1945 versus 1995, Europa versus Balkan?

Plädoyer für eine inklusive und differenzierende gesamteuropäische Erinnerungskultur

05.05.2020
Nicolas Moll

Wie oft hat man schon gehört, wir lebten „in Europa seit 1945 in Frieden“ bzw. es habe „seit 1945 in Europa keinen Krieg mehr“ gegeben? Da werden dann mal schnell die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre mit über 130.000 Toten und Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen vergessen (und der seit 2014 andauernde Krieg in der Ost-Ukraine sowieso). Darauf angesprochen höre ich dann meist die Reaktion – ach so, man habe natürlich die EU gemeint.

Das macht es leider nicht viel besser. Denn die Gleichsetzung von EU und Europa ist Teil des Problems und reflektiert die Tendenz, den (post)jugoslawischen Raum auszublenden, wenn über Europa generell und über eine europäische Erinnerungskultur im Besonderen diskutiert wird. Für diese Haltung gibt es mehrere Gründe. Zum einen die Idee, dass „der Balkan“ ja ohnehin nicht zum wirklichen, zum „zivilisierten“ Europa gehöre, ein altes Denkmuster, das, wie von Maria Todorova analysiert, im 19. Jahrhundert entstand und durch die Kriege der 1990er Jahre neu belebt und verstärkt wurde. Zum anderen die wenig rühmliche Rolle der europäischen Regierungen und auch der EG, die 1991 verkündete, die Jugoslawien-Krise sei „the hour of Europe“, die dann aber die Kriege in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina weder verhindern noch stoppen konnten und auch zu ihrer Verlängerung beitrugen. Die Erinnerung an diese Kriege passt nicht gut in ein unkritisches und undifferenziertes Narrativ des seit 1945 friedlichen Europas und der EU als erfolgreiche Friedensmacht.

In diesem Gedenkjahr 2020 jähren sich nicht nur zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern auch zum 25. Mal zwei zentrale Ereignisse des Bosnien-Kriegs. Zum einen das Verbrechen von Srebrenica im Juli 1995, das von zwei internationalen Gerichten als Völkermord eingestuft wurde und den ersten Völkermord auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellt, in einem Gebiet, das offiziell eine UN-Schutzzone war. Zum anderen das Dayton-Friedensabkommen vom November/Dezember 1995, mit dem der Krieg beendet wurde und das bis heute die Grundlage für die politische Struktur des Landes darstellt, und auch des internationalen Engagements in Bosnien und Herzegowina. Es wäre angemessen und wichtig, diesen doppelten 25. Jahrestag auch in den EU-Ländern nicht zu übersehen oder nur so nebenbei zu begehen. Zwar gilt der 11. Juli seit zehn Jahren in der Europäischen Union als offizieller europäischer Gedenktag für Srebrenica – aber wer weiß darüber schon Bescheid? Der doppelte 25. Jahrestag in diesem Jahr könnte und sollte Anlass sein, den Bosnien-Krieg und die anderen jugoslawischen Nachfolgekriege europäisch zu denken und sich dabei auch kritischer mit der Rolle der europäischen Regierungen als Teil der internationalen Staatengemeinschaft auseinanderzusetzen, in Srebrenica und darüber hinaus. Verschiedene Balkan-spezialisierte Forscherinnen und Forscher tun beides schon seit langem, aber im Mainstream der Diskurse über Europa und über eine europäische Erinnerungskultur führen Südosteuropa generell und die Jugoslawien-Kriege im Besonderen weiter nur ein Schattendasein. Auch ohne vertiefende kritische Analyse sollte es anlässlich eines solchen Jahrestages zumindest möglich sein, dass wir uns Fragen stellen: Welche Rolle spielten verschiedene europäische Akteure bei Entstehung und Verlauf des Bosnien-Kriegs, aus welchen Gründen kann man die Jugoslawien-Kriege als europäische Kriege bezeichnen, was haben diese Kriege für Europa bedeutet ? Im übrigen gibt es über die europäische Rolle in den 1990er Jahren keineswegs nur Kritisches zu berichten. Ich forsche zur Zeit über die zivilgesellschaftlichen Solidaritätsmobilisierungen mit Bosnien-Herzegowina in Europa in den Jahren 1992-1995 – ein großartiges und wenig bekanntes Beispiel europäischer Solidarität, mit einer Vielzahl von engagierten Personen und Gruppen in verschiedenen europäischen Ländern, die die demokratisch gesinnten Bürger des neuen Staates und die Opfer des Kriegs praktisch und politisch unterstützten und gleichzeitig auch die damalige europäische Politik der Nicht-Intervention und Unterstützung ethnopolitischer Friedenspläne kritisierten. Gerade in den Zeiten von Corona, wo so viel über europäische Solidarität bzw. deren Mangel gesprochen wird, kann der Rückblick auf die 1990er auch helfen, anregende Fragen zum aktuellen Thema Solidarität in Europa aufzuwerfen.

