Reset: Der Verkehr nach Corona?

Warum der öffentliche Verkehr sich neu erfinden muss

08.07.2020
Timo Daum

Einleitung

Im Zuge der Coronakrise haben Städte überall auf der Welt die Gelegenheit genutzt, Straßen für Autos zu sperren und Fußgängerzonen sowie Radwege zu erweitern. Aber wie sieht die Zukunft dieser Initiativen aus, wenn sich das Leben normalisiert? Droht gar ein „Reboundeffekt“ (also ein Anstieg) beim privaten Autoverkehr, sollte der öffentliche Verkehr weiterhin gemieden werden? Die Krise birgt allerdings auch die Chance für den öffentlichen Verkehr, sich neu zu erfinden und in Post-Corona-Zeiten eine neue Rolle zu spielen.

Der Verkehr während Corona – Verkehrswende im Zeitraffer?

Im Zuge der Coronakrise war in fast allen Städten und Regionen ein teilweise drastischer Rückgang des Verkehrs zu verzeichnen – insbesondere des individualmotorisierten und öffentlichen. Auf der anderen Seite gewannen zu Fuß und mit dem Rad zurückgelegte Wege relativ an Bedeutung. Viele empfanden die Kombination dieser beiden Effekte als Erleichterung, war doch weniger Stress im Verkehr spürbar, weniger Tote und Verletzte zu beklagen, und die Schadstoffkonzentrationen gingen auf breiter Front zurück. Der Effekt ist allerdings trügerisch denn fast überall ist der relative Anteil des Autoverkehrs gestiegen.

Gleichzeitig mehren sich die Hinweise, dass Luftschadstoffe die Verläufe von Corona-Erkrankungen verschärfen, sei es durch Vorschädigungen der Atemwege oder weil die Viren sich an Schadstoffpartikel anheften können - ein handfestes Argument also, nach der Lockerung der Lockdown-Einschränkungen nicht wieder zum status quo ante zurückzukehren. Viele Städte und Gemeinden ergriffen die Chance, im Windschatten der Corona-Abstandsregelungen längst fällige Veränderungen am öffentlichen Verkehrsraum vorzunehmen.

New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio rief eigens einen Beirat für die Gestaltung des Verkehrs nach Corona-Zeiten ein, dem unter anderem Sarah Kaufman von der New York University angehört. Sie zieht angesichts dieser »Ausnahmeerfahrung« die Konsequenz: »Jetzt ist die Zeit gekommen, um zu überdenken, wie wir den öffentlichen Raum verteilen.«

Tactical Urbanism – kleine Ursache, große Wirkung

Berlin

Berlin und seine Pop-Up-Radwege, die ein Radeln unter Wahrung von Abstandsregeln erlauben, und sofort eifrig benutzt (und fotografiert!) wurden, sind nur ein prominentes Beispiel für „tactical urbanism“. Viele Maßnahmen für den Ausbau der Fahrradinfrastruktur waren ohnehin bereits geplant, kamen aber bislang eher mühsam voran. Durch die Corona-Krise waren neue Argumente da, Radfahren mit Abstand wurde das Gebot der Stunde, und plötzlich spurt auch die Verwaltung. Felix Weisbrich, Straßen- und Grünflächenamtsleiter im Berliner Bezirk Friedrichshain/Kreuzberg wurde zum Medienstar.

Bemerkenswert war die Geschwindigkeit, mit der die neuen Verkehrsinfrastrukturen aus dem Boden schossen. Mit Hilfe von Vermessung durch Drohnen und intensiver Koordination zwischen Behörden gelang es dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Radwege binnen 48 Stunden einzurichten. Als „tactical urbanism“ bezeichnet man solche Ausführung von Eingriffen in den urbanen Raum, die einerseits schnell, günstig und unbürokratisch durchzuführen sind – eher mit Farbe als mit baulichen Maßnahmen, und die gleichzeitig eine hohe Transformationskapazität mit sich bringen. Die Berlinerinnen und Berliner trauten ihren Augen nicht, dauert so etwas im Berliner Kompetenzgerangel sonst Jahre oder Jahrzehnte!

