Rentenreform, COVID-19 – ein Klima, das die Stärken und Schwächen der französischen Gewerkschaftsbewegung verdeutlicht

01.05.2020
Karel Yon, Soziologe, IDHE.S (Universität Paris-Nanterre, CNRS)

Die Ereignisse der letzten Monate – von der Rentenreform zur Gesundheitskrise – haben gezeigt, dass die Gewerkschaftsbewegung zwar geschwächt, aber weiterhin zum Kampf entschlossen ist, um dem sich immer deutlicher abzeichnenden „neoliberalen Chaos“ ein Ende zu setzen. Ob sie ihr Ziel erreichen kann, hängt von dem Engagement ihrer Mitglieder ab und ob mit den verschiedenen Linksparteien ein echter Dialog geführt werden kann.

 

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Die Protestbewegung gegen die Rentenreform war noch im vollen Gange, als in Frankreich Ausgangsbeschränkungen verhängt wurden[1]. Zunächst wollte die Regierung den Coronavirus nutzen, um die Rentenreform möglichst rasch zu verabschieden[2], musste letztlich aber auf diesen Gewaltstreich verzichten. Bei der ersten Pressekonferenz des Präsidenten der französischen Republik Emmanuel Macron am 16. März 2020 kündigte dieser neben Regelungen zur Ausgangssperre die Aussetzung sämtlicher laufender Reformen „beginnend mit der Rentenreform“ an, um sich auf die Bekämpfung der Epidemie zu konzentrieren. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels wurde in der Regierungsmehrheit sogar eine völlige Aufgabe des Reformvorhabens in Betracht gezogen.

Selbst wenn die Anliegen von gestern angesichts des aktuellen Notstands in weite Ferne gerückt zu sein scheinen, hat die Protestbewegung im Winter 2019/2020 Auswirkungen auf unsere heutige Situation. Die Streikbewegung hat die zentrale Rolle, aber auch die Schwachpunkte der französischen Gewerkschaftsbewegung offengelegt und aufschlussreiche Einblicke gegeben, die durch die Pandemiekrise weiter vertieft werden. Viele Arbeitnehmer*innen wenden sich nun an die Gewerkschaften, da sie in dem Widerspruch zwischen Ausgangssperre und Fortsetzung der wirtschaftlichen Tätigkeit gefangen sind.

Die Gewerkschaftler*innen stehen an vorderster Front, um die Arbeiterklasse über ihre Rechte in dieser Ausnahmesituation zu informieren und gemeinsam Mindestanforderungen an den Gesundheitsschutz zu verlangen. Vielfach wurde dabei von dem Recht auf Warnung („droits d‘alerte“) und Streikankündigung Gebrauch gemacht. Zum Teil wurden die Arbeitgeber*innen auch auf gerichtlichem Wege aufgefordert, Maßnahmen für den Gesundheitsschutz ihrer Arbeitnehmer*innen zu ergreifen. Ein Beispiel dafür ist das Urteil gegen Amazon Frankreich. Die Gewerkschaften sind außerdem unentbehrlich geworden, da die parlamentarische Opposition aufgrund der gestörten Arbeitsweise der politischen Institutionen kaum hörbar ist. Gleichzeitig treten aber auch ihre Schwächen in einem Kontext deutlicher zutage, in dem zahlreiche Arbeitgeber*innen den Pandemieschock nutzen, um sich über die Arbeitsgesetzgebung hinwegzusetzen und mit Unterstützung der Regierung die Gewerkschaften zu umgehen[3].

Vor diesem Hintergrund erscheint ein erneuter Rückblick auf die Proteste gegen die Rentenreform umso wichtiger aufgrund der Art und Wiese, wie sie sich entwickelt hat, wie die Proteste an frühere Mobilisierungen anknüpfen und in einigen entscheidenden Punkten von diesen abweichen, wie sie neue Wege aufzeigen, um Überlegungen zu einer Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung und zum Stellenwert der Arbeit in unserer Gesellschaft anzustellen.

