Interview mit Anne-Cécile Mailfert, Präsidentin der Fondation des Femmes, Frankreich

16.06.2020
Ethan Earle

Anne-Cécile Mailfert ist eine französische feministische Aktivistin und Präsidentin der Frauenstiftung (Fondation des Femmes). Als ehemalige Präsidentin der Vereinigung Osez le Féminisme! ist sie Autorin der beiden Bücher Tu seras une femme, guide féministe pour ma nièce et ses ami.e.s (Du wirst eine Frau sein, feministischer Leitfaden für meine Nichte und ihre Freund*innen) aus dem Jahr 2017 sowie Ils ne décideront plus pour nous, Débats sur l'IVG, 1971-1975 (Sie entscheiden nicht mehr für uns, Debatte über den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch, 1971-1975) aus dem Jahr 2015, die beide bei Éditions les Petits Matins erschienen sind.

 

Ethan Earle (EE): Können Sie uns die Fondation des Femmes und ihre Arbeit vorstellen?

Anne-Cécile Mailfert (ACM): Die Frauenstiftung, die im März 2016 ins Leben gerufen wurde, setzt sich für die Verteidigung der Frauenrechte und den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen ein. Die Organisation steht unter der Ägide des philanthropischen Netzwerks Fondation de France und unterstützt Hilfsorganisationen darin, weiblichen Gewaltopfern zu helfen. Diese Hilfen beinhalten:

  • finanzielle Unterstützung durch die Auszahlung von Spenden, die dank der Großzügigkeit von der Öffentlichkeit und Mäzenen gesammelt wurden;
  • materielle Unterstützung durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten für Vereine in der Cité Audacieuse, dem ersten Ort mitten in Paris zur Förderung des Feminismus; sowie
  • rechtliche Unterstützung durch die Force Juridique (Rechtskraft), ein Expertennetzwerk aus fast 200 Rechtsanwält*innen und ehrenamtlichen Jurist*innen, die den Vereinen beratend zur Seite stehen.

 

EE: Überall dort, wo Ausgangsbeschränkungen angewandt wurden, hat die Gewalt im häuslichen Bereich zugenommen. Können Sie uns sagen, wie die Situation in Frankreich ist? Hat die Regierung angemessen reagiert? Wie war die Reaktion der Fondation des Femmes?

ACM: Frankreich hat hier keine Ausnahme gebildet; im Zuge der Ausgangsbeschränkungen hat die häusliche Gewalt unter Partnern und innerfamiliärer Gewalt zugenommen. Bereits in der ersten Woche des Lockdowns meldete das Innenministerium einen Anstieg der Meldungen über häusliche Gewalt unter Partnern um 36%. Am Ende der Ausgangssperre berichtete die Polizei von einer Verdopplung der Einsätze wegen häuslicher Gewalt und in einigen Gebieten von einem Anstieg um bis zu 70%.

Die Probleme, die durch die Ausgangsbeschränkungen verursacht werden, sind vielfältig. Frauen, die Opfer von Gewalt sind, sind zusätzlicher Gewaltanwendung ausgesetzt (wegen der Zunahme der gemeinsam verbrachten Zeit, belastende Auswirkungen der Gesundheits- und Wirtschaftskrise) und sehen sich mit größeren Schwierigkeiten – manchmal gar der Unmöglichkeit – konfrontiert, ihre Wohnungen zu verlassen (beispielsweise auf Grund der Schließung von Unterbringungszentren oder der Problematik, diskret Hilfe zu suchen). All dies sind Herausforderungen, denen die Vereine Rechnung tragen mussten, um die Frauen zu unterstützen, während sie gleichzeitig selbst die Auflagen durch COVID-19 umsetzen mussten und die notwendige Ausrüstung zur Durchführung ihrer Aufgaben benötigten (Laptops für die Arbeit im Homeoffice, Masken, Desinfektionsmittel usw.).

Anhand der von der Regierung eingeführten Maßnahmen sollte es den weiblichen Opfern erleichtert werden, Gewalttaten zur Anzeige zu bringen, indem beispielsweise die Polizei per SMS (über die 114) alarmiert werden konnte, Apotheker angesprochen werden konnten oder indem in Supermärkten Empfangsschalter eingerichtet wurden, die von den Vereinen betreut wurden. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen ist allerdings unterschiedlich und löst die Betreuungs- und Sicherheitsproblematik nicht. Bereits lange vor der Ausgangssperre und dem COVID-19 warnten die Vereine vor dem Mangel an Mitteln für die Politik zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, insbesondere vor der Unterfinanzierung von speziellen Frauenunterkünften. Diese Schwierigkeiten sind mit den Ausgangsbeschränkungen nicht verschwunden, im Gegenteil, sie haben sich dadurch noch deutlicher manifestiert.