Nicht nur im Hinblick auf die 1990er Jahre, sondern auch wenn es um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Europa geht, gilt zu oft, dass Südosteuropa aussen vor gelassen wird, insbesondere der jugoslawische Raum und auch Albanien. Dabei spielte Jugoslawien im Verlauf des Zweiten Weltkriegs keineswegs eine unbedeutende Rolle : Wegen des Putsches gegen die deutschlandfreundliche Regierung in Belgrad im April 1941 entschloss sich Hitler kurzfristig, Jugoslawien anzugreifen und deswegen die geplante Offensive gegen die Sowjetunion um mehrere Monate zu verschieben – ein möglicherweise kriegsentscheidender Moment, denn so geriet der deutsche Angriff auf die Sowjetunion vor dem Erreichen Moskaus in den russischen Winter und ins Stocken, was Stalin die Zeit gab, die Verteidigung und dann Gegenoffensive zu organisieren. Das nach dem deutschen Angriff 1941 besiegte und dann zerstückelte Jugoslawien wurde Teil der gesamteuropäischen nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gegen Juden und andere Opfergruppen, mit tatkräftiger Unterstützung lokaler Kollaborateur-Regierungen, und gleichzeitig auch mit spezifischen Ausprägungen : So arbeitete beispielsweise das faschistische Ustascha-Regime in Kroatien auch auf die Vernichtung der serbischen Bevölkerung auf seinem Territorium hin. Gleichzeitig entstand mit den Partisanen unter Tito eine multinationale Widerstandsbewegung, die sich zur stärksten Partisanenbewegung innerhalb des nazibesetzten Europas entwickelte, und die es schaffte das jugoslawische Territorium weitgehend von innen zu befreien. Wobei die jugoslawische Partisanenbewegung nicht nur einen spezifischen Platz innerhalb der Geschichte des antifaschistischen Widerstands in Europa einnimmt, sondern mit ihm auch eng verflochten war : Sie stand beispielsweise ab 1943 in engem Kontakt mit der britischen Regierung und Armee, und gegen Ende des Kriegs kämpften die jugoslawischen Partisanen gegen die Wehrmacht in Serbien in Zusammenarbeit mit Einheiten der Roten Armee und der bulgarischen Armee.