 

Die lange Geschichte des Widerstands

Der Kampf gegen die Einführung eines „universellen Rentensystems“ reiht sich ein in die lange Geschichte des Widerstands gegen die Restrukturierung des französischen Kapitalismus, deren Kapitel mit den großen französischen Protestbewegungen in den Jahren 1995, 2003, 2006, 2009/2010, 2016/2017/2018 geschrieben wurde. Die Studien zur Konvergenz der Arbeitsbeziehungssysteme in Europa haben gezeigt, dass Frankreich trotz der zentralen Rolle des Staates in der Volkswirtschaft ähnliche Umwälzungen wie andere europäische Länder erfahren und somit einen französischen Weg zum Neoliberalismus beschritten hat (Baccaro, Howell, 2017).

Seit den 1980er Jahren wurde der staatliche Interventionismus neu auf die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen, die Flexibilisierung der Arbeitsgesetze und neue, von der gewerkschaftlichen Präsentation abweichende Formen der Arbeitnehmervertretung ausgerichtet. Im Zuge von Reformen, die die staatliche Kontrolle über Sozialversicherungseinrichtungen stärkten und im Kampf gegen die Defizite des Staatshaushalts subsidäre Lösungsansätze in den Bereichen Gesundheit und Renten unter Zugriff auf die Finanzmärkte förderten, wurde der Einfluss der Gewerkschaften auf dem Gebiet des Sozialschutzes erheblich eingeschränkt.

Als hochrangiger Beamter, der als Investmentbanker tätig war, verkörpert Emmanuel Macron an der Schnittstelle zwischen Politik und Finanzwelt dieses „Modernisierungsvorhaben“, das über jede politische Überzeugung hinaus seit mehreren Jahrzehnten von der französischen Verwaltungs- und Wirtschaftselite unterstützt wird (Amable, 2017). Es ist folglich nicht verwunderlich, dass Emmanuel Macron, der die Präsidentschaftswahlen 2017 für sich entscheiden konnte, da er sich von seinem Vorgänger, dem Sozialisten François Hollande distanziert hatte, unter dessen Führung er nacheinander das Amt des stellvertretenden Generalsekretärs und des Wirtschaftsministers inne hatte, den Reformkurs nicht nur beibehielt, sondern die Umsetzung der Reformen beschleunigt vorangetrieben hat.

Nach den im Herbst 2017 erlassenen arbeitsrechtlichen Verordnungen, die von den Gewerkschaften als die „XXL“-Fassung des im Frühjahr 2016 verabschiedeten Arbeitsgesetzes kritisiert wurden, nach der Abschaffung des Eisenbahner-Status, den Reformen der Arbeitslosenversicherung und der Berufsausbildung sowie dem Gesetz über die (Verwaltungs-)Umstrukturierung der öffentlichen Dienste sollte die Rentenreform den Abschluss dieser intensiven Reformabfolge bilden. Die Rentenversicherung sollte in ein universelles, staatlich verwaltetes Punktesystem umfunktioniert werden, um somit ein für alle Mal das Konzept der Renten als sozialisierter Anteil am Arbeitsentgelt vom Tisch zu schaffen und die Rente als eine von den öffentlichen Behörden im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten gezahlten Zulage neu zu definieren. Diese grundlegende politische Reform hätte die Demontage der sozialdemokratischen Architektur vollendet, die aus der Zeit der Befreiung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs stammt (Friot, 2017).

 

Die Kondensierung von 25 Jahren Sozialkampf

Der Streiktag am 13. September 2019, der von einer Vielzahl der Beschäftigten der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe in Paris (RATP) befolgt wurde, läutete eine einzigartige Protestwelle ein. Ihre Einzigartigkeit gründete vor allem in ihrer Fähigkeit, den 25 Jahre andauernden Sozialkampf in gekürzter Form abzubilden. Bestärkt durch den gewerkschaftsübergreifenden Aktionstag am 5. Dezember ist diese Protestwelle eine Kondensierung des verlängerbaren Streiks im Transportwesen wie im Jahr 1995, der spontanen Kampfaktionen der berufsübergreifenden Vollversammlungen, die seit dem Jahr 2000 organisiert werden, und einer tief verankerten Ablehnung der staatlichen Macht, die auf die Bürgerrevolten zurückgeht und nacheinander durch die Protestbewegung „Nuit debout“ im Frühjahr 2016 und die Gelbwesten im Winter 2018/2019 verkörpert wurde.

