COVID-19 macht Risse im portugiesischen Sozialsystem sichtbar

17.04.2020
Nuno Viegas
Nickolay Romensky via Flickr

Bei den nun seit einem Monat verhängten Ausgangsbeschränkungen hat sich das portugiesische Gesundheitssystem im Vergleich zum Wohlfahrtssystem der südeuropäischen Demokratie weit besser behaupten können. Die COVID-19-Kurve hat sich bei fast zwanzigtausend Infizierten verflacht, selbst wenn eine Plateaubildung noch aussteht, und die Zahl der Toten konnte auf etwas über sechshundert Fälle begrenzt werden. Die Wirtschaft Portugals hingegen steuert auf eine konjunkturelle Talfahrt von historischer Dimension zu.

Portugal registrierte am 2. März den ersten COVID-19-Fall. Zu diesem Zeitpunkt war in der Öffentlichkeit nach Wochen apokalyptischer Nachrichtenberichte und täglicher Zahlenangaben zu Verdachtsfällen ein paranoider Wahnsinn ausgebrochen, der den Verkauf von OP-Masken um 1.829 Prozent seit Jahresbeginn in die Höhe trieb.

Unter der Führung des sehr beliebten Präsidenten Marcelo Rebelo de Sousa, der sich in selbst auferlegte Quarantäne begab, drängte die Mitte-Links-Regierung unter der sozialistischen Partei Partido Socialista (PS) auf eine schnelle Reaktion, um das kollektive Angstgefühl zu lindern. Die Schulen schlossen am 12. März und Portugal riegelte seine einzige Landesgrenze mit Spanien am 15. März ab.

Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde am 18. März im demokratischen Portugal der nationale Notstand ausgerufen. Innerhalb des Monats wurden auf unbestimmte Dauer Flughäfen und Restaurants geschlossen und Sportereignisse abgesagt, während die Bürgerinnen und Bürgern zu Ostern angewiesen wurden, in ihrem Heimatland zu bleiben.

Den Aussagen des Finanzministers und Vorsitzenden der Eurogroup Mário Centeno zufolge ist mit einem Rückgang des portugiesischen BIP 2020 um mindestens 8 Prozent zu rechnen. Die Arbeitsverträge von fast einer Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wurden ausgesetzt und deren Löhne bzw. Gehälter gekürzt. Zwischen März und Anfang April verloren vierzig- bis achtzigtausend Menschen ihre Arbeitsstelle, und es wird erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit im Verlauf 2020 auf 13,9 Prozent verdoppeln wird.

In weniger als vier Monaten verzeichnet Portugal seinen in Jahrzehnten ersten Haushaltsüberschuss, um dann erneut in eine Finanzkrise wie im Jahr 2011 abzurutschen, in dem das Land ein internationales Rettungspaket anfordern musste. Die Staatsverschuldung soll auf 135 Prozent des BIP und somit auf den Stand von 2014 ansteigen, während das jährliche Haushaltsdefizit 7,1 Prozent betragen dürfte.

Während Hunderttausende von Arbeitskräften ihr Einkommen verlieren werden, scheinen Zeitungen und Aufsichtsbehörden der Krisensituation bei weitem nicht gewachsen zu sein. Die Prüferinnen und Prüfer der landesweit einzigen Behörde für Arbeitsbedingungen ACT, die seit zwanzig Tagen im Homeoffice arbeiten, konnten nach ihrem Eingeständnis nicht die zunehmenden Verstöße gegen Arbeitsgesetze bewältigen, die um mindestens 50 Prozent angestiegen sind.

Die ACT konnte ihren Auftrag nicht erfüllen, während Unternehmen und Arbeitskräfte gleichermaßen versuchen, auf das vereinfachte, aber undurchsichtige Kündigungsverfahren einzuwirken, das Arbeitsplatzverluste und Unternehmenspleiten während der nationalen Ausgangssperre eindämmen soll. Gemäß den neuen Regelungen können Unternehmen, die von einer direkten Entlassung ihres Personals absehen, die Arbeitszeiten verringern, Leistungen aussetzen sowie Löhne und Gehälter senken.

Für die meisten Selbstständigen ist die Beantragung von finanzieller Unterstützung weiterhin nicht möglich, obwohl ihnen bei einem Einkommensrückgang von über 40 Prozent gesetzlich monatliche Zahlungen zustehen. Bisher wurde jedoch noch kein Online-Antragsformular entwickelt, und die physischen Anlaufstellen sind natürlich geschlossen.