Verschiedene Gründe können erklären, wieso auch in der öffentlichen europäischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg die jugoslawische Geschichte kaum eine Rolle spielt. Seit den 1990er Jahren entwickelt sich innerhalb der EU ein europapolitischer Erinnerungsdiskurs, in dem zunächst westeuropäische Perspektiven auf den Holocaust und den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus dominierten. Mit dem EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten 2004 wurde auch für diese Länder insbesondere die Holocaust-Erinnerung wichtiger, gleichzeitig drängten deren Regierungen aber darauf, auch die Erinnerung an kommunistische Verbrechen zu einem integralen und gleichberechtigten Teil offizieller europäischer Erinnerungspolitik zu machen. Symptomatisch für diese Entwicklung ist der Beschluss des Europäischen Parlaments im Jahr 2009, den 23. August, im Hinblick auf den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, offiziell als „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" zu begehen. Bis heute bleibt die europäische Erinnerungslandschaft von einem Blick aus und auf West- und Osteuropa dominiert, und dem (gleichstellenden oder differenzierenden) Fokus auf Faschismus und auf Kommunismus in diesen Teilen Europas. Da bleibt für den jugoslawischen Raum und seine Spezifizitäten wenig Platz, zumal das sozialistische Jugoslawien nach dem Bruch mit Stalin 1948 mehrere Jahrzehnte lang innerhalb Europas seinen eigenen Weg ging und im Kalten Krieg politisch weder zu West- noch zu Osteuropa gehörte. Diese Tendenz, den jugoslawischen Raum als „nicht dazugehörend“ zu sehen, wurde, wie eingangs beschrieben, in und durch die Kriege der 1990er Jahre noch verstärkt. Zwar sind mit Slowenien und Kroatien zwei der jugoslawischen Nachfolgestaaten inzwischen Mitglieder der EU, doch beide Länder erinnern sich nur ungerne an ihre historische jugoslawische (Teil-)Identität und sind nicht im Geringsten daran interessiert, innerhalb der EU die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aus einer jugoslawischen Perspektive hochzuhalten. Die anderen jugoslawischen Nachfolgestaaten sowie Albanien sind nicht in der EU und von einem Beitritt weit entfernt: Sie können sich daher auch im Hinblick auf europäische Erinnerungsfragen in der EU kaum Gehör verschaffen bzw. werden dort nicht als gleichberechtigt wahrgenommen. Ausserdem sind sich auch diese Länder in ihrer Ablehnung einig, dem Zweiten Weltkrieg aus einer gesamtjugoslawischen Perspektive zu gedenken, und sind gleichzeitig untereinander völlig zersplittert in ihren Geschichtswahrnehmungen. Diese Ablehnung einer jugoslawischen Perspektive und die gleichzeitige nationale Zersplitterung im postjugoslawischen Raum führten zum Beispiel dazu, dass in der Gedenkstätte Auschwitz der in den 1960er Jahren eröffnete und 1988 neu gestaltete Jugoslawien-Pavillon geschlossen wurde und seit vielen Jahren leer steht. Zwar begannen 2011 Vertreter der Nachfolgestaaten Jugoslawiens unter der Federführung der UNESCO mit Verhandlungen über eine Neugestaltung des Pavillons zum Gedenken an die ûber 20.000 Auschwitz-Opfer aus allen Teilen des damaligen Jugoslawiens, doch aufgrund mangelnder Einigkeit und Interesse der Regierungen bis jetzt ohne Ergebnis. Der geschlossene und leerstehende Jugoslawien-Pavillon in der Gedenkstätte Auschwitz ist eine frappierende Illustration für die Ausblendung Jugoslawiens aus einem zentralen Kapitel europäischer Erinnerungskultur. Dass auch die untereinander zerstrittenen postjugoslawischen Staaten die jugoslawische Dimension der Weltkriegsgeschichte lieber verdrängen, sollte freilich für das restliche Europa keine Ausrede sein, dies ebenfalls zu tun. Bloß weil heute etwas nicht „in“ ist, bedeutet nicht, dass es nicht wichtig ist.

