Der Bürgerkonvent für das Klima

Klimapolitik zwischen deliberativer Demokratie und Entpolitisierung

20.08.2020
Nessim Achouche, Projektmanager der RLS Brüssel

Am 21. Juni legte der Bürgerkonvent für das Klima (Convention citoyenne pour le climat) dem französischen Präsidenten seine 150 Empfehlungen vor. Im Einklang mit dem Pariser Übereinkommen, das Frankreich 2015 anlässlich der COP21 unterzeichnete, empfahl der Konvent eine Senkung der französischen Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 1990.

Allein schon die Gründung und der Ausgang des Bürgerkonvents werden in die französische Geschichte eingehen. Denn obgleich der Konvent mit seinem Schlussbericht teilweise als Folge und Reaktion auf die Bewegung der gilets jaunes (Gelbwesten) zu werten ist, deuten sein Ansatz und die Umsetzung auf die Bereitschaft zur Entpolitisierung des Klimawandels hin.

Unbekanntes politisches Objekt

Der Bürgerkonvent für das Klima schien als Bürgerversammlung einen historischen Auftrag erhalten zu haben, da dieser auf einem einzigartigen deliberativen Demokratiekonzept basiert. De facto ist der Konvent die institutionelle Antwort auf eine massive soziale Bewegung, die im Oktober 2019 ihren Anfang nahm. Sie wurde durch einige wenige Protestierende ausgelöst, die sich gegen eine höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe stellten. Die gilets jaunes entwickelten sich jedoch schnell zu einer Massenbewegung im Kampf gegen die neoliberale Politik der französischen Regierung unter Emmanuel Macron.

In Reaktion auf die Gelbwesten-Krise brachte der Präsident die grand débat national (die große nationale Debatte) auf den Weg, die trotz hoher Erwartungen relativ unergiebig blieb. Macron wollte mit dem Bürgerdialog seinen Landsleuten und ihren Sorgen wieder näher kommen und eine öffentliche Debatte anstoßen. Die Gestaltung des Dialogs erinnerte jedoch an die „cahiers de doléances“ (Beschwerdehefte) im Ancien Régime, nur dass sich der absolutistische Herrscher damals nicht persönlich mit den Klagen befasste. Gleichzeitig wurden direkte Verhandlungen zwischen den Vertreter*innen der Gelbwesten und mehreren namhaften Intellektuellen zur Gründung des Bürgerkonvents zum Klima eingeleitet.[1]

Die neue politische Bühne wurde im Herbst 2019 ins Leben gerufen. Mit der stichprobenartigen Auswahl der Mitglieder sollte eine Bürgerversammlung einberufen werden, die die französische Gesellschaft aus soziologischer Sicht abbilden würde. Der Konvent bestand folglich in etwa gleicher Anzahl aus Frauen und Männern, seine Altersstruktur spiegelte die der Nation insgesamt wider, während die Sitze zu ungefähr gleichen Teilen auf die Stadt- bzw. Landbevölkerung sowie Berufs- und Bildungskategorien entfielen.

Der Bürgerversammlung wurden auf drei Ebenen Sachverständige und höhere Beamte zugewiesen, die mit der Erstellung und Präsentation der Arbeitsagenda betraut waren und die Bürgerversammlung bei ihrer Arbeit unterstützen sollten. Sie trugen zudem zur Entwicklung des Rahmenwerks und der Formulierung der Inhalte des Schlussdokuments bei. Eine der stellvertretenden Vorsitzenden des Konvents war insbesondere Laurence Tubiana, Frankreichs Botschafterin für den Klimawandel und Sonderbeauftragte für die COP21 in Paris, die heute als CEO der Europäischen Klimastiftung fungiert.

Neun Monate lang hielt der Bürgerkonvent zahlreiche Anhörungen und Sitzungen mit Expert*innen, Führungskräften aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, Gewerkschaftler*innen sowie Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und NRO ab, um sich umfassend zu informieren, bevor die Themen mit einer letzten Stichprobe von 183 Personen diskutiert wurden.

Ergebnisse und Aufnahme

Analog zu den fünf gesonderten Arbeitsgruppen, die in den neun Monaten gebildet wurden, entfielen die endgültigen Empfehlungen auf fünf Kategorien:

  • Lebensmittel und  Ernährung 
  • Wohnungswesen 
  • Konsum 
  • Produktion und Arbeit
  • Mobilität

Die Schwerpunkte entsprechen den Bereichen, in denen durch das Zusammenspiel der Reformvorhaben die zuvor festgelegten Ziele umgesetzt werden sollen.

Die in einem 460 Seiten langen Bericht dargelegten Vorschläge[2] reichen von der Neuverhandlung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens zwischen der EU und Kanada (CETA) und der Überarbeitung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU bis hin zur Verpflichtung von Unternehmen, die ihren Aktionären jährlich mehr als 10 Millionen Euro auszahlen, 4 Prozent ihrer Dividenden zur Energiewende beizutragen. Das Bürgergremium gab zudem die Empfehlung aus, den Einsatz von Pestiziden bis 2025 zu halbieren und Anreize für die Ausweitung agroökologischer Praktiken zu schaffen (ein von der Welternährungsorganisation befürworteter Ansatz), um zu erreichen, dass diese Anbaumethoden bis 2040 auf rund 50 Prozent der französischen Produktion angewendet werden. Ein weiterer wichtiger Vorschlag war die Förderung des Schienenverkehrs durch die Senkung der Mehrwertsteuer und Investitionen in die Infrastruktur. Dem Konvent zufolge sollten zudem Inlandsflüge für Zielorte gestrichen werden, die mit dem Zug innerhalb von höchstens vier Stunden erreicht werden können.

Die Bildung und die Ergebnisse des Bürgerkonvents lassen verschiedene Schlussfolgerungen zu. Zunächst sollte jedoch die Reaktion des Präsidenten auf den Bericht genauer untersucht werden. Direkt im Anschluss an die Entgegennahme der Vorschläge veranstaltete Macron einen prunkvollen Empfang in den Gärten seiner Residenz, dem Elysée-Palast, zu dem alle Mitglieder des Konvents sowie zahlreiche Journalistinnen und Journalisten geladen waren. Analog zur politischen Agenda (oder der sorgfältig getimten Agenda des Präsidenten) fand der Empfang direkt am Tag nach dem zweiten Wahlgang der französischen Kommunalwahlen statt, aus denen die französische grüne Partei EELV[3] und ihr linkes Bündnis als große Wahlsieger hervorgingen (weitere Informationen hier).

Dank dieses Timings konnte Macron zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er erfüllte einige der Forderungen der Gelbwesten nach einer demokratischen Umgestaltung des politischen Systems in Frankreich und streckte zudem den Wähler*innen die Hand entgegen, die sich bei den Kommunalwahlen weitreichend für grüne Bürgermeister*innen ausgesprochen und Umweltbelange ganz oben auf die politische Tagesordnung gesetzt hatten.

Macrons Ansprache in der grünen Umgebung des Präsidentengartens war in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Nachdem er den Moment als historisch bezeichnet und die Arbeit des Konvents gelobt