Ein Anstieg des Radverkehrs war unmittelbare Folge, und für den Verkehrsexperten Weert Canzler nicht überraschend: »Jede Verkehrsinfrastruktur induziert ihre Nachfrage. Wer Radverkehrsinfrastruktur sät, erntet Radverkehr.« Die konservative Opposition befürchtet derweil, im Windschatten der Corona-Krise würden Fakten geschaffen. Nicht zu Unrecht, von den Verantwortlichen ist bereits von "auf Dauer stellen" und "Verstetigung" der Radwege die Rede. Bei zunächst unpopulären Maßnahmen wie Verkehrsberuhigungen, Wegfall von Parkplätzen, Umweltzonen und dergleichen ist generell ein Irreversibilitätseffekt zu beobachten: Einmal erkämpfte und installierte Maßnahmen erweisen sich - selbst bei anderem politischen Willen - als nicht rückgängig zu machen.

London

Vor Corona benutzten neun Millionen Menschen in London täglich die öffentlichen Verkehrsmittel. Die in Großbritannien geltenden Abstandsregeln von zwei Metern führten dazu, dass die Fahrgastkapazität auf 15 Prozent gesunken ist, so Andy Byford, oberster Verantwortlicher der Londoner Verkehrsbetriebe (TfL). Für die berühmten Doppeldeckerbusse in der britischen Hauptstadt gilt ein Limit von 20 Personen, normalerweise fassen sie 87 Passagiere.

Im Mai 2020 stellte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan dann das Programm »London Streetspace“ vor, das eine mögliche Verzehnfachung des Radverkehrs und ein Verfünffachen des Fußverkehrs ermöglichen soll: » Durch die schnelle und kostengünstige Verbreiterung von Gehwegen, die Schaffung temporärer Radwege und die Sperrung von Straßen für den Durchgangsverkehr können Millionen Menschen die Art und Weise ändern, wie sie sich in unserer Stadt bewegen«, sagte Khan. Das Büro des Bürgermeisters berät sich dabei mit den Bezirken, um die Streetspace-Finanzierung für Schilder, Aufkleber, Plastikbarrieren und Verkehrsumleitungen rasch umzusetzen. Die Stadtverwaltung ist zudem bemüht, diese temporären Maßnahmen zu dauerhaften zu machen.

Einige Bezirke, wie z.B. Camden, haben zusätzlich die Möglichkeit für die Bevölkerung geschaffen, auf einer Online-Crowdsourcing-Kartenplattform Vorschläge, Hinweise und Kommentare zu hinterlassen. „Camden Safe Travel“ wird von den Bürger*innen eifrig genutzt, und ermöglicht es der Verwaltung, schnell auf Vorschläge aus Bevölkerung zu reagieren und Feedback für bereits erfolgte Maßnahmen zu erhalten.

Mailand

Die norditalienische Stadt Mailand ist eine vergleichsweise kleine, dicht besiedelte Stadt mit 1,4 Millionen Einwohnern, von denen 55% öffentliche Verkehrsmittel nutzen, um zur Arbeit zu gelangen. Die durchschnittliche Pendelstrecke beträgt weniger als 4 km, so dass viele Einwohner vom Auto auf andere Verkehrsmittel umsteigen könnten. Die Lombardei – mit mehr als zehn Millionen Einwohnern Italiens bevölkerungsreichste Region– war eine der am stärksten von der Pandemie betroffenen Regionen in Europa. Die Region und vor allem ihre Hauptstadt Mailand sind gleichzeitig europaweit Spitze, was die Luftverschmutzung angeht.

Die Stadt hat angekündigt, dass im Sommer 2020 im Zuge der Aufhebung der Covid-19-Beschränkungen 35 km Straßen umgebaut werden sollen, um mehr Platz für Radverkehr und Fußverkehr zu schaffen – schnell und unbürokratisch. Der Strade Aperte-Plan umfasst temporäre Radwege und Geschwindigkeitsbegrenzungen von 30 km/h. Ziel ist dabei auch, »Bars, Handwerker und Restaurants zu unterstützen. Wenn es vorbei ist, werden die Städte, die noch über diese Art von Wirtschaft verfügen, einen Vorteil haben, und Mailand möchte zu dieser Kategorie gehören.« so Marco Granelli, stellvertretender Bürgermeister von Mailand.