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden für die industrielle Krise in die Verantwortung genommen. Während die Automobilproduktion um 86,5 Prozent einbrach, sind Flughäfen zu Geisterstädten geworden und Banken schütten keine Dividenden mehr aus. Die größte portugiesische Fluggesellschaft TAP hat sich so stark verschuldet, dass sie nach ihrer Privatisierung von vor fünf Jahren wieder vollständig verstaatlicht werden könnte. Ölraffinerien werden heruntergefahren, und der öffentliche Personenverkehr verzeichnet einen Rückgang von 75,6 Prozent.

Die Arbeiterklasse muss nunmehr ihre langfristige finanzielle Absicherung opfern, um kurzfristig überleben zu können. 19 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Portugals werden auf kurze oder lange Sicht deutliche Einkommensbußen erleiden. Die Regierung hat ihnen daher erlaubt, Entnahmen aus persönlichen Zusatzrentenversicherungen zu tätigen. Aufgrund der erzwungenen Arbeitseinstellung müssen sich Arbeitskräfte nun zwischen heutiger Zahlungsfähigkeit und künftiger finanzieller Absicherung entscheiden.

Diese Mittel wurden mit Blick auf ein besonderes Bedürfnis freigesetzt: dem Wohnraum, zumal über die Hälfte des Einkommens in der portugiesischen Hauptstadt für die Miete aufgebracht werden muss. Lissabon ist an der Kaufkraft gemessen die sechsteuerste Stadt der Welt. Während das Land zum Erliegen gekommen ist, sind die Immobilienpreise um 0,4 Prozent gestiegen, was der geringsten Steigerung seit Januar 2019 entspricht.

 

Zwangsräumungen wurden ausgesetzt, die Mieten werden aber früher oder später fällig

Die verhängten Ausgangsbeschränkungen machen die Unterbringung von Menschen für die öffentliche Gesundheit zu einer Notwendigkeit. Um die Kontaktvermeidung zu gewährleisten, wurden alle Räumungen und Zwangsvollstreckungen für die Zeit des nationalen Notstands ausgesetzt. Bis zum 1. Mai kann Mietern sowie Hauseigentümern somit nicht gekündigt werden.

Um einen Wohnungsverlust zu verhindern, müssen jedoch weiterhin Mieten gezahlt werden – jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt als Nachzahlung. Mieterinnen und Mieter können ihre Zahlungen an die Vermieter bis zu einem Monat nach Aufhebung der Ausgangssperre aussetzen, sofern sie belegen können, dass sich ihr Einkommen um mindestens 20 Prozent verringert hat. Alternativ dazu gewährt der staatliche Vermögenszweig, die IHRU, den Mietparteien sowie Vermieterinnen und Vermietern gleichermaßen Darlehen zur Deckung von unbezahlten Mieten.

Die Einzelhändler, die nicht wesentliche Produkte vertreiben und ihre Geschäfte zur Kontaktvermeidung Mitte März schließen mussten, können ihre Mietzahlungen bis zu einem Monat nach Lockerung der Ausgangsbeschränkungen aussetzen. Sie müssen jedoch für alle nicht entrichteten Zahlungen im Verlauf des kommenden Jahres aufkommen, es sei denn, dass sie ihre Geschäftsräume direkt im öffentlichen Sektor anmieten. Die Stadt Lissabon hat Unternehmen bis Juli vollständig von den Mietzahlungen für Gebäude in städtischer Hand befreit.

Familien in Sozialwohnungen können ebenfalls eine Verringerung oder vorübergehende Aussetzung ihrer Mietzahlungen beantragen. Diese Bevorteilung von Mietparteien im öffentlichen Sektor hat unter Mieterverbänden für Aufruhr gesorgt.

In der Privatwirtschaft haben alle Optionen ihren Preis. Werden die Zahlungen verspätet getätigt, so müssen die Mietschulden innerhalb von zwölf Monaten vollständig zurückgezahlt werden. Kredite von IHRU sind innerhalb eines Jahres zu tilgen. In diesen beiden Fällen fallen zwar keine Zinsen an, aber die Kosten-Nutzen-Abwägung ist dennoch riskant.

Die Wirtschaft Europas und im weiteren Sinne Portugals werden Jahre brauchen, um sich vollständig von der SARS-CoV-2-Pandemie erholen zu können. Selbst wenn die Industrie innerhalb relativ kurzer Zeit wieder auf Kurs gebracht werden kann, wird die Eurozone 2020 in eine Rezession abrutschen.