Auf der Grundlage dieser Beobachtungen rief die Frauenstiftung die Aktion #ToutesSolidaires zur Förderung der Solidarität unter Frauen ins Leben. Diese reagiert auf die dringendsten Bedürfnisse der Vereine, nämlich Ausrüstung für ihre Arbeit und Lösungen für Notunterkünfte. Die Aktion ist insofern außergewöhnlich, da wir unsere Rolle in normalen Zeiten eher darin sehen, das zu finanzieren, was nicht in den Bereich der öffentlichen Politik fällt, das heißt eher innovative Initiativen der Vereine zu fördern und dem Staat zum Beispiel die Finanzierung von Wohnraum zu überlassen. Aber diese Zeiten waren alles andere als normal, und es war undenkbar, Frauen in dieser Situation ohne Lösungen zurück zu lassen. Die Kampagne zum Aufruf an die Großzügigkeit der Öffentlichkeit ermöglichte es uns, mehr als 2,5 Millionen Euro zu sammeln, die an die Vereine verteilt wurden, damit sie ihre Telearbeit organisieren und den Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, Soforthilfe leisten konnte

Diese Hilfe erfolgt in Form der Finanzierung von mehr als 40.000 Übernachtungen bis zum Ende des Sommers, um Frauen und ihren Kindern, die gezwungen sind, ihr Zuhause zu verlassen, eine sofortige und gute Unterkunft zu bieten. Darüber hinaus werden Nahrungsmittelhilfen und lebensnotwendige Güter bereitgestellt. Zusätzlich wurden Programme, wie der Chat zur Unterstützung weiblicher Gewaltopfer des Vereins En Avant Toute(s), der nun 7 Tage die Woche über die Website Comment on s'aime ? (Wie lieben wir uns?) zur Verfügung steht oder die Warn-App App'elles des Vereins Résonantes finanziell unterstützt. Hierbei handelt es sich um technische und professionelle Lösungen, die während der Ausgangsbeschränkungen auf Grund ihrer Diskretion besonders gefragt waren.

 

EE: Viele Frauen sagen, dass sie erschöpft aus der Zeit der Ausgangsbeschränkungen herausgehen, da die COVID-19-Pandemie einmal mehr soziale und geschlechtsspezifische Ungleichheiten offengelegt hat. Welche Auswirkungen werden die vergangenen Monate auf das Leben der Frauen in der „Welt nach Corona“ haben?

ACM: Es überrascht nicht, dass es niemals gut für die Frauenrechte sein kann, wenn die Frauen mehr Zeit zu Hause verbringen. Über das Risiko einer stärkeren Exposition gegenüber häuslicher Gewalt hinaus sind viele Probleme – die im Übrigen auch bereits in der „Welt vor Corona" existierten – stärker empfunden worden oder haben sich verschlimmert. Der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch wurde komplizierter, die psychische Belastung für die Frauen, die gleichzeitig von zu Hause arbeiteten und das Homeschooling ihrer Kinder organisieren mussten, war enorm, und die Gesellschaft hat sich auf die Frauen verlassen, die im Pflegebereich und in anderen höchst prekären feminisierten Berufen arbeiten. Im Gegenzug hat sich die schwache Präsenz von Frauen in den Entscheidungsgremien oder in den Medien natürlich nicht verändert oder gar verschlechtert! Sie haben daher allen Grund, erschöpft aus dem Lockdown herauszugehen.

Natürlich ist es zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig, mittel- oder langfristige Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen auf die Frauen und ihre Rechte vorherzusagen. Was die Vereine bereits vorausgesehen haben und was sich in den letzten Tagen auch gezeigt hat, ist, dass sich mit dem Ende der Ausgangsbeschränkungen jene Frauen äußern, die während des Lockdowns nicht sprechen konnten oder deren Probleme von ihren Nachbarn oder den Vereinen nicht erkannt wurden. Diese neue Welle der Betreuungsanfragen wird den Druck auf die Vereine erhöhen, dem wir vor allem auch dann standhalten müssen, wenn die Epidemie abflacht! Die Ausgangssperre bietet des Weiteren Gelegenheit, zu verstehen, dass Opfer häuslicher Gewalt dauerhaft in einer Ausgangssperre leben, da sie der ständigen Kontrolle ihres Partners ausgesetzt sind und sich nicht frei bewegen können.

