Die Coronakrise des Freihandels

07.04.2020
Florian Horn, RLS Brussels

In der Krise konkretisiert sich das Versagen der herrschenden Handelspolitik. Während der Corona-Pandemie besonders nachgefragte Güter – zum Beispiel Schutzmasken, Medikamente und medizinischen Ausrüstung – werden auf dem Wildwest-Weltmarkt von Desperados direkt auf dem Rollfeld entführt, oder von Schurken gehamstert.

Diese Wildwestmentalität wird zwar in der Krise besonders sichtbar, ist aber auch Bestandteil einer auf sogenannten Freihandel ausgerichteten internationalen Handelsarchitektur. Eine Politik, welche sich unter ideologischem Gewand an den Profitinteressen der Starken ausrichtet und dabei die Schwächeren über die Klinge springen lässt. Freihandel geht heute weit über den Abbau von Zöllen hinaus. Der Abbau von „nicht-tarifären“ Handelshemmnissen, also zum Beispiel sozial- oder umweltpolitische Regelungen, dient dazu, ein global vereinheitlichtes Wirtschaftsterrain aufzubauen. So werden bestehende Strukturen gefestigt und angemessene nationale Politiken verhindert, wodurch global agierende Konzerne gestärkt werden. Das kann auch zur Folge haben, dass eine bereits vor Jahren geplante Bevorratung mit Beatmungsgeräten durch eine wilde Übernahmeschlacht globaler Medizintechnikfirmen lange verzögert wird, so dass die Geräte heute, wenn sie dringend benötigt werden, nicht zur Verfügung stehen.

Mit Corona wird die Zerbrechlichkeit globaler Lieferketten sichtbar, deren Aufbau durch die mächtigsten Staaten in der Welthandelsorganisation (WTO) vorangetrieben und durch immer tiefer greifende Handels- und Investitionsabkommen verfestigt wurde. Im Laufe der Jahre wurden so nicht nur einst prosperierende Industrieregionen unter enormen sozialen Kosten in rostige Ruinen verwandelt, sondern eben auch Kapazitäten vernichtet, die wichtig wären, um die heutige Versorgungskrise in den Griff zu bekommen. Nun sind, um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, neben dem bekannten „America first“ ähnliche Töne auch aus anderen Ländern – selbst aus der EU – zu hören. In der Krise zeigt sich, dass der Nationalstaat und die nationalen Interessen noch immer die Ultima Ratio der tatsächlichen Politik sind. Trumps Handelsberater Peter Navarro drückt das so aus: Wenn es hart auf hart kommt, ist es egal wie viele Handelsverträge abgeschlossen wurden. In Frankreich wurde bereits eine Debatte um Relokalisierung wichtiger Produktionszweige angestoßen, ob dies allerdings das vom Chefökonom einer französischen Investmentbank voreilig beschworene Ende des Neoliberalismus ist, bleibt abzuwarten.

Die Zeichen stehen also auf Veränderung, dies ist jedoch kein Anlass zu frohlocken.   

Möglich, dass es zu sehr selektiven Veränderungen in der internationalen Handelsarchitektur kommen wird, die allerdings darauf ausgerichtet sein werden, das bestehende System zu verfestigen. Von Seiten der Großunternehmen wächst bereits die Sorge, dass die profitablen globalisierten Wertschöpfungsketten unterbrochen werden, oder gar langfristig zerbrechen könnten. Die WTO fordert daher eine schnellstmögliche Rückkehr zum business as usual, also die Rückkehr zu einem Handelssystem welches in der Krise grandios gescheitert ist. Gescheitert auch, da sich sein Grundpfeiler, der global entfesselte Wettbewerb von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeit, in der Krise als anfälliger denn zuvor erweist. Dass dieses Handelsregime auch vor Corona-Zeit Ungleichheit zwischen den Völkern verstärkt, diese in Handelskriege und eine ökologische Katastrophe gestürzt hat, ist ohne Konsequenzen geblieben. Die Aufrechterhaltung des bestehenden Handelsregimes wird daher auch weiterhin Priorität haben, aber die Herrschenden wissen: Damit alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern. Was sich im Detail an der internationalen Handelsarchitektur ändern wird, das ist natürlich infolge der Unvorhersehbarkeit der Auswirkungen der Krise ungewiss, dennoch kristallisieren sich einige Elemente heraus, von Relokalisierung wichtiger Produktionszweige über eine zunehmende Bedeutung der Digitalisierung in der Produktion bis hin zu einer autoritären Verfestigung der Produktionsweisen. Bereits laufende Umstrukturierungen zum Beispiel durch Stellenabbau könnten sogar beschleunigt werden. Nicht das Risiko für die Menschen ist entscheidend, sondern der Risikofaktor Mensch. 

Aber wie könnte die Krise als Chance für eine Abkehr vom Freihandelsregime genutzt werden? Zurzeit befinden sich auch die Verwalter der herrschenden Handelsarchitektur im Krisenmodus, also in höchster Verunsicherung. So wurden laufende Verhandlungsrunden über Freihandelsabkommen vorerst verschoben, weil sich zum Beispiel Chefverhandler vorübergehend in Quarantäne befinden und möglicherweise ein neuer Modus Operandi für internationale Verhandlungen gefunden werden muss. Die für Juni geplante WTO-Ministerkonferenz wurde bereits abgesagt, aber Verhandlungen in der WTO über Fischereisubventionen gehen derzeit weiter, und auch die Verhandlung zu dem Mercosur-EU Handelsabkommen steht weiterhin oben auf der Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft. Freihandelskritischen Netzwerke fordern daher zunächst die bedingungslose Einstellung von Verhandlungen während der Krise, aber dies ersetzt keine langfristige Strategie.

Eine Abkehr von der Freihandelsdoktrin wird auch in Zukunft nicht durch ein wundersames Einlenken jener, die vom Bestehenden profitieren, erreicht, sondern nur wenn breite Teile der Gesellschaft ausreichend Druck entfalten. Im Rahmen einer Re-Regionalisierung der Wirtschaft, auch unter Zuhilfenahme von Werkzeugen eines linken Protektionismus, kann darüber nachgedacht werden, welche Angebote es an all jene Menschen geben kann, die sich derzeit Sorgen um ihre Zukunft, ihre Gesundheit, ihre Jobs machen, um so die sich andeutende Umstrukturierung von internationalen Handelsbeziehungen und Produktionsverhältnissen aus Arbeitnehmerperspektive zu gestalten und hierfür Luft aus dem Druckkessel des internationalen Wettbewerbs abzulassen. Dies kann auch im Sinne globaler Solidarität sein (die UN-Entwicklungskonferenz weist darauf hin, dass der Corona-Schock Entwicklungsländer besonders hart treffen wird), denn durch Entkopplung werden Spielräume für eine souveräne Wirtschafts-, Industrie-  und Geldpolitik eröffnet, die notwendig für eine nachhaltige Entwicklung sind. Bekannt ist, dass es bereits Konzepte für Alternativen zum Freihandelsregime gibt und dass zum Beispiel Kuba, welches in der Coronakrise Handlungsfähigkeit beweist, der Welt ganz nebenbei zeigt, was gelebte Solidarität bedeutet.