Familien, die von einem Monatslohn zum nächsten leben, werden entweder ihr Erspartes aufbrauchen oder künftige Einnahmen belasten müssen, während die Welt vor ihrer größten wirtschaftlichen Herausforderung seit der Großen Depression steht. Selbst wenn Mietzahlungen ausgesetzt werden können, müssen Versorgungsdienste weiter gezahlt werden. Ansonsten kann der Anschluss an das öffentliche Versorgungsnetz gekappt werden, obgleich einige Behörden hierbei auf einen Entscheidungsspielraum drängen.

Strukturelle Ungleichheiten werden in Krisenzeiten sichtbarer. So erweisen sich die Ausgangsbeschränkungen als Privileg der oberen Mittelschicht, denn Quarantäne ist eine ressourcelastige Aktivität. Unverzichtbare Arbeitskräfte sind in den meisten Fällen im Niedriglohnsektor tätig und verrichten körperliche Arbeit. Putzpersonal, Mitarbeiter*innen der Müllentsorgung und Kassenpersonal sind alle gezwungen, ihrer Arbeit weiter nachzugehen und regelmäßig mit anderen in Kontakt zu stehen. Dabei verfügen die Wenigsten über eine persönliche Schutzausrüstung.

 

Für Obdachlose wurden bisher keine wirksamen Hilfsmaßnahmen getroffen

Obdachlosigkeit ist die extremste Form der Unfähigkeit, Kontakte zu vermeiden. Denn wie soll eine Person in Quarantäne leben, wenn sie kein Zuhause hat? Da die Zentralregierung nicht in der Lage ist, einen umfassenden landesweiten Lösungsansatz zu entwickeln, wird das Problem vor allem auf lokale Behörden und gemeinnützige Organisationen abgewälzt.

Als zweitgrößte Stadt Portugals hat Porto schon früh die Anzahl verfügbarer Unterkünfte erhöht, nämlich als die Stadt zu einem nationalen Epizentrum für COVID-19 wurde. Lissabon hat Unterkünfte für positiv getestete Personen bereitgestellt und Sporthallen in Zentren für vorübergehende Unterbringung umfunktioniert. Trotzdem stehen nicht für alle vierhundert obdachlosen Personen in der Stadt Unterbringungsmöglichkeiten bereit.

Die unzureichenden staatlichen Regelungen führen des Weiteren dazu, dass entlegene Regionen Maßnahmen von rechtlich zweifelhaftem Charakter durchsetzen können. In der Autonomen Region der Azoren, eine entlegene portugiesische Inselgruppe, ist beispielsweise eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften für Obdachlose zur Pflicht und Norm geworden. In der Hauptstadt Ponta Delgada wird die obdachlose Bevölkerung unter Polizeigewahrsam in einem umgebauten Pfadfinderzentrum gefangen gehalten. Tests und Unterbringung sind für rund fünfzig vom Rathaus identifizierte Personen nun Pflicht.

Die Beschneidung der Grundfreiheiten von Menschen, die auf der Straße leben, erscheint wie eine direkte Reaktion auf die Ängste, auf die sich Obdachlose nur selten berufen konnten. Kontaktvermeidung ist in einer Gemeinschaftsunterkunft schier unmöglich. Die Einrichtungen sind überfüllt und personell unterbesetzt. Obdachlose leben entweder weiter auf der Straße oder erhöhen ihr Risiko, sich mit einer Krankheit anzustecken, die sie aufgrund fehlender Ressourcen nicht bekämpfen können.

In Portugal leben mindestens viertausend Menschen auf der Straße, wobei zwischen 2014 und 2017 ein Anstieg von 157 Prozent beobachtet wurde. Da in dieser Gruppe häufig wiederkehrende Atemwegserkrankungen und Ernährungsprobleme auftreten, ist sie als COVID-19-Risikogruppe eingestuft.

Obdachlose haben weniger Zugang zu Schutzmaßnahmen und Diagnose. Und auch hier ist es der Regierung bisher nicht gelungen, eine wirksame Lösung bereitzustellen. Menschen, die auf der Straße leben, stehen weder Desinfektionsmittel noch Seife zur Verfügung, während Fiebermessen ohne Thermometer äußerst schwierig ist. Die NGOs müssen ihrerseits den Schutz ihrer Freiwilligen gegen die wirksame Ausführung von Hilfeleistungen abwiegen.