Die historische Mobilmachung der Beschäftigten der französischen Eisenbahn SNCF und der RATP, die fast zwei Monate lang im Streik waren, trug zur Nachhaltigkeit der Protestbewegung und zur Schaffung eines einzigartigen Klimas bei, das den Weg für Streiks in anderen Sektoren ebnete. So haben beispielsweise Rechtsanwältinnen und -anwälte, die sich ebenfalls in einem verlängerbaren Streik befinden, mit Formen kollektiver Verteidigung experimentiert, mit denen normalerweise ihre schwächsten Klienten wie Migrantinnen und Migranten ohne Papiere ihre Rechte einfordern. Die Proteste des wissenschaftlichen Hochschulpersonals und insbesondere der Mitarbeiter*innen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, die nicht nur gegen die Rentenpläne, sondern auch gegen eine x-te Reform zur Kommodifizierung des höheren Bildungswesens auf die Straßen gingen, gipfelten am 5. März in einem Generalstreik an den landesweiten Hochschulen.

Diese Bewegung gab den Impuls für originelle Initiativen, wie z. B. der Beschluss verschiedener akademischer Zeitschriften auf den Gebieten der Geistes- und Sozialwissenschaften, in den „Streik“ zu treten, oder die Entscheidung von digitalen Arbeitskräften, den Betrieb von Publikationsplattformen im Internet zu stören. Auch die feministische und die LGBTQI+-Bewegung sowie die Gelbwesten schlossen sich der Mobilmachung an, indem sie unter ihren eigenen Farben an den Demonstrationen teilnahmen.

 

Die zentrale Rolle und die Schwachpunkte der Gewerkschaftsbewegung

Zur Zeit der Gelbwesten-Revolte wurde zum Teil zu hastig eine Krise der Protestformen wie Streiks und die Gewerkschaftsbewegung angekündigt, die mit der Industriegesellschaft entstanden sind. Die aktuelle Bewegung macht angesichts des Konfliktpotenzials die wichtige Rolle dieser Form des Widerstands erneut deutlich. Gleichzeitig treten aber auch die Schwachpunkte hervor. Zwar handelte es sich bei diesem Streik um einen der längsten Konflikte in der jüngeren Geschichte, der eine Vielzahl von sozialen Schichten mobilisierte. Die Protestwelle dürfte aber wohl nicht zu den massivsten gehören, sowohl was die Zahl der Demonstrierenden als auch der Streikenden betrifft. Die Repression der Straßenproteste, die seit der Verhängung des Ausnahmezustands nach den Anschlägen in Paris und Saint-Denis 2015 erheblich an Schlagkraft zugenommen hat, hat die Protestaktionen erheblich beeinträchtigt. Für die Streikteilnahme liegen zwar noch keine Zahlen für den letzten Zeitraum vor, die offiziellen statistischen Daten weisen jedoch auf einen langfristig drastischen Rückgang der Protestierenden hin.

Im Jahr 1976 belief sich die Zahl der nicht gearbeiteten Tage aufgrund von Streiks in der Wirtschaft (JINT) für 1.000 Beschäftigte im Handel auf 4.000 Arbeitstage. Seit den 2000er Jahren übersteigt diese Zahl selten 100 Streiktage, wobei 2010 als das Jahr gilt, in dem sich die vorhergehenden Proteste gegen die staatliche Rentenpolitik zahlenmäßig am stärksten ausweiteten (318 Streiktage). Selbst das Ausmaß der Proteste 2016 gegen die Arbeitsmarktreform hielt sich mit 131 nicht gearbeiteten Arbeitstagen für 1.000 Beschäftigte in Grenzen (Higounenc, 2019). Frankreich steht dem übrigen Europa dabei in nichts nach: So genannte politische Streiks, die gegen Regierungen und ihre neoliberale Politik gerichtet sind, mehren sich, während ein Rückgang der sogenannten wirtschaftlichen Streiks zu beobachten ist, bei denen die Arbeitgeber*innen direkt mit konkreten Anliegen wie Löhnen, Beschäftigung oder Arbeitsbedingungen konfrontiert werden (Gall, 2013).

