„Grüne Welle“ bei den Kommunalwahlen in Frankreich

Fazit und Ausblick

01.07.2020
Ethan Earle

Am Sonntag, dem 28. Juni, gingen Wähler*innen in ganz Frankreich an die Urnen, um über die Verwaltungen von 4.820 Kommunen, darunter alle größten Städte des Landes, zu entscheiden.

Die Abstimmung fand in einem nie dagewesenen Abstand von 100 Tagen zum ersten Wahlgang statt, der größten Kommunalwahl der EU, an der etwa 35.000 Gemeinden teilnahmen. Da die Covid-19-Pandemie eine Verschiebung des zweiten Urnengangs erforderlich machte – wodurch die Kommunalverwaltungen, in denen in der ersten Runde keine absolute Mehrheit erreicht wurde, in einer kritischen Zeit in einen merkwürdigen Schwebezustand gerieten – waren alle Augen auf diese Ergebnisse gerichtet und darauf, was sie für die Zukunft der französischen Politik bedeuten würden.

Wenn Sie eine Schlagzeile über die Ergebnisse vom Sonntag gesehen haben, dann sprach sie wahrscheinlich von einer „grünen Welle“ an, die über Frankreich gerollt sei. Tatsächlich besiegten die Spitzenkandidat*innen der EELV-Die Grünen die rechten Amtsinhaber*innen in der EU-Hauptstadt Straßburg, der drittgrößten Stadt Lyon, der zweitgrößten Stadt Marseille und der wichtigen Hafenstadt Bordeaux, die seit über 70 Jahren von der Rechten gehalten wird.

Beim Blick unter die Oberfläche sehen wir, dass diese Siege durch sehr unterschiedliche politische Konstellationen unterstützt wurden. Trotz einiger von den Grünen dominierten Listen handelt es sich bei den meisten um breitere Koalitionen mit massiver Unterstützung durch Sozialisten und Kommunisten, während die sich in Marseille ausbreitende Bewegung Printemps marseillais („Marseiller Frühling“) zusätzlich La France Insoumise und Bürgerbewegungen umfasst, angeführt von Michèle Rubirola, die anfangs von EELV-Die Grünen abgelehnt wurde, weil sie mit einer so breiten Koalition kandidieren wollte (der ihre Partei schließlich doch beitrat).

Neben diesen grün gefärbten Siegen setzten sich sozialistische Kandidat*innen in ihren traditionellen Hochburgen Lille, Nantes, Dijon und vor allem in Paris durch, wo die amtierende Bürgermeisterin Anne Hidalgo mit Unterstützung der Grünen und der Kommunisten in einem Dreierrennen fast 50 Prozent der Stimmen davontrug. Tatsächlich weisen viele dieser „roten“, oder vielleicht „rosa“ Siege auch grüne Schattierungen auf. Für die Sozialisten dienten die Wahlen als notwendiger Ausleseprozess für ihre Partei, die seit der katastrophalen Präsidentschaft von François Hollande massenhaft Wähler*innen verloren hat.

Was von dieser Wahl noch hängenbleibt, ist die geringe Beteiligung. Frankreich ist stolz auf seine hohe Kommunalwahlbeteiligung, aber am Sonntag blieben fast 60 Prozent der 16,5 Millionen Wahlberechtigten den Urnen fern, was der Anführer von La France Insoumise Jean-Luc Mélenchon in seiner Wahlnachtrede als „Streik der Bürger*innen“ bezeichnete.

Auch wenn die derzeitige Pandemie sicherlich eine Rolle spielte (43 Prozent der Befragten nannten die Angst vor Covid-19 als Hauptgrund für ihre Stimmenthaltung), ist klar, dass viele französische Wähler*innen entweder überdrüssig, enttäuscht oder wütend über den Zustand der Politik in ihrem Land sind. Viele Menschen, die sich in jüngster Zeit bei den Protesten der Gelbwesten oder anderen sozialen Bewegungen Gehör verschafften, waren mit den auf dem Tisch liegenden Optionen eindeutig nicht zufrieden.

Wenn wir uns nun den äußersten rechten Rand anschauen, so ist seit einiger Zeit klar, dass die Strategie von Marine Le Pens Rassemblement National darin bestehen würde, seine Stellung in einigen wenigen Schlüsselstädten zu stärken und auf Tiefe statt auf Breite zu setzen. [LNET1] Das RN setzte sich in der mittelgroßen südfranzösischen Stadt Perpignan durch, konnte aber ansonsten keine Überraschungssiege verzeichnen. Ob die Partei es schafft, diese Strategie allmählich zu einer Perpignanisierung Frankreichs auszuweiten – um den Journalisten Cole Stangler zu zitieren – bleibt unklar, aber die ersten Reaktionen nach der Wahl deuten nicht darauf hin, dass der Stern der Partei heller strahlt.