Tagtäglich müssen sich Obdachlose mit einer deutlichen Verschlechterung ihrer finanziellen Situation abfinden. Für Menschen, die in den nun leeren Städten betteln, werden keine staatlichen Beihilfen bereitgestellt. Dabei gibt es keine Touristen im Stadtzentrum mehr, die Obdachlosen und Straßenkünstlern zumindest mit einem dürftigen Einkommen versorgen könnten. Ohne Geld, Unterkunft und Schutz befinden sich Obdachlose im „Auge des Sturms“ und gehören zu den Vergessenen einer Regierung, die zwischen der Bekämpfung der Gesundheitskrise und einer wirtschaftlichen Katastrophe jonglieren muss. Das finanzielle Auskommen von auf der Straße lebenden Menschen kann und wird sich daher deutlich verschlechtern.

Nach dem aktuellen finanziellen Zusammenbruch werden die Daten zur Wohnungslosigkeit zeigen, wie effektiv oder unwirksam die Aussetzung der Mietzahlungen war. Wird die Anzahl der auf der Straße lebenden Menschen erneut ansteigen, sobald die Ausgangssperre zu Anfang der Sommermonate aufgehoben wird? Diese Frage wird wahrscheinlich bejaht werden müssen, denn Konjunktureinbrüche haben arme Bevölkerungsschichten immer wieder aus ihrem prekären Gleichgewicht gebracht und in eine Spirale des Abstiegs getrieben.

Die Patchwork-Reaktion auf die Obdachlosenfrage gleicht den Maßnahmen, die für die Gefängnispopulation ergriffen wurden. Als die überfüllten Haftanstalten zu einem offensichtlichen Gesundheitsrisiko wurden, brachte die PS ihre linken Verbündeten dazu, Begnadigungen auszusprechen. Die linksverortete Bloco de Esquerda (BE), die marxistisch-leninistische Partido Comunista Português (PCP) und die grüne-sozialistische Partido Ecologista „Os Verdes“ (PEV) einigten sich auf die Freilassung von 2446 Gefangenen, deren Haftzeit unter normalen Umständen zwei weitere Jahre betragen hätte.

Der Präsident Marcelo Rebelo de Sousa begnadigte seinerseits einen Teil der Häftlinge über 65 Jahren. Die von ihm einst geführte Zentrumspartei Partido Social Democrata hatte gegen den Gesetzesentwurf gestimmt. Kritisiert wurde dabei, dass die Regierung damit versuchen würde, das seit Jahrzehnten bestehende Problem der Überbelegung mit einer einmaligen Notmaßnahme zu beseitigen.

 

Portugal hat Einwanderern keinen dauerhaften Wohnsitzstatus gewährt

Portugal kam in die Schlagzeilen, als das Land Migranten und Asylbewerbern während der Coronavirus-Pandemie umfassende Bürgerrechte gewährte. Die Maßnahme sollte den kostenlosen Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdienstleistern erleichtern, während die Zahl der Tests und Behandlungen im März aufgestockt wurde.

Zwar lobte die Menschenrechtskommissarin des Europarates Dunja Mijatović die Maßnahme, deren praktische Auswirkungen sind jedoch differenzierter zu bewerten als die politischen Beweggründe. Im Jahr 2018 lebten 480.000 Migrantinnen und Migranten in Portugal, von denen die meisten aus Brasilien, Kap Verde und Rumänien stammten.

Das portugiesische Ausländeramt SEF bearbeitet jährlich Tausende von Anträgen auf Einbürgerung und Aufenthalt. Das langwierige bürokratische Verfahren, das durch eine unzureichend ausgestattete Institution weiter verlangsamt wird, verzögerte sich so extrem, dass im August 2019 die Einreichung aller neuen Anträge ausgesetzt werden musste, um den Rückstand aufholen zu können. Im Jahr 2018 konnte allein die Terminierung einer obligatorischen Visumsverlängerung bis zu zehn Monaten dauern.

Das Verfahren zur Massenlegalisierung im März sieht zwei Ausnahmen vor: Es gilt nur für diejenigen, die bereits in einem anhängigen Einwanderungsverfahren stehen, und es handelt sich um eine vorübergehende Maßnahme. Migrantinnen und Migranten ohne Papiere können während der Pandemie zwar die Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen, ihre Beantragung der Staatsbürgerschaft wird dadurch aber nicht vereinfacht.