Für die Entwicklung einer wahrhaft gesamteuropäischen Erinnerungskultur ist aber nicht nur die Integration der jugoslawischen Geschichte während und nach dem Zweiten Weltkrieg von Belang, sondern auch die Beschäftigung mit der jugoslawischen und post-jugoslawischen Erinnerungskultur in einem europäischen Kontext. Eine solche Auseinandersetzung kann gerade auch für die Diskussion um die historische Erinnerung an Antifaschismus und an die Rolle von Antifaschismus heute in Europa anregende Impulse liefern. Ähnlich wie in anderen osteuropäischen Ländern war auch im sozialistischen Jugoslawien Antifaschismus die staatstragende Ideologie, allerdings in ihrer spezifischen Ausprägung von „Brüderlichkeit und Einheit“ im Kontext des multinationalen Charakters der Partisanenbewegung und des jugoslawischen Staates. Diese wurde dann ab Mitte der 1980er Jahren von nationalistischen Kräften in den verschieden Teilrepubliken immer offener in Frage gestellt, und mit den Kriegen der 1990er Jahre gewannen ethnonationalistische Geschichtsdiskurse in den verschiedenen postjugoslawischen Staaten die Oberhand. In diesen nahm und nimmt der Anti-Antifaschismus einen entscheidenden Platz ein, der sich zum Beispiel in der Zerstörung oder Entfernung antifaschistischer Symbole aus der jugoslawischen Zeit und in der Rehabilitierung antikommunistischer Kollaborateure artikuliert. Gleichzeitig integriert dieser revisionistische Nationalismus den Antifaschismus teilweise auch in seine ethnozentrierte Erinnerungspolitik. So wird zum Beispiel in der Republika Srpska, dem bosnoserbisch dominierten Teil von Bosnien-Herzegowina, gleichzeitig die Erinnerung an die nationalistisch-antikommunistische Tschetnikbewegung und an Partisanenkämpfe hochgehalten, mit dem Argument, bei beiden habe es sich um serbische Widerstandsbewegungen gehandelt. In anderen Worten : Die kollaborierenden Tschetniks werden „ent-faschisiert“, die Partisanen werden „ent-kommunisiert“ und „ent-multinationalisiert“, und so entsteht eine breite Front antifaschistischen serbischen Freiheitskampfes. Gegen die antijugoslawischen Umdeutungen der Weltkriegsgeschichte sowie den Missbrauch antifaschistischer Erinnerungen protestieren wiederum regelmässig gesellschaftspolitische Gruppen, die sich in der Tradition des „wahren Antifaschismus“ aus jugoslawischer Zeit sehen. Diese organisieren ihre eignen Erinnerungveranstaltungen zu Partisanenschlachten und anderen Weltkriegsereignissen, in Kontinuität zu den im sozialistischen Jugoslawien begangenen Gedenktagen.

Ähnliche Tendenzen im Umgang mit antifaschistischen Gesichtsbildern aus sozialistischer Zeit kennen wir auch aus anderen osteuropäischen Ländern, was einen Grund mehr darstellt, die jugoslawische und postjugoslawische Geschichte des Antifaschismus europäisch einzuordnen und damit möglicherweise neue Perspektiven auf das Thema Antifaschismus und und Anti-Antifaschismus in Europa zu gewinnen. Wie jede ernsthafte Auseinandersetzung sollte auch diese in einem kritischen Sinne geführt werden, nicht nur im Hinblick auf den Anti-Antifaschismus, sondern auch auf den jugoslawischen und post-jugoslawischen Antifaschismus – ohne damit beide Haltungen gleichsetzen zu wollen. Wie gestaltete sich zum Beispiel im sozialistischen Jugoslawien das Verhältnis zwischen „verordnetem Antifaschismus“ und „gelebtem Antifaschismus“ ? Welche Verbrechen wurden im Namen des jugoslawischen Antifaschismus begangen und beschwiegen? Wie wurde Erinnerung im Zeichen von Antifaschismus organisiert, und dabei auch manipuliert und instrumentalisiert? Inwieweit stellt sich der heutige Antifaschismus diesen Fragen bzw. begnügt sich mit einem moralischen und nostalgischen Überlegenheitsgefühl gegenüber nationalistischen Kräften? Unter welchen Bedingungen macht die Benutzung der Begrifflichkeiten „Faschismus“ und „Antifaschismus“ in heutigen Kontexten weiter Sinn?

