«Unsere Vernunft, unser Herz füreinander»

Solidarität in der Corona-Krise und danach

03.04.2020
Sabine Nuss

Sechs Wochen nachdem der erste Corona-Fall in Deutschland vermeldet wurde, stellte sich Kanzlerin Angela Merkel erstmals den Fragen der Öffentlichkeit und erließ einen dringenden Appell an die Bevölkerung. Sie rief auf zu Solidarität: «Unsere Vernunft, unser Herz füreinander», sagte sie, sei auf eine Probe gestellt. Und: Sie wünsche sich, dass wir diese Probe bestehen. Doch wie solidarisch kann eine Gesellschaft sein, deren sozialen Beziehungen auf Konkurrenz beruhen, deren Credo lautet: jeder für sich, jedem ums Seine? Und über welche Solidarität reden wir?

 
Zum Zeitpunkt des Kanzlerin-Appells kletterte die Zahl der Infizierten in Deutschland schon über die 2.000er-Marke. Nicht wenige der Angesprochenen hatten da bereits unter Beweis gestellt, dass sie sich mit der Solidarität schwer tun: Atemmasken und Desinfektionsmittel waren schnell ausverkauft, obwohl in den Medien gebetsmühlenartig wiederholt wurde, dass Krankenhäuser dringend darauf angewiesen seien und diese Schutzmittel für Privatleute nicht nötig wären, weil handelsübliche Masken keinen ausreichenden Schutz bieten und 20 Sekunden Händewaschen ausreichen würde. Sogar von Diebstählen in Krankenhäusern wurde berichtet. Schlagzeilen machten auch Geschäftsleute, die mit dem Handel mit Mundschutzmasken zu absurd hohen Preisen reich wurden. Am Finanzmarkt konnten Anleger darauf wetten, dass Fluggesellschaften und Hotels ins Straucheln geraten, oder darauf, dass Menschen wegen des Virus zu Hause am Computer bleiben und viel Netflix schauen. Der Hegdefonds, der entsprechende Wetten im Portfolio hatte, machte damit hohe Gewinne. Des einen Leid, des anderen Freud.

Sabine Nuss ist Autorin und Geschäftsführerin des Karl Dietz Verlag in Berlin.

Als gäbe es kein Morgen

Hamsterkäufe gab es auch in Supermärkten: Nudeln, Reis, Toilettenpapier, Seife – manchmal stand man vor geplünderten Regalen und fragte sich, ob man irgendwas falsch macht, weil man selbst nur das Nötigste im Einkaufswagen hatte. Oder man beobachtete sprachlos, wie sich die Person vor einem noch die letzten drei Packungen Toilettenpapier griff. Als gäbe es kein Morgen. Auch die Einsicht, zur Verlangsamung des Virus möglichst auf soziale Distanz zu gehen, Veranstaltungen abzusagen, Schulen zu schließen, sah sich lange dem Vorwurf der Panikmache und Hysterie ausgesetzt, sogar noch, als Zustände und Verlauf in anderen Ländern längst bekannt waren. «Um mich mach ich mir keine Sorgen, es trifft ja nur Alte und Kranke», Sätze, die unbedarft die Runde machten.

Es brauchte noch mehr infizierte Personen, weitere dramatische Nachrichten aus Italien und eine Informationsoffensive aus Wissenschaft und Politik, ehe die Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen wie Dominosteine durchs Land fiel. Die Kampagne #Flattenthecurve machte deutlich, dass Vorsicht nicht gleich Panik ist, und dass es darum geht, besonnen und kollektiv zu verhindern, dass die Kapazitäten im Gesundheitswesen gesprengt werden. Die meisten haben irgendwann verstanden, dass es vor allem die «vulnerablen Gruppen» seien, auf die jetzt aufgepasst werden müsse, weil sich das Virus rasch von Mensch zu Mensch verbreite und Alte und Vorerkrankte erreichen kann – jene, die ihm am wenigsten entgegenzusetzen haben. Und ja, es gab sie dann auch, die breite Hilfsbereitschaft: «Das erste Mal, seit ich Italiener kenne, interessiert sich niemand für Fußball. Aber Jugendliche tun sich zusammen und sammeln Spenden für die Intensivabteilung oder bringen den Alten den Einkauf oder Medikamente», twitterte jemand. Unter dem Hashtag #NachbarschaftsChallenge versammelten sich Leute, die in ihren Häusern Zettel aufhängten und Hilfe bei Einkäufen anboten, für Nachbarn in Quarantäne oder für besonders schutzbedürftige Bewohner*innen. Aber ist das Solidarität?