Angesichts der Vielschichtigkeit des Arbeitskampfs sollte der Fokus, anstatt auf politischen Entscheidungen der Gewerkschaftsvorstände, auf die strukturellen Faktoren gerichtet werden, die massive Arbeitsniederlegungen behindern. Sowohl qualitative als auch quantitative Studien zeigen, dass einer Streikaufnahme fast immer ein Dialog mit den Gewerkschaften vorausgeht. Bei einem durchschnittlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 11 Prozent sind die Chancen auf eine Infrastruktur für Mobilisierungsaktionen der Gewerkschaften jedoch sehr ungleichmäßig unter den Beschäftigten verteilt (Pignoni, 2016). Streiks werden somit tendenziell zum Vorrecht der Teile der Arbeiterschaft, deren Lage am stabilsten ist, und folglich derjenigen, die weiterhin unter relativ guten Beschäftigungsbedingungen in Bereichen tätig sind, in denen die Gewerkschaften noch über Verhandlungsstärke verfügen. Das trifft beispielsweise auf das Verkehrs- und Bildungswesen zu, die den Kern der Streikwelle im letzten Winter bildeten und in denen etwa jede(r) fünfte Beschäftigte weiterhin gewerkschaftlich organisiert ist.

Diese Feststellung sollte jedoch nicht als politische Passivität der restlichen Arbeitswelt ausgelegt werden. Es kann vielmehr die zusätzliche Hypothese aufgestellt werden, dass sich die Streiks im Winter 2019/2020 vor allem nicht auf den Privatsektor ausweiteten, da sich dieser bereits im vorangegangenen Winter weitgehend an der Bewegung der Gelbwesten beteiligt hatte. Die Studien zu dieser Bewegung belegen eine Überrepräsentation der Arbeiterklassen und besonders der Arbeitskräfte, die von ihrer Tätigkeit her selten mobilisiert oder politisiert sind, die aus Vorstadtgegenden stammen, in kleinen Unternehmen beschäftigt sind, die personenbezogene Dienstleistungen erbringen und deren Teams zersplittert sind oder die zu den vom Erwerbsleben ausgegrenzten Gruppen gehören – Sektoren also, in denen die gewerkschaftliche Vertretung marginal ist (Collectif, 2019; Collectif Quantité critique, 2019).

Aufgrund des fehlenden Bezugs zur Gewerkschaftsbewegung und ihrem Aktionsrepertoire – das manchmal einfach nicht umsetzbar ist, denn wie kann ein Streik in Kleinbetrieben oder bei Tätigkeiten ohne Arbeitskollektiv wie etwa die Haushaltshilfe aussehen? – hat die Gelbwestenbewegung eigene Formen des Widerstands entwickelt, wie insbesondere die Besetzung der Kreisverkehre. Wie bei den urbanen Aufständen 2005 in Frankreich hatte die fehlende gewerkschaftliche Organisation der Demonstrationen auch gewalttätige Ausschreitungen zur Folge.

 

Die zweifache Herausforderung für die Gewerkschaftsbewegung

Die Proteste gegen die Rentenreform reihen sich in einen längeren Protestzyklus ein, der 2016 mit der Bewegung gegen die Arbeitsmarktreform begann und in dessen Verlauf die Gewerkschaften teilweise eine zentrale Rolle spielten, während ihre soziale Repräsentativität in anderen Phasen, insbesondere durch Protestbewegungen wie „Nuit debout“ und die Gelbwesten (Yon, 2019) auf die Probe gestellt wurde. In diesem Sinne ist das soziale Konfliktpotenzial der letzten Zeit ein Indikator für die Stärken und Schwächen der französischen Gewerkschaftsbewegung. Obwohl die Gewerkschaften und vor allem die CGT nach wie vor Schlüsselakteure der sozialen Bewegungen sind, hat ihr struktureller und organisatorischer Einfluss parallel zu ihrer Fähigkeit, die Arbeitswelt in ihrer gesamten Vielfalt zu vertreten, abgenommen. Der Zeitraum 2016 bis 2020 hat die Gewerkschaftsbewegung daher vor eine zweifache Herausforderung gestellt.