Diejenigen, die bis zum 19. März nicht über einen laufenden Antrag verfügten, werden auch weiterhin nicht auf Sozialhilfe, Gesetze für Notunterbringung oder Arbeitsschutz zurückgreifen können. Ein Teil der Personen wird keine finanzielle Unterstützung beantragen können, obwohl sie dem portugiesischen Staat einen positiven Steuernettoertrag einbringen.

Viele Migrantinnen und Migranten ohne Papiere, die seit Monaten oder Jahren in Portugal leben und die erforderlichen Dokumente zusammenstellen, um sich auf den teuren Weg zur Staatsbürgerschaft vorzubereiten, sind nun in der gleichen Situation wie vor der einmaligen Maßnahme: Sie haben keine Papiere und keinen Anspruch auf Unterstützung und müssen sich möglicherweise auf eine noch längere Wartezeit einstellen, da das SEF mindestens bis zum 1. Juli keine neuen Anträge bearbeiten wird.

Dabei ist diese Maßnahme nur deswegen wirksam, da das aktuelle System Migrantinnen und Migranten erlaubt, Steuern zu zahlen und zum kollektiven Wohlstand Portugals beizutragen, ohne dass ihnen eine Arbeitserlaubnis erteilt wird. Um sich in Portugal einbürgern zu lassen, ist in der Regel ein unbefristeter Arbeitsvertrag erforderlich. Da das SEF seine Fallbelastung kaum bewältigen kann, haben Migranten dieselben Pflichten wie normale Bürgerinnen und Bürger, aber weniger Ansprüche auf Leistungen.

Migrantinnen und Migranten ohne Papiere, die ihren Arbeitsplatz in der kommenden Wirtschaftskrise verlieren, können keinen Anspruch auf Arbeitslosenleistungen geltend machen.

Und auch für die Tausenden, die jetzt noch ihre Staatsbürgerschaft feiern, könnte die Hoffnung von kurzer Dauer sein. Migranten und Asylbewerbern wurde vorübergehend die Staatsbürgerschaft zugesprochen, so dass sie derzeit Zugang zu Gesundheitsversorgung und sozialen Leistungen haben. Das Ende der Pandemie wird aber auch das Ende ihrer Schonfrist einläuten.

Nach dem nationalen Notstand sind sie alle gezwungen, ihr Verfahren bei dem SEF wieder aufzunehmen, wodurch ihnen alle Leistungen verloren gehen, die sie während des staatlichen Lockdowns beanspruchen konnten. Das portugiesische Ministerium für interne Verwaltung ist derzeit noch nicht in der Lage, die Anzahl der von dieser Maßnahme betroffenen Migrantinnen und Migranten zu berechnen.

Außerdem ist noch nicht einmal klar, wie die öffentlichen Einrichtungen mit diesen neuen Bürgerinnen und Bürgern verfahren werden. Ein SEF-Verfahren dient Migrantinnen und Migranten derzeit als Beleg für ihre Staatsbürgerschaft. Dabei fehlen ihnen jedoch mehrere Dokumente, die zur Beantragung staatlicher Leistungen vorzulegen sind, wie beispielsweise den vom Staat ausgestellten Ausweis, der für die Nutzung vieler öffentlicher Dienste vorgelegt werden muss.

 

Minderheiten sind unverhältnismäßig stark betroffen

Roma-Gemeinschaften befinden sich am Scheideweg zwischen Ausgrenzung und Armut. Die Roma, die von einer aufsteigenden rechtsextremen Partei rund um den Populisten Chage verleumdet werden, zunehmend in die Armut abgleiten, diskriminiert und auf politischer Ebene unterpräsentiert sind, werden nun durch den nationalen Notstand weiter in Mitleidenschaft gezogen.

Als in einer einzigen aus 16 Familien bestehenden Gemeinschaft in Alentejo 33 Mitglieder positiv auf Corona getestet wurden, schlossen und desinfizierten die Gesundheitsbehörden ihre prekäre Niederlassung und verhängten vor Ort eine besonders strenge Ausgangssperre.

Ein Drittel aller in Portugal lebenden Roma bewohnen Zelte, Schuppen und Wohnmobile. Etwa dreitausend Familien haben keinen Zugang zu fließendem Wasser und wohnen auf engem Raum, so dass Kontaktvermeidung unmöglich ist.