Vorwärts und nicht vergessen.
Die Solidarität!

Solidarisch-sein bedeutet «füreinander einstehend», «solidarisch» wird im Sinne von «gemeinsam für etwas eintretend, sich verbunden fühlend» gebraucht; «sich solidarisieren» meint, sich mit jemandem zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen und Ziele verbünden. Bertolt Brecht hatte nicht die Gesamtheit aller Einwohner*innen eines oder aller Länder im Sinn gehabt, als er für den Film «Kuhle Wampe» das Solidaritätslied schrieb mit dem berühmten Refrain: «Vorwärts und nicht vergessen. Die Solidarität!» Vielmehr ging es hier um die Solidarität unter den Armen, den Arbeiter*innen, den Arbeitslosen, den Abgehängten, vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren.

Etwas anderes sind Hilfsbereitschaft, Charity, Wohltätigkeit. Sie brauchen nicht unbedingt gemeinsame politische Ziele, keinen Kampf, kein mächtigeres Gegenüber, überhaupt kein Bewusstsein von gesellschaftlichen Gegensätzen, die sich verändern ließen, um die Hilfe und milde Gaben überflüssig zu machen. Es sind oft jene Menschen, die sich allgemeinen humanitären Werten verpflichtet fühlen, die helfen. Sie müssen es sich allerdings leisten können. Mild- und Wohltätigkeit sind tendenziell hierarchisch, die milde Gabe fließt von oben nach unten, reich zu arm, von stark zu schwach. Mildtätigkeit ist zwischenmenschlich, aber nicht gesellschaftlich. Zwar sind es oft gerade jene, die nicht viel haben, die geben. Doch bleibt zwischen Gebendem und Empfangendem ein Graben: Sie sind nicht vereint im Kampf oder Interesse. Sie agieren nicht mit- und füreinander. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur erschöpft sich Solidarität nicht in milden Gaben oder Hilfsbereitschaft.

Solidarität kennt ein «Gegen»

In der Literatur werden unterschiedliche Formen von Solidarität unterschieden, jene der Gesinnung, des Handelns und jene der Interessen. Es lohnt sich, genauer zu bestimmen, was jeweils gemeint ist. Denn wenn mit Solidarität bloß Hilfe in Notlagen gemeint ist, dann ist sie ununterscheidbar von Hilfsbereitschaft. Und wenn Solidarität sich am Ende in ein bloßes «Aufeinander-angewiesen-sein» auflöst, in dem Kooperation dem Erhalt des Ganzen dient, dann kann Solidarität für alle Zusammenhänge aufgerufen werden, in denen Menschen als Kollektiv aufeinandertreffen, unabhängig von ihrer je unterschiedlichen sozialen Stellung in Gesellschaft, unabhängig von Machtasymmetrien, unabhängig von der Verteilung der Ressourcen. Solidarität kennt ein «Gegen»: Gegen wen oder gegen was schließen wir uns zusammen, worin vereinen sich unsere Interessen?