Ebenso ist es notwendig, die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen für Frauen und ihre Rechte zu ermitteln, egal, ob in wirtschaftlicher Hinsicht oder in Bezug auf die körperliche oder geistige Gesundheit – sowie ebenfalls im Hinblick auf den Zugang zu reproduktiven und sexuellen Rechten. Wie viele so genannte „Frauenleiden“ wurden als Folge der Ausgangsbeschränkungen falsch oder zu wenig diagnostiziert? Welche Auswirkungen hat dies auf den Gemütszustand der Frauen? Wie viele Frauen mussten auf Notlösungen zurückgreifen, um über die gesetzliche Frist hinaus abzutreiben? Angesichts der Situation war die französische Regierung nicht bereit, die Fristen zu lockern, was für einen positiven Impuls für die Frauenrechte in den kommenden Monaten nichts Gutes verheißt.

 

EE: Nach dem Gesundheitsschock durch die Pandemie ist die Rede von radikalen Veränderungen bei wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen und in der öffentlichen Politik. Wie sollten diese Veränderungen aus feministischer Sicht aussehen?

ACM: Wir unterstützen weiterhin die Förderung von Mitteln für die öffentliche Politik zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und zur Gleichstellung der Geschlechter. Die Frauenstiftung stand 2019 während einer großen Mobilisierung gegen Frauenmord an der Seite der Familien von Opfern und der Vereinigungen, wodurch sich die Regierung veranlasst sah, eine landesweite Diskussion über häusliche Gewalt zu organisieren. Und auch wenn diese Diskussion zu echten gesetzlichen Fortschritten geführt hat, konnten die vereinbarten Mittel keine richtige kopernikanische Revolution zum Schutz von weiblichen Gewaltopfern bewirken. Hier sticht vor allem der Mangel an Notunterkünften ins Auge, ein Bereich, in dem Frankreich seinen internationalen Verpflichtungen im Rahmen der Istanbul-Konvention nicht nachkommt. Die Ausgangsbeschränkungen haben gezeigt, dass vor allem Orte geschaffen werden müssen, an denen Frauen sicher untergebracht werden können. Ohne Ressourcen werden wir nicht in der Lage sein, häusliche Gewalt langfristig zu reduzieren.

Außerdem sollten die Leitprinzipien, die für gerichtliche Anhörungen bei häuslicher Gewalt während der Ausgangssperre galten, in allgemeines Recht umgewandelt und diese Fälle immer mit Dringlichkeit und Priorität verhandelt werden, da Dringlichkeit hier stets geboten ist. Es besteht immer die Notwendigkeit, so schnell wie möglich zu handeln, wenn eine Frau in Gefahr ist.

Ganz allgemein, wenn wir einen Zauberstab hätten, um die Welt nach COVID-19 als feministische Welt zu zeichnen, müssten wir die Arbeit, die heute hauptsächlich von Frauen geleistet wird, sei es im Beruf oder zu Hause, aufwerten. Die „Pflege“-Berufe, die während dieser Gesundheitskrise im Vordergrund standen, werden mehrheitlich von Frauen ausgeübt; sie sind unterbezahlt und werden abgewertet. Ebenso haben ja die Ausgangsbeschränkungen vielleicht zumindest ein wenig Licht auf das Ausmaß der Arbeit, die von Frauen im Haushalt geleistet wird, geworfen. Generell werden Frauen schlechter bezahlt, und sie arbeiten mehr als Männer! Den Frauen müssen die Mittel für ihre Unabhängigkeit zurückgegeben werden.

 

EE: Können Sie uns für die Zukunft der Gleichstellung der Geschlechter einen guten Grund zur Hoffnung geben?

ACM: Das Bewusstsein der Gesellschaft für die Auswirkungen häuslicher Gewalt an Frauen wächst und hat dazu geführt, dass während der Ausgangsbeschränkungen viermal mehr Spenden an unsere Stiftung zur Unterstützung unserer #ToutesSolidaires-Kampagne eingegangen sind. Die Öffentlichkeit ist sensibilisiert und die Vereine leisten unglaubliche Arbeit, um diesen Frauen zu helfen. Es gibt immer mehr von uns, die für Gleichberechtigung und gegen Gewalt kämpfen und wir werden es am Ende schaffen!

 

Spenden können Sie auf fondationdesfemmes.org (Webseite auf Französisch).