Einerseits muss sie ihre Vertretungskapazitäten durch einen ehrgeizigen gewerkschaftlichen Ansatz wieder aufbauen und an die neue Arbeitswelt anpassen, die in mehreren Jahrzehnten der neoliberalen Transformation entstanden ist. Selbst die ausgefeiltesten Entwicklungspläne würden nicht genügen, wenn die Gewerkschaften nicht gleichzeitig ihre Kapazitäten für den Widerstand gegen den Neoliberalismus und zu dessen Überwindung verstärken. Das ist die zweite an die Gewerkschaften gestellte Herausforderung, die indessen einen Widerspruch in sich trägt. Die großen sozialen Protestbewegungen sind zunehmend politisch ausgerichtet und suchen immer heftiger die Konfrontation mit der neoliberalen Agenda. Die Politisierung der Gewerkschaften nimmt jedoch ab, da sich ihr Handeln auf einen zunehmend autonomen Bereich der Arbeitsbeziehungen beschränkt (Giraud et al., 2018). Die jüngsten sozialen Proteste konnten zwar erfolgreich diejenigen abmahnen, die neoliberale Reformen durchführen. Es ist jedoch nicht gelungen, eine Verbindung zwischen sozialen und politischen Forderungen herzustellen, um so die Strukturen des neoliberalen Staates selbst angreifen zu können.

Die Coronavirus-Krise verstärkt die Dringlichkeit eines fortschrittlichen alternativen Ansatzes. Einige haben argumentiert, dass die Pandemie das Ende des Neoliberalismus einläuten würde. Selbst Macron scheint die Vorzüge des Wohlfahrtsstaates wiederentdeckt zu haben, wie aus seinen Ansprachen hervorgeht. Die Rentenreform dürfte fallengelassen werden, da die Regierung infolge der Protestwellen und der Ausgangssperre die Gelegenheit verpasst hat, die Reform in ihre Regierungsagenda aufzunehmen. Die Rhetorik rund um die Sektoren, die nun als wesentlich gelten, hat zu einer plötzlichen Umkehr der Wertvorstellungen und symbolischen Arbeitshierarchien geführt. Die Arbeiterklasse und insbesondere Pflegekräfte, Beschäftigte im Einzelhandel, Arbeitskräfte im personenbezogenen Dienstleistungssektor und Lehrkräfte gelten nun als unersetzlich und für unser aller Leben von grundlegender Bedeutung. Zahlreichen Analysen zufolge sind viele der Arbeiter*innen, die heute als wesentlich gelten, die Gelbwesten oder Beschäftigten der Sondersysteme von gestern. Dieses neue Bewusstsein geht somit auch auf die sozialen Proteste zurück, die politische Kategorien hervorgebracht und öffentlich gemacht haben, mittels derer wir heute die Pandemie als einen Indikator sehen können.

Es kann indessen nicht garantiert werden, dass diese symbolischen Umwälzungen politische Handlungen nach sich ziehen, denn die Zeit nach der Krise kann sich als katastrophal erweisen. Infolge der Dringlichkeitsmaßnahmen hat die Verschuldung des Staates und der Sozialversicherung einen historischen Stand erreicht. Die Rechtsparteien und Arbeitgeberverbände betreiben Panikmache rund um die künftige Vernichtung von Arbeitsplätzen und fordern eine tiefere Verankerung der neoliberalen Sparpolitik und des Abbaus arbeitsrechtlicher Normen und Standards. Diese letzte Option ist umso wahrscheinlicher, da sich die Regierungspolitik strukturell auf einen ausgeprägten neoliberalistischen Ansatz stützt. Zur Verhinderung dieses Worst-Case-Szenario müssen sich die fortschrittlichen Kräfte der sozialen und politischen Opposition rund um einen alternativen Ansatz zusammenschließen.

In diesem Sinne unterstützen NGOs und Gewerkschaften gemeinschaftlich die #PlusJamaisCa-Forderung nach „dringenden und langfristigen Maßnahmen für soziale und Klimagerechtigkeit“, was ein erster Schritt in die richtige Richtung ist. Durch die Vereinigung des anti-neoliberalen Pols der Bürger- und Umweltbewegungen mit den wichtigsten gewerkschaftlichen Akteuren bei den Protesten gegen die Rentenreform besteht seit Kurzem Bereitschaft für einen Dialog mit links georteten Kräften zu der Frage, wie „mit dem neoliberalen Chaos gebrochen werden kann“[4]. Kommt ein solcher Dialog zustande, könnte er der anhaltenden Entpolitisierung der Gewerkschaften ein Ende setzen, die viel zu lange den Weg für ihre Niederlagen geebnet hat.

 

 

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Karel Yon ist CNRS-Forscher am Laboratorium des IDHE.S der Universität Paris-Nanterre. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte umfassen die Gewerkschaftsbewegung, die sozialen Protestbewegungen und die Beschäftigungspolitik (karel.yon@parisnanterre.fr).