Vor diesem Hintergrund scheint der mächtige, der gemeinsame Gegner das Virus zu sein, es ist das, was die Politik kommuniziert: «Wir haben es mit einem Gegner zu tun, den wir nicht kennen», so Angela Merkel. Das gemeinsame Ziel, hinter dem sich alle gegen die Pandemie verbünden, ist das Verhindern einer schnellen Verbreitung des Virus, die Schonung der Kapazitäten im Gesundheitswesen, das Menschenleben rettet. Dafür wird verzichtet auf persönliche Treffen, auf Zusammenkünfte, auf Kneipenbesuche, dafür bleibt man zu Hause, Social Distancing. Wer kann, kümmert sich um Leute, denen die Isolation oder Quarantäne Probleme bereitet. Kollektiv, nachbarschaftlich, selbstlos. Das Positive in der Krise sei, so kann man es jetzt oft hören, wie solidarisch sich alle gegenseitig zeigen würden, weil: die Corona-Krise sei eine Zerreißprobe für «unsere Gesellschaft».

Die Krise trifft nicht alle gleich

Was in dem «Wir» und «unser Gegner» untergeht ist: Die Krise trifft nicht alle gleich. Das hat Gründe. Unbenommen der Tatsache, dass sich jede Gesellschaftsform bei einer Pandemie vor eine große Herausforderung gestellt sehen würde, produziert die Corona-Krise keine allgemein menschlichen oder «gesellschaftlichen» Probleme, sondern spezifisch kapitalistische. Viel wird derzeit zum Beispiel über das «Kaputtsparen» des Gesundheitswesens berichtet und wie uns das nun auf die Füße fällt. Man hat die Heilung von Menschen einer betriebswirtschaftlichen Logik untergeordnet, Krankenhäuser müssen Erlöse erzielen, Gewinne machen und vor allem «effizient» arbeiten. Und das bedeutet: keine überschüssigen Kapazitäten vorhalten, Notfallreserven möglichst auf null fahren, denn die kosten nur Geld.

Christian Drosten, Virologe der Berliner Charité, erklärte in seinem täglichen Corona-Podcast beim Norddeutschen Rundfunk, dass es mit der Laborverfügbarkeit in kleinen Krankenhäusern oder auf dem Land ein großes Problem gäbe: «Weil die Kostenoptimierung in der Medizin dazu geführt hat, dass ganz viele Kreis- und kommunale Krankenhäuser einfach ihr Labor komplett abgeschafft haben.» Die Proben würden in eine komplizierte Logistik gegeben, es würde somit mehrere Tage dauern, bis das Ergebnis da ist, das werde man auch nicht mehr lösen können während dieser Pandemie: «Dieser Zug ist einfach abgefahren. Das ist etwas, das man aus der medizinischen Versorgung abgeschnitten oder geopfert hat, im Sinne von ökonomischer Effizienz und das ist etwas, das in vielen Bereichen der Medizin in den letzten 15 Jahren stattgefunden hat, in den letzten zehn Jahren noch verstärkt, das ist die Fallpauschalenvergütung in den Krankenhäusern, die viele ganz kleinen Krankenhäuser schon längst dazu gezwungen hat, aufzugeben, und andere Krankenhäuser dazu gezwungen hat zu fragen, wo können wir eigentlich sparen

Zusammenhalt zwischen «Oben» und «Unten»?

«Ökonomische Effizienz» war nicht nur das Totschlagargument im Gesundheitsbereich, sondern diente der Legitimation der Privatisierung breiter Bereiche der Daseinsvorsorge weltweit, insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten. Heute wissen wir: Die ökonomische Effizienz führte zu einer Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse, zu niedrigeren Löhnen, zu einer Umverteilung öffentlichen Vermögens in private Hände, wo es sich konzentriert. Der Ungleichheitsforscher Thomas Piketty hat darauf hingewiesen, dass Privatisierung einer der zentralen Gründe gewesen sei für die in den letzten Jahren auseinanderdriftende Schere von arm und reich. Und wie Pikettys Mitstreiter, Emmanuel Saez und Gabriel Zuckman jüngst in ihrem Buch mit dem programmatischen Titel «Triumph der Ungerechtigkeit» zeigen, hatte auch die Steuerpolitik seit den 1980er-Jahren einen wesentlichen Anteil daran: global, am drastischsten jedoch in den USA, wo die Steuerprogression, ein steigender Steuersatz mit steigendem Einkommen, de facto abgeschafft ist, Arbeiter*innen in den USA zahlen prozentual mehr Steuern als Superreiche. Aber auch in Deutschland haben die Steuerreformen unter Rot-Grün in den 2000er-Jahren dazu geführt, dass die Wohlhabenden und Vermögenden begünstigt wurden. Die Lockerung bis Abschaffung von vertraglich langfristig abgesicherten Arbeitsverhältnissen und die Ausweitung eines Niedriglohnsektors waren Teil dieser Entwicklung.

«Ökonomische Effizienz» verweist auf eine ganz bestimmte Ökonomie, nämlich eine, deren Effizienz dann als gewährleistet gilt, wenn das Kapital sich möglichst schnell und stark verwertet. Sie setzt ein Unten und ein Oben nicht nur voraus, sondern hat es auch zum Ergebnis – in historisch und regional unterschiedlichem Ausmaß. Der Ökonom Sebastian Thieme twitterte jüngst: «Aktuell werden viele um Mitwirkung bei Corona-Vorsichtsmaßnahmen gebeten. Allgemeinheit und Zusammenhalt führt mensch dabei als Argument an. Wie muss sich das in den Ohren jener anhören, die unter dem Eindruck stehen, der Zusammenhalt mit ihnen wär schon längst aufgekündigt worden?»

Die Pandemie trifft daher nicht nur medizinisch auf unterschiedliche Vulnerabilitäten, sondern auch ökonomisch. In der Krise wird das für Viele besonders schmerzhaft spürbar. Es ist umstritten, ob die staatlichen Vorgaben zur Schließung von Schulen, Kneipen, Kinos, Fitnessstudios, Theatern, dem Absagen von Fußballspielen etc. zu spät kamen, zu zögerlich waren, ob man die Grenzen nicht hätte früher dicht machen müssen, sich besser abstimmen mit den anderen Ländern. Gesetzt es war zu spät, so hatte das Gründe. In der kapitalistischen Marktwirtschaft werden Güter durch die Zirkulation von Ware und Geld verteilt und die Produktion dieser Güter über den Tausch Arbeitskraft gegen Geld organisiert. Kapitalistisches Wachstum ist angewiesen auf ein reibungsloses Funktionieren dieser Zirkulation. Werden kleine und große Unternehmen stillgelegt, reißen Lieferketten, können Kredite nicht mehr getilgt, keine Rechnung mehr beglichen, keine Löhne mehr bezahlt werden, es kommt zum Liquiditätsengpass. Das kann eine Kettenreaktion auslösen und die Existenzgrundlage aller gefährden: Arbeit, Kapital, Staat, und damit vor allem eines: Wachstum.

Konkurrenz im Ausnahmezustand

In Zeiten von Corona – und das ist das historisch außergewöhnliche – unterbricht der Staat die Zirkulation von selbst und ganz gezielt. Denn mit dem Ware-Geldverkehr, der immer auch Verkehr von Menschen bedeutet, verbreitet sich der Virus. Deshalb muss er einspringen, um die staatlich angeordnete Unterbrechung der Zirkulation zu überbrücken, mit Staatsgeld, indem Kredite verbilligt werden, Steuerzahlungen gestundet und Kurzarbeit erleichtert wird. Sogar von Helikopter-Geld ist die Rede: Das willkürliche Auszahlen einer bestimmten Summe Geld an alle, durch die Zentralbank, sodass wieder gekauft werden kann.

Was sich in der Krise regelmäßig offenbart, ist die Eigentumslosigkeit der vom Lohn abhängigen Menschen. Viele weisen jetzt auf ihre prekäre Existenz hin, wissen nicht, wie sie ihre Miete bezahlen sollen, wenn keine Aufträge, kein Lohn mehr reinkommt. In den USA, wo die Verhältnisse noch schlimmer sind, gehen die Beschäftigten in der Gastronomie krank arbeiten, weil sie weder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben, noch eine Krankenversicherung.

Es ist das Paradoxon unserer Wirtschaft, dass wir darin einerseits wechselseitig auf uns angewiesen sind, indem wir miteinander kooperieren in der alltäglichen Arbeitsteilung, die Ware-Geld-vermittelt ist, also von der Zirkulation abhängig. Zugleich sind wir darin gegeneinander gestellt, in Konkurrenz. Es ist nicht die «ökonomische», sondern die kapitalistische Effizienz, die in der Kapitalrendite ihr Maß hat, die die Mitglieder der Gesellschaft in Arm und Reich, in Käufer und Verkäufer, in Arbeiter und Unternehmer, in Beitragszahler und Transferempfänger, in Beschäftigte und Arbeitslose, in Schuldner und Gläubiger, in Eigentümer und Nicht-Eigentümer trennt.

Jene, die in der Krise sich selbst die Nächsten sind, verfahren daher ganz in der Logik ihrer Erfahrungswelt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, bekommt es noch, das Klopapier, wer clever ist, spekuliert auf Mundschutzmasken oder klaut sie, auch wenn andere dadurch kein Leben mehr retten können, wer Geld hat, fliegt mit dem Privatjet, bekommt den raren Platz am Beatmungsgerät und spekuliert auf Kosten des Leids anderer, macht Hamsterkäufe. Krankenhäuser appellieren an die Politik, sie finanziell nicht auf dem Trockenen sitzen zu lassen, da es sonst passieren könnte, dass Operationen, die zwar nicht so dringend nötig sind, aber mehr Geld bringen, bevorzugt werden. Dass es Verlierer und Gewinner gibt, wird hingenommen, jeder kümmert sich um Seines, auf dass man durchkommt, oder: noch reicher wird. Während in guten Zeiten stets dieser Wettbewerb gepriesen wird, verdeutlicht der Ausnahmezustand die Schädlichkeit des Konkurrenzprinzips.

Appell an höhere Werte

Rücksicht nehmen auf Andere? Verantwortung fürs große Ganze übernehmen, hilfsbereit sein? Sicher, auch das wird mitunter gefordert. Aber es reicht nicht hin. Eine Gesellschaft, in der die Individuen auf ein «Jeder gegen Jeden» gebrieft sind, die Teile abgehängt hat und andere Teile in ein Hamsterrad zwingt, welches sie an ihre psychische Belastungsgrenze bringt, während andere nicht mehr wissen, wo sie noch ihr Kapital anlegen sollen, auf dass es sich ins Groteske vermehre, eine solche Gesellschaft braucht den eindringlichen Appell an höhere Werte wie keine andere, sie braucht den Kitt, der das Herz anruft, ein Kitt, der die zersplitterten, ungleich mit Ressourcen ausgestatteten, konkurrierenden Individuen zusammenhält. «Wir haben alle Waffen auf den Tisch gelegt», sagte Finanzminister Olaf Scholz über die staatlichen Maßnahmen zur Rettung der Wirtschaft in der Corona-Krise, die Waffe der Solidarität gehört mit ins Arsenal.

«Solidarität» so schrieb Henning Scherf, ehemaliger Bremer Bürgermeister, «ist eine Leerformel geworden, nicht zuletzt weil der Begriff durch inflationären Gebrauch seines Kerns beraubt wurde.» Im Falle Corona ist die Solidarität keine Leerformel, vielmehr beinhaltet sie unbewusst eine wichtige Mobilisierungsfunktion. Sie meint nicht nur, solidarisch sein mit den Schutzbedürftigen, sie meint auch, die Krise durchhalten, aushalten, stillhalten. Das völlig überlastete Krankenhauspersonal bekommt derzeit viel Applaus. Zu Recht. Aber werden dadurch ihre Arbeits- und Einkommensverhältnisse besser werden?