Der größte Verlierer der Wahlnacht ist zweifellos Präsident Emmanuel Macron. Der Präsident war gedemütigt durch seinen verpfuschten Versuch, Paris zu gewinnen – sein erster Kandidat trat nach einem Sexting-Skandal zurück, und seine zweite Kandidatin legte ihr Amt als Gesundheitsministerin zu Beginn der Covid-19-Pandemie nieder, um dann noch nicht einmal in den Stadtrat gewählt zu werden. Gleichzeitig gelang es seiner Partei La République en Marche nicht, auch nur eine einzige Stadt mit mehr als 100.000 Einwohner*innen zu gewinnen. Der einzige Sieg, den er für sich beanspruchen kann, ist der des derzeitigen Premierministers Edouard Philippe, der sich in der Hafenstaat Le Havre als alter Hochburg der Republikaner durchsetzte. Aber selbst dieser bescheidene Sieg stiftet Verwirrung, da es Philippe verfassungsrechtlich verboten ist, gleichzeitig als Premierminister und als Bürgermeister zu amtieren.

Macron wird sich in dieser kommenden Periode auf sein übernatürliches Selbstbewusstsein verlassen, um über das Ergebnis hinwegzukommen, aber er muss zweifellos besorgt sein, insbesondere angesichts des möglichen Verlusts eines Segments seiner urbanen Wähler*innenschaft an die Grünen, eine Verschiebung, die Pauline Graulle bereits im Dezember letzten Jahres vorhergesehen hat.

Die Zusammensetzung und die Ideologie dieser grünen Wähler*innenschaft – und die politische Orientierung ihrer neu gewählten Amtsträger*innen – ist das am heftigsten diskutierte Thema nach der Wahl. EELV-Die Grünen ist eine relativ leere Partei mit wenigen aktiven Mitgliedern und einer kleinen Infrastruktur, und ihre Wähler*innenbasis reicht von liberal-bürgerlichen Biofans bis hin zu leidenschaftlichen jungen Aktivist*innen, die von ihrer Überzeugung angetrieben werden, dass uns noch zwölf Jahre bleiben, um die Klimakatastrophe zu stoppen.

Mehrere Kommentator*innen haben prophezeit, dass EELV-Die Grünen sich zur nächsten La République en Marche entwickeln werden, indem sie die Unzufriedenheit der Bevölkerung und ein attraktives Marketing nutzen, um sich in Richtung einer weder-rechts-noch-linksgerichteten Form des Regierens zu bewegen, die den Status Quo letztlich nur zementieren wird. Andere behaupten, dass die breiteren Koalitionen hinter dieser „grünen Welle“ dem Projekt ein sozialdemokratisches Rückgrat verleihen werden und vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2022 die Blaupause für die Bildung einer erneuerten Linksfront liefern könnten.

In seinen Stellungnahmen am Sonntagabend schien Mélenchon nicht übermäßig begeistert von dieser letzteren Möglichkeit, war er doch in letzter Zeit sicherlich der Königsmacher und Hemmschuh nationaler Projekte der linken Einheit. Doch auch er muss aus der Wahl gedemütigt hervorgehen in dem Wissen, dass sein eigenes Projekt selbst in der breiteren Linken alles andere als hegemonial ist.

Wie immer wird Klarheit durch Kampf entstehen – zwischen den beiden Flügeln der EELV-Die Grünen, zwischen den Grünen und ihren Koalitionspartnern unterschiedlicher Rotschattierungen und zwischen diesen nun scheinbar linksregierten Städten und der neoliberal-rechten Dualität, die den Diskurs auf nationaler Ebene nach wie vor bestimmt.

Schon jetzt ist klar, dass es nun politischen Raum gibt, um diesen Kampf auszutragen, dem die breite linke Wähler*innenschaft seit 2017 ausweicht und der eine Chance darstellt, die nicht vertan werden sollte.

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Ethan Earle ist als politischer Berater in Paris tätig und ehemaliger Projektmanager im New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie Leiter des Projekts Eine Zeit in der Hölle: Brennpunkte französischer Politik.