Postjugoslawische Erinnerungdiskurse an den Zweiten Weltkrieg in ihren gesamteuropäischen Kontext einzubetten ist auch deswegen sinnvoll, weil es hier nicht nur Parallelen sondern auch Verflechtungen gibt. So verbindet die EU ihre Erweiterungspolitik ebenfalls gegenüber dem westlichen Balkan unter anderem mit der Erfüllung gewisser erinnerungspolitischer Standards, insbesondere im Hinblick auf den Holocaust, und gleichzeitig präsentieren sich die nationalistischen Erinnerungsdiskurse in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens gerne auch als europäisch. So hat zum Beispiel Kroatien im Zuge der EU-Annäherung europapolitischen Gedenkstandards an den Holocaust übernommen, beispielsweise durch die Teilnahme am europaweiten Gedenken am 27. Januar anlässlich der Befreiung von Auschwitz im Jahre 1945. Das hindert(e) aber dortige Regierungen gleichzeitig keineswegs daran, die Rolle kroatischer Kollaboration und die Bedeutung des Ustascha-Konzentrations- und Vernichtungslagers Jasenovac gezielt herunterzuspielen, und auch europapolitische Erinnerungbegrifflichkeiten für die Legitimierung eigener nationalistischer Opfer- und Täterdiskurse zu instrumentalisieren. Ähnliche Tendenzen finden sich in Serbien, wo zum Beispiel die Holocaust-Referenz genutzt wird, um eigene Leiden auf dieselbe Stufe zu stellen, und wo signifikanterweise der 9. Mai als „Tag des Sieges über den Faschismus“ einer der offiziell begangenen Gedenk- und Feiertage darstellt. Der 9. Mai 1945 ist zwar für die Befreiung Jugoslawiens und auch Serbiens kein entscheidendes Datum – diese Befreiungen erfolgten weitgehend bereits im vorigen Halbjahr. Aber diese Beteiligung an den europäischen Gedenkfeierlichkeiten am 8./9. Mai zur Kapitulation Hitler-Deutschlands erlaubt es der Belgrader Regierung, den serbischen Beitrag zur Befreiung Europas vom Faschismus hervorzuheben und Serbien – inklusive der rehabilitierten Tschetniks – als Teil der gesamteuropäischen Widerstandsfamilie zu präsentieren.

Auch diese Tendenz, europapolitische Erinnerungsdiskurse zum Zweiten Weltkrieg für eigene nationale Zwecke zu verwenden, kennen wir aus anderen europäischen Ländern. Gleichzeitig ist für den (post)jusgoslawischen Raum auch spezifisch, dass in den 1990er Jahren von nationalistischen Kräften unterschiedlichster Couleur die Erinnerungen an innerjugoslawische Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gezielt mobilisiert wurden : Mit der Beschwörung der Rückkehr der Feinde aus den 1940er Jahren wurde Stimmung gegen den Nachbarn und für den Krieg gemacht und die eigenen jetzigen Kriegshandlungen legitimiert. Auch in heutigen Erinnerungsdiskursen werden die Kriege der 1990er Jahre und der Zweite Weltkrieg gerne zum Zwecke ethnonationaler Instrumentalisierung miteinander verknüpft und vermischt. So wird beispielsweise in der Republika Srpska die Erinnerung an Jasenovac als serbischer Opferort auch gezielt als Gegen-Erinnerung im Hinblick auf Srebrenica 1995 hochgehalten, unter anderem mit dem Argument, wer im Zweiten Weltkrieg Oper war könne in den 1990er Jahren nicht Täter gewesen sein. Wobei wir wieder bei 1995 wären, und dessen Bedeutung für die europäische Geschichte, die ich eingangs skizzierte. Um Missverständnisse zu vermeiden : Mir geht es nicht darum, die Kriege der 1990er Jahre gegen den Zweiten Weltkrieg auszuspielen, oder den Balkan gegen Europa – ganz im Gegenteil. Mir geht es darum, diese Daten und Räume zusammen zu denken. Nicht um sie zu vermischen oder um sie gleichzusetzen. 1995 ist nicht 1945. Und umgekehrt. Der Balkan und darin der jugoslawische Raum sind nicht dieselben wie andere europäische Räume. Aber sie sind auch europäische Räume. Und erst durch dieses Zusammen-Denken wird es möglich, Spezifizitäten und Unterschiede, Ähnlichkeiten und Parallelen, sowie transeuropäische Verflechtungen und Zusammenhänge zu erkennen, herauszuarbeiten und zu verstehen. Kurzum: Wer 2020 – und darüber hinaus – in einem wirklich europäischen Sinn gedenken will, wer das Wort „europäische Erinnerungskultur“ wirklich ernst nehmen möchte, der muss den jugoslawischen und postjugoslawischen Raum mitdenken und darf weder das jugoslawische 1945 noch 1995 vergessen. Ein letztes Argument möchte ich noch dafür nennen, warum wir jugoslawische Geschichte und Erinnerungsdiskurse aus dem (post)jugoslawischen Raum generell stärker wahr- und ernst nehmen und dabei auch balkanisierende Stereotype hinter uns lassen sollten. Sowohl die jugoslawische Zeit wie auch die postjugoslawischen Zersplitterungen stehen exemplarisch für eine der zentralen Herausforderungen europäischer Erinnerungskultur: Inwieweit lässt sich aus unterschiedlichen und oftmals antagonistischen Erinnerungen etwas differenzierend Gemeinsames entwickeln ? Diese Frage ist um so relevanter für die Diskussionen um ein europäische Erinnerungskultur, als ihre Schwierigkeit mit dem Erstarken nationalistischer Tendenzen und Erinnerungsdiskurse unter den EU-Mitgliedstaaten weiter zunehmen wird.

Über den Autor:

Nicolas Moll hat an der Universität Freiburg i. Br. in Neuester Geschichte promoviert und lebt seit 2007 in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina, Europa. Er arbeitet zu erinnerungspolitischen Fragen im bosnisch-herzegowinischen und europäischen Kontext und zu den Solidaritätsbewegungen mit Bosnien-Herzegowina in Europa in den 1990er Jahren. Mehr Infos : https://www.nicolasmoll.eu/

Einige Literaturhinweise zum Vertiefen der angesprochenen Themen:

→ Zur Geschichte des südosteuropäischen und jugoslawischen Raums in seinem europäischen Kontext :

Marie-Janine Calic, Geschichte Jugslawiens im 20. Jahrhundert, Beck, 2010 (Reihe „Europäische Geshichte im 20. Jahrhundert“)

Edgar Hösch, Geschichte des Balkans, Beck, 2016

Ulf Brunnbauer / Klaus Buchenau, Geschichte Südosteuropas, Reclam, 2018

Michael Martens, Im Brand der Welten. Ivo Andric – ein europäisches Leben, Zsolnay, 2019

→ Zur Wahrnehmung des Balkans in Europa und der westlichen Welt:

Maria Todorova, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Primus, 1999

→ Für die europäische Politik gegenüber Jugoslawien und in der Jugoslawienkrise, siehe z.B.:

Josip Glaurdic, The hour of Europe. Western Powers and the Breakup of Yugoslavia, Yale UP, 2011

→ Für die Entwicklung der Erinnerungskulturen im postjugoslawischen Raum seit den 1990er Jahren und deren Einbettung in ihren europäischen Kontext, siehe z.B.:

Todor Kuljic, Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum, Verbrecher Verlag, 2010

Ljiljana Radonic, Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Campus, 2010

Nicolas Moll, Fragmented memories in a fragmented country: memory competition and political identity-building in today’s Bosnia and Herzegovina, Nationalities Papers 41/6, 2013, 910-935

Jelena Subotic, Yellow Star, Red Star: Holocaust Remembrance after Communism, Cornwell University Press, 2019

Ana Milosevic / Tamara Trost (Hg.), Europeanisation and Memory Politics in the Western Balkans. Palgrave Macmillan, 2020 (Publikation für Sommer 2020 geplant)