 

Zitierte Referenzen

Amable B., 2017, Structural Crisis and Institutional Change in Modern Capitalism: French Capitalism in Transition. Oxford, Oxford University Press.

Baccaro L., Howell C., 2017, Trajectories of Neoliberal Transformation: European Industrial Relations Since the 1970s. Cambridge: Cambridge University Press.

Collectif, 2019, „Enquêter in situ par questionnaire sur une mobilisation. Une étude sur les Gilets jaunes“, Revue française de science politique, Nr. 69.

Collectif Quantité critique, 2019, Fracturations idéologiques au sein du mouvement des Gilets jaunes, Brüssel, Rosa Luxemburg Stiftung.

Friot B., 2017, Vaincre Macron, Paris, La Dispute.

Gall G., 2013, „Quiescence continued? Recent strike activity in nine Western European economies“, Economic and Industrial Democracy, Band 34, Nr. 4.

Giraud B., Yon K., Béroud S., 2018, Sociologie politique du syndicalisme, Paris, Armand Colin, 2018.

Higounenc C., 2019, „Les grèves en 2017. Une intensité moindre après le pic de conflictualité de 2016“, Dares résultats, Nr. 059.

Pignoni M. T., 2016, „La syndicalisation en France. Des salariés deux fois plus syndiqués dans la fonction publique“, DARES analyses, Nr. 025.

Yon K., 2019, „Holding its own: Labour among social movements in France“, in Schmalz S., Sommer B. (dir.), Confronting Crisis and Precariousness: Organized Labour and Social Unrest in the European Union, Lanham, Rowman & Littlefield.

Yon K., 2020a, „Pour Karel Yon, ‚les grèves et la contestation syndicale sont de plus en plus politiques‘“, Interview mit =Révolution permanente (online, URL: https://www.revolutionpermanente.fr/Karel-Yon-sociologue-Les-greves-et-la-contestation-syndicale-se-font-de-plus-en-plus-politiques).

Yon K., 2020b, „Le syndicalisme, la retraite et les grèves“, Contretemps, Nr. 45.

Yon K., 2020c, „La grève comme sublimation du travail“, erscheint in Langage & Société.

 

 

[1] Dieser Text enthält Aspekte der Analyse, die bereits in mehreren anderen Artikeln (Yon, 2019, 2020a, 2020b, 2020c) erläutert wurden. Während hier die Gewerkschaftsbewegung „im Allgemeinen“ thematisiert wird, liegt der eigentliche Schwerpunkt auf der Gewerkschaftsbewegung als auslösendes Moment für die soziale Konfrontation. Unberücksichtigt bleiben dabei jene Fraktionen der Gewerkschaftswelt, die sich von der Bewegung distanziert haben. Die Analyse der Bewegung aus Sicht der verschiedenen gewerkschaftlicher Strategien verdiente eine eigenständige Untersuchung. Zum Gewerkschaftspluralismus in Frankreich vgl. (Giraud et al., 2018).

[2] Im Anschluss an eine Sondersitzung des Ministerrats, die theoretisch dem Kampf gegen die Pandemie gewidmet war, hatte der Premierminister am 29. Februar den Start des dringlichen Parlamentsverfahrens angekündigt, im Rahmen dessen der Gesetzesentwurf beschleunigt angenommen werden sollte.

[3]Am 23. März hat die Regierung ein Notstandsgesetz für einen „sanitären Ausnahmezustand“, gefolgt von verschiedenen Dekrete, erlassen. Arbeitgeber*innen können nun unter Missachtung der Arbeitsrechte die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten verlängern oder Zwangsurlaub anordnen. Im Übrigen wurden die Aussagen der französischen Arbeitsministerin, die Aussetzung der Tätigkeit der Arbeitsgerichte und die durch die örtliche Arbeitsinspektion erteilten Weisungsvorbehalte von den Gewerkschaften einhellig als Ermutigung zur arbeitgeberischen Willkür angeprangert.

[4] Gemäß dem Wortlaut des Schreibens, den die Initiatoren der Petition an die politischen Kräfte gerichtet haben, darunter die französischen Zweige von Attac, Greenpeace, Friends of the Earth, Oxfam, CCFD-Terre Solidaire, Confédération paysanne, CGT, FTUF, Union syndicale Solidaires und Fondation Copernic.