenplatz beantragen, einen Platz in einer staatlichen Einrichtung erhalten können.

Die zweite Säule betrifft den Umweltschutz. Paris ist eine Stadt, die sehr stark der Umweltverschmutzung ausgesetzt ist und in Bezug auf den ökologischen Wandel ein Beispiel geben muss. Wir wollen die Nutzung von Autos weiter reduzieren. Der Autoverkehr ist in dieser Amtszeit um 17% und die Umweltverschmutzung um 15% zurückgegangen; man sieht also ganz klar, dass hier ein Zusammenhang besteht. Wir wollen noch weiter gehen, indem wir den Fahrradverkehr massiv ausbauen und Paris zu einer Stadt machen, in der 100% der Straßen Radwege sind. Unser Projekt ist es, die soziale und ökologische Umgestaltung von Paris voranzutreiben.

EE: Wie steht es generell um die Linke in Frankreich bei diesen Kommunalwahlen? Wir wissen, dass die Situation bei den Grünen etwas kompliziert ist. Kannst du uns etwas darüber und auch über „La France Insoumise“ berichten? Welche Möglichkeiten für eine linke Annäherung bei den Wahlen gibt es?

IB: Die Situation ist sehr widersprüchlich. Einerseits gibt es seit 2 Jahren eine starke soziale Protestbewegung: letztes Jahr mit der Bewegung der Gelbwesten und dieses Jahr mit der großen Bewegung gegen die ungerechte Rentenreform, mit einer Mobilisierung, die seit dem 5. Dezember andauert, und einer öffentlichen Meinung, die sich dem Projekt größtenteils widersetzt.

Der zweite Aspekt ist, dass sich die Linke noch in der Genesung befindet. Ich würde sagen, dass sie im letzten Jahr krank war. Heute ist sie vielleicht etwas weniger krank, aber auf jeden Fall ist sie in der Rekonvaleszenzphase. Warum? Weil sie immer noch gespalten ist, sie hat sich noch nicht vollständig von der Niederlage von 2017 erholt, sie ist noch nicht vollständig gegen die hegemonialen Strukturen geimpft, die uns so sehr verletzt haben; erst die Vorherschafft der Sozialistischen Partei, dann die der Bewegung „La France Insoumise“ nach den Wahlen von 2017 und heute dann „Europe Écologie Les Verts“, die meinen, dass ihnen seit den letzten Europawahlen Flügel wachsen. Man hat manchmal das Gefühl, dass die französische Linke systematisch dieselben Fehler begeht.

Wenn wir heute jedoch mit ein wenig Ernst auf die Situation blicken, in der sich die Linke befindet, kann niemand die Vorherrschaft beanspruchen und niemand kann sich vorstellen, auf nationaler Ebene allein die Macht zu gewinnen. Die Linke muss also ihre Einheit wahren, sich zusammenschließen unter Respektierung aller Beteiligten. Was mich dazu bringt, zu sagen, dass es der Linken vielleicht etwas weniger schlecht geht als im vergangenen Jahr, ist, dass die Bewegung gegen die Rentenreform eine gewisse Annäherung möglich gemacht hat. Zum ersten Mal seit der der Amtszeit von Hollande, war die Linke in der Lage, gemeinsame Initiativen, Widerstand gegen Reformen und alternative Vorschläge zu ergreifen. Dies geht in die richtige Richtung. Ich denke, diese Dynamik muss sich fortsetzen, damit die Linke in Frankreich wieder zu sich selbst findet und sich unter günstigeren Bedingungen auf die Präsidentschaftswahlen 2022 vorbereiten kann.

EE: Du hast uns bereits von Paris berichtet, aber wie ist die nationale Wohnsituation im Moment?

IB: Zunächst einmal ist die Wohnsituation in Frankreich sehr unterschiedlich. Es ist natürlich nicht dasselbe, ob man sich in einer großen Metropole oder in einer „entspannten Gegend“ befindet, d.h. auf dem Land oder in einer unserer eher vernachlässigten Regionen und hängt ebenfalls von der Beschäftigungssituation ab.

Die Problematik des Wohnungsbaus in Frankreich betrifft in erster Linie die großen Metropolen, da es sich um sehr attraktive Regionen handelt: Hier besteht eine Kluft zwischen einem begrenzten Angebot und einer beträchtlichen Nachfrage. Und dieses Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wirkt sich unweigerlich auf den Preis aus. Es gibt einen Aspekt, der mir in Frankreich besonders auffällt, wenn ich mit Bürgermeistern oder Kollegen aus anderen Städten spreche: In Frankreich hat ein Bürgermeister die Möglichkeit, in seiner Region den sozialen Wohnungsbau zu fördern, was eine nicht zu vernachlässigende Möglichkeit darstellt. Aber wir haben überhaupt keine Möglichkeit auf den Privatsektor einzuwirken. Wir sind völlig abhängig vom guten Willen des Staates. Die Mietpreisbremse erfolgt auf Antrag der Bürgermeister, aber es ist der Staat, der sie genehmigt oder nicht genehmigt, und es ist der Präfekt, der die Höchstmieten festlegt. Das Gleiche gilt für die Airbnb-Regelung: die Regeln werden vom Staat festgelegt. Auch die Requirierung leer stehender Gebäude liegt nicht in der Verantwortung der Gemeinden. In Paris stehen 100.000 Wohnungen leer, d.h. 7% des Wohnungsbestandes. Wenn wir den Präfekten auffordern, leer stehende Gebäude zu requirieren, antwortet er uns, dass er nur dann requiriert, wenn der Eigentümer damit einverstanden ist! Und damit wird dies nie passieren.

EE: Du hast in Paris eine politische Schlacht gegen Airbnb geführt - und du hast auch ein Buch zu diesem Thema geschrieben – damit weißt du auch besser als ich, dass Airbnb ein multinationales Unternehmen ist: Wie kann man es von der lokalen bis zur globalen Ebene bekämpfen?

IB: Es ist ein bisschen wie Davids Kampf gegen Goliath. Dennoch ist es ein Kampf, der unerlässlich ist, denn wenn wir nichts unternehmen, werden unsere Städte vollkommen von diesen Vermietungen an Touristen und dieser räuberischen Plattform eingenommen. Wir haben in Paris Regeln aufgestellt; wir haben vom Staat neue Regulierungsinstrumente erhalten. Wir bekämpfen die illegale Vermietung von Wohnraum an Touristen. Die Entwicklung von Airbnb in Paris ist aktuell gestoppt: Durch die Aktion auf kommunaler Ebene konnte Airbnb seine Entwicklung nicht weiter ausbauen. Für uns stellt sich die Frage, wie wir in der nächsten Amtszeit die verlorenen Unterkünfte, die in illegale Hotels umgewandelt wurden, wieder zurückgewinnen können. Eine Stadt, so mächtig sie auch sein mag, wird das nicht allein schaffen. Seit einigen Jahren versuchen wir, mit Barcelona, Madrid, Berlin und Amsterdam eine Städtefront aufzubauen, um Airbnb besser zu regulieren. Wir sind überzeugt, dass es eine echte Koordination zwischen diesen Städten geben muss, um Airbnb in die Knie zu zwingen. Je stärker wir vereinigt sind, desto mächtiger sind wir.

EE: Wie reagierst du auf Familien, denen Airbnb ein lebensnotwendiges Zusatzeinkommen beschert? Und gleichzeitig, wie soll man auf die Touristen reagieren, die Paris, die Frankreich kennen lernen wollen und für die diese App einfach praktischer, günstiger, attraktiver ist?

IB: Hier muss man in der Lage sein, zwischen der Ökonomie des Teilens und der Ökonomie des Raubbaus zu unterscheiden. Wenn ein Eigentümer seine Wohnung für ein paar Wochen im Jahr vermietet, haben wir damit kein Problem. Dies gibt ihm die Möglichkeit, sich etwas dazu zu verdienen und einem Touristen, zu günstigeren Preisen unterzukommen als im Hotel. Nicht akzeptabel ist hingegen die Professionalisierung dieses Sektors. In diesem Fall kaufen die Eigentümer drei oder vier Wohnungen, manchmal ganze Gebäude, um sie in ganzjährige Mietwohnungen auf diesen Plattformen zu verwandeln. Hier unterscheiden wir ganz genau! Wir wollen zulassen, was unter die Wirtschaft des Teilens fällt, und verbieten, was unter die Wirtschaft des Raubbaus fällt.

EE:  Die letzte Frage: Die Olympischen Spiele kommen 2024 nach Paris. In der letzten Zeit haben die Spiele eher zu einer Gentrifizierung geführt und die Bürgerinnen und Bürger insgesamt haben von dem geschaffenen Reichtum nicht profitiert. Airbnb ist bereits Partner der Pariser Spiele. Was denkst du darüber? Und was können wir anders machen?

IB: Die Olympischen Spiele dürfen vor allem nicht als Beschleuniger der Gentrifizierung für Paris und seine Metropole fungieren. Wir haben versucht, „Schutzvorkehrungen“ zu treffen, vor allem mit der Garantie, dass ein beträchtlicher Teil der für die Olympischen Spiele gebauten Wohnungen im Anschluss in Sozialwohnungen umgewandelt wird. Im Olympischen Dorf zum Beispiel.

Dies ist uns ein großes Anliegen, sowohl den kommunistischen Abgeordneten als auch der Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo. Die Olympischen Spiele müssen eine Gelegenheit sein, zusätzliche öffentliche Einrichtungen zu gewinnen, insbesondere für das Departement Seine-Saint-Denis. Ein Beschleuniger der Entwicklung, ja, ein Beschleuniger der Gentrifizierung, nein! Ich möchte sagen, dass sich beim Bau neuer öffentlicher Einrichtungen systematisch die gleiche Frage stellt: Wenn man einen Park oder ein Schwimmbad in einem Stadtviertel errichtet, erhöht man unweigerlich die Preise in diesem Viertel, es sei denn, man baut gleichzeitig Sozialwohnungen und führt eine Politik der Preisregulierung. Man muss also beide Kämpfe parallel führen.

EE: Es ist also nur die Beschleunigung eines Kampfes, den ihr sowieso die ganze Zeit um die Stadt Paris führt.

IB: Genauso ist es.