Die Stadt Mailand hat sich prominente Beratung geholt, die ehemalige Verkehrskommissarin von New York City, Janette Sadik-Khan, arbeitet mit der Stadt an ihrem Programm zur Neuerfindung des Verkehrs nach Ende der Pandemie. Sie sagt: »Der Mailänder Plan ist so wichtig, weil er eine gute Vorlage für einen Neustart in den Städten darstellt. Es ist die einmalige Gelegenheit, die Straßennutzung neu zu betrachten und sicherzustellen, dass gewünschte Ergebnisse erzielt werden: nicht nur Autos so schnell wie möglich von Punkt A nach Punkt B zu bringen, sondern allen ein sicheres Fortkommen zu garantieren.«

Barcelona

Die Stadt Barcelona verfolgt, seitdem 2015 ein linkes Bündnis an die Regierung kam, einen ehrgeizigen Plan, um den Autoverkehr in der schadstoff- und lärmgeplagten katalanischen Metropole zu verringern – dafür wurden neue Straßenbahnen und Radwege gebaut. Während in Madrid eine rechts-rechtspopulistische Regierung seit Mitte 2019 an der Macht ist, von der keine derartigen Impulse zu erwarten sind, wird in Barcelona der einmal eingeschlagene Weg auch in der zweiten Amtszeit von Ada Colau verfolgt, um eine neue Art der Mobilität zu verwirklichen.

Seit Anfang 2020 wird in Barcelona eine 95 km2 große Umweltzone eingerichtet, die „Barcelona Ring Roads Low Emission Zone“, in der Fahrzeuge ohne Umweltzeichen nicht fahren dürfen. Vorbild ist „Madrid Central“, die in der spanischen Hauptstadt bereits 2019 eingeführte Umweltzone, in der es gelang, den Stickstoffdioxidgehalt (NO²) innerhalb eines Jahres um 48% zu senken.

Die linke Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, die im Mai 2019 wiedergewählt wurde, kommentiert die eingeführten Änderungen im Verkehrsbereich so: »Sie sind gekommen, um zu bleiben«. Barcelona hat den Klimanotstand ausgerufen, die Corona-Krise habe »die Dringlichkeit erhöht, diesen Übergang viel schneller zu gestalten«. »Verschmutzung ist eine Normalität, zu der wir nicht zurückkehren wollen. Wir wollen keine Straßen voller Autos.", so die Bürgermeisterin Ada Colau. Wie in anderen Städten auch, wurden in Barcelona während des Lockdowns mehr Verkehrsflächen für Fußgänger und Radfahrer eingerichtet, darunter 21 km Radwege und 12 km Fußwege.

Der Verkehr nach Corona

Mittlerweile werden überall in Europa die Pandemie-Restriktionen aufgehoben, das Verkehrsaufkommen nimmt wieder zu, und es deutet sich ein weniger idyllisches Szenario an: Der motorisierte Individualverkehr nimmt wieder an Fahrt auf – gespeist durch Ängste vor Ansteckung mit dem Covid-19. Der Verkehrsforscher Dangschat nennt das »my car is my castle«-Phänomen, er befürchtet sogar das Aufflammen bzw. die  Verschärfung von Konflikten im öffentlichen Raum.

Die Städte versuchen mit vielen Mitteln, eine Rückkehr zum vorherigen status quo zu verhindern. »Die urbane Mobilität wird durch die aktuelle Krise erschüttert« schreiben eine Reihe europäischer Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in einem offenen Brief an die EU-Kommission. Sie sehen die Gefahr eines »Rebound-Effekts« (eines Ansteigens) bei den Treibhausgasen und der Luftverschmutzung. Ihre Lösung, um den »enormen Schwung zur Beibehaltung der verbesserten Luftqualität« nicht zu verspielen, liegt in einer Modernisierung des öffentlichen Verkehrs: »Der öffentliche Verkehr spielt hier eine zentrale Rolle: Die Erneuerung von Busflotten mit emissionsfreien Fahrzeugen steht an, und zwar schnell.«

Der ÖPNV in der Zangenkrise

Der öffentliche Verkehr, wie wir ihn kennen, könnte der große Verlierer der Coronakrise sein. In der Coronakrise hat der ÖPNV drastische Fahrgasteinbrüche erlebt, und damit erhebliche Umsatzeinbußen zu verzeichnen. Die Probleme sind zudem nicht einfach mit der Aufhebung der Beschränkungen wie weggefegt, Abstandsgebote und Maskenpflicht im öffentlichen Raum werden möglicherweise noch lange bestehen bleiben. Die Angst, sich in den „Gefäßen“ – so der Jargon für die kollektiven Fahrzeuge Busse und Bahnen – anzustecken, tut ein Übriges, um die Fahrgastzahlen niedrig zu halten.