Nun sitzen wir kollektiv wie das Kaninchen vor der Schlange vor dem Conora-Virus, hoffen, dass der Kelch eines schweren Krankheitsverlaufs an uns vorüber geht und dass der Staat stark genug sein wird, «die Wirtschaft» zu retten, auf dass sie nach dem Schrecken weiterlaufen möge. Dann hat der Appell an die Solidarität ausgedient. Nach Corona ist vor Corona. Wollen wir das?

Das regelt kein Markt

Wenn man eins in der Pandemie gesehen hat, dann das: Der Markt ist nicht die Lösung aller Probleme. Läuft er, tut er es auf Kosten von Mensch und Natur, herrscht Krise, ist kein Verlass und wir müssen ihm den Lauf der Dinge aus der Hand nehmen. Da wird darüber gesprochen, Unternehmen zu verstaatlichen, die Produktion von lebensnotwendigen Medikamenten oder medizinischer Schutzgüter wieder «nach Hause» zu holen, da werden Lkws mit Mundschutzmasken beschlagnahmt, da es doch nicht sein könne, dass der mit dem meisten Geld im Beutel diese Masken bekommt (Spahn), ach nein? Da werden Schilder in Supermärkten aufgestellt, doch bitte nur drei Schachteln Nudeln und nur eine Packung Toilettenpapier mitzunehmen, weil für alle genug da ist, wenn jeder sich bescheidet, da wird den USA das Recht abgesprochen, deutsche Patente für den rettenden Impfstoff für viel Geld abzukaufen. «Der exklusive Verkauf eines eventuellen Impfstoffes an die USA muss mit allen Mitteln verhindert werden. Der Kapitalismus hat Grenzen», schrieb der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach auf Twitter.

In der Corona-Krise wird außer Kraft gesetzt, was den Markt ausmacht: Es ist die zahlungsfähige Nachfrage, die darüber bestimmt, wer was und vor allem: wie viel kriegt, unabhängig vom Bedarf anderer. Dass dieses Prinzip nicht zum Wohle aller ist, könnte eine Lehre aus der Corona-Krise sein.

Derer gibt noch viel mehr. Zum Beispiel, dass es an der Zeit wäre, die Gesundheitsversorgung wie Daseinsvorsorge generell wieder den Prinzipien des Marktes zu entziehen, lebensrettende Kapazitäten nicht mehr dem «Kostendruck» zu opfern, Löhne zu garantieren, die ein gutes Leben ermöglichen und krisensicher sind, Prekarität zu verhindern, Arbeit so zu gestalten, dass sie nicht zum Burnout führt, aberwitzige Wetten auf das Elend anderer zu verbieten, das Nebeneinander von bizarrer Reichtumskonzentration und bitterer Armut nicht länger zu akzeptieren, den Wettlauf aller gegen alle zu beenden, ebenso wie den irrsinnigen Wettkampf zwischen den Nationen um den niedrigsten Steuertarif, den geringsten Mindestlohn, die lockersten Umweltstandards, das höchste BIP.

Lasst uns solidarisch sein.
Aber bleibt es, wenn der Spuk vorbei ist.

Ja, unsere Vernunft, unser Herz füreinander gebieten es, gemeinsam unter Aufbietung aller Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft und Verantwortung der Pandemie ein Ende zu bereiten und möglichst viele Menschen zu schützen. Lasst uns solidarisch sein. Aber bleibt es, wenn der Spuk vorbei ist, wenn Menschen auf die Straße gehen, wenn sie streiken für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, für mehr Personal und mehr Lebensqualität, für eine umfassende öffentliche Daseinsvorsorge, für eine umweltschonende Wirtschaft, eine, die den Menschen dient, nicht dem Kapital. Es wird mächtige Gegner geben. Deshalb: Vorwärts, und nicht wieder vergessen: Die Solidarität.

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Dieser Artikel hier ist zuerst erschienen.

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