Einige Gruppen werden zwischen Portugal und Spanien hin- und hergeschoben und selten auf einer der beiden Seiten der Grenze unterstützt. Wenn sie Hilfe erhalten, stellen Regierungen sie unter Quarantäne und berechnen ihnen dafür die Kosten.

In Portugal leben insgesamt 37.000 Roma, von denen 91 Prozent keinen Schulabschluss haben und16 Prozent vor dem Erreichen des 14. Lebensjahrs heiraten.

Die Roma gehören zu den ärmsten Minderheiten in Portugal. Da viele ihren Lebensunterhalt auf Jahrmärkten und anderen Märkten verdienen und solche gewerblichen Zusammenkünfte verboten sind, haben sie keine Einkommensquellen mehr und häufig keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Aufgrund der im Land geschlossenen Schulen können ihre Kinder nun schwieriger von vergünstigten Mahlzeiten profitieren. Lebensmittelbanken werden bereits stark in Anspruch genommen und müssen Hilfegesuche in rekordbrechender Anzahl bewältigen.

 

Der wirtschaftliche Schaden drängt Portugal zur Lockerung der Ausgangsbeschränkungen

Nach der dritten Verlängerung des nationalen Notstands um zwei Wochen stimmte der Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erstmals offiziell einer Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit in Portugal zu. Angesichts der über 18.000 Infizierten und 600 Toten wird in dem Regierungsbeschluss eine Lockerung der Ausgangssperre gefordert, die von Alter und Wohnsitz abhängig ist.

Rebelo de Sousa forderte, dass Unternehmen den Betrieb mit gekürzten Arbeitszeiten schrittweise wieder aufnehmen könnten. In den Gefängnissen wurden die Begnadigungen ausgesetzt, da die Lage nun als ausreichend sicher eingeschätzt wurde, während Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände wieder in die Politik bezüglich gesetzlicher Arbeitsregelungen eingreifen können. Der Präsident sprach sich indessen erneut gegen eine Ortung von Infektionsmustern per Handy aus.

In einer konzertierten Aktion versuchen sich die portugiesischen Institutionen nun an der Wiederankurbelung einer Wirtschaft, die sie über Nacht zum Stillstand gebracht haben. An die Stelle von Gesundheitsmaßnahmen sollten im Juni konjunkturfördernde Maßnahmen treten.

Die Weltgesundheitsorganisation hat mit Nachdruck eine klare Empfehlung ausgesprochen: Die Beschränkungen sollten erst dann aufgehoben werden, wenn die Länder sicher sein können, dass sie durch eine Eindämmung der zweiten Welle von COVID-19-Fällen eine weitere Pandemie verhindern können. Sofern nur eine Nation bei der Viruskontrolle scheitert, kann dies einen ganzen Kontinent in Gefahr bringen.

Auf politischer Ebene ist man jedoch immer weniger bereit, die Weltwirtschaft auf Eis zu legen. Während Lissabon den öffentlichen Nahverkehr drängt, den normalen Dienst wiederaufzunehmen, und die portugiesische Zentralregierung die Aufhebung des Streikrechts aussetzt, hat Italien Buchläden wieder eröffnet und in Dänemark gehen die Kinder wieder in die Schule.

In den kommenden Monaten werden anstatt der täglichen Todesopfer die Arbeitslosenzahlen das öffentliche Interesse bestimmen. Den Bürgerinnen und Bürgern dürfte im Sommer allmählich bewusst werden, was alle Regierungen weltweit bereits heute wissen: Wir befinden uns jetzt in einer wirtschaftlichen Rezession, wie wir sie noch nie erlebt haben.

Während durch die Quarantänemaßnahmen soziale Ungleichheiten zutage getreten sind, wird die Rezession die Kluft zwischen reichen und armen Ländern verdeutlichen. Wie in den vergangenen Jahren wird Portugal aufgrund seiner Abhängigkeit von einer auf Export und Tourismus ausgerichteten Dienstleistungsindustrie Schaden nehmen.

Glücklicherweise könnte dieser Crash von kurzer Dauer sein, da davon ausgegangen wird, dass sich die Haushaltsdefizite und das BIP im Vergleich zur Finanzkrise 2007 viel rascher erholen werden. Die wirtschaftlichen Auswirkungen von zwei Rezessionen innerhalb von nur zehn Jahren werden jedoch das Leben von Millionen von Menschen der Arbeiterklasse nachhaltig beeinträchtigen.