Schon vor der Krise hatte es der ÖPNV nicht leicht: oft unterfinanziert, modernisierungsbedürftig, am Limit der Kapazität. Nicht nur gilt das Wirtschaftlichkeitsprinzip, die Ideologie der Wirtschaftlichkeit hinterlässt ihre Spuren und ermöglicht kaum Raum für Innovationen. Eine Vielzahl an neuen Fahrzeugen einerseits (E-Scooter, E-Fahrräder, Shuttles, Mikrobusse) und neuen Nutzungsweisen bzw. Beförderungsmodellen andererseits (Ride-Sharing, Ride-Pooling, Car-Sharing etc.) setzen den althergebrachten ÖPNV unter Druck. Die Mittel, um bei diesen innovativen Mobilitätsangeboten mitzuspielen, fehlen in vielen Fällen.

Zu allem Überfluss drängen plattformkapitalistische Akteure auf den Plan, die mit nutzerfreundlichen, App-getriebenen Mobilitätsangeboten insbesondere ein junges, urbanes Publikum ansprechen.

Die Herausforderung durch die Plattformökonomie beschreibt Timm Fuchs, Beigeordneter für Verkehr beim Deutschen Städte- und Gemeindebund, folgendermaßen: »Wie in anderen Bereichen auch, geht es bei der Digitalisierung des öffentlichen Verkehrs um Plattformökonomie, Big Data und künstliche Intelligenz. Für die Kommunen und Kunden bieten sich durch die Verfügbarmachung von Daten öffentlicher wie privater Mobilitätsanbieter neue Möglichkeiten für eine bessere Verkehrs- und passgenaue Routenplanung. Daneben geht es um die digitale Vernetzung der Verkehrsträger durch anbieterübergreifende Plattformen, integrierte Auskunfts- und Buchungssysteme, Echtzeitinformationen und optimierte Betriebsabläufe bis hin zu autonomem Fahren.« Eine Menge Veränderungen stehen an, für die die Träger des ÖPNV oft weder das Geld, noch das Personal, noch die regulatorischen Spielräume haben.

Uber kündigte kürzlich an, in Falkensee in der Nähe von Berlin eine Art Nachbarschaftstaxi einrichten zu wollen – Mobilitätsplattformen machen dem ÖPNV immer mehr in dessen Terrain Konkurrenz. Uber über seinen neuen Service “Der Falkenseer”: „Für einen Festpreis von 5 € kannst du ab sofort Fahrten von jeder Adresse in Falkensee zu den Bahnhöfen Falkensee, Finkenkrug und Seegefeld und wieder zurück über die Uber App buchen.“ Genau solche Zubringerdienste werden seit Jahren immer wieder von den öffentlichen Verkehrsbetrieben gefordert, um auch außerhalb der Großstädte eine tatsächliche Alternative zum Privat-PKW anzubieten! Ab September 2020 soll der Service dann allerdings schon 8 Euro kosten.

Die Folge für den ÖPNV ist eine „ökonomisch-epidemiologische Zangenkrise“, wie man sie als doppelte Einschnürung in Anlehnung an Klaus Dörre auch von der Autoindustrie kennt. Coronabedingte Einnahmeverluste, Abstandsregelungen und Ängste der Fahrgäste einerseits, Umsatzeinbußen und Unterfinanzierung andererseits nehmen ihn in die Zange. Beispiel Berlin: Da sahen sich die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) genötigt, die Anschaffung von schadstoffarmen Elektrobussen im Aufsichtsrat zu blockieren, aus Angst vor einer Überschuldung und der daraus möglicherweise erwachsenden Finanzierungsengpässe für die Löhne und Gehälter der Beschäftigten.

Auch in Barcelona droht den öffentlichen Verkehrsbetrieben Corona-bedingt die Pleite, 200 Millionen Euro Umsatzeinbußen stehen zu Buche. Die Bürgermeisterin fordert daher ein nationales Gesetz zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs. Die Coronakrise eröffnet aber auch die Möglichkeit, aus dem Finanzierungsparadigma auszubrechen. Das Argument der Finanzierbarkeit und Wirtschaftlichkeit müsste endlich fallen, Debatten um kostenlosen Nahverkehr oder 365-Euro-Tickets könnten Rückenwind bekommen.

Michael Brie und Judith Dellheim schreiben in ihrem gerade erschienenen Plädoyer für einen kostenlosen Nahverkehr denn auch: »Ein ÖPNV mit Nulltarif kann eine sinnvolle Orientierung sein, damit es nicht so weitergeht (…) mit der heutigen autozentrierten Gesellschaft«.

Über den Autor

Timo Daum publiziert seit vielen Jahren zu den Themen digitaler Kapitalismus, datengestützte Mobilitätslösungen und digitale Ökonomie. Zur Zeit ist Timo Daum Gastwissenschaftler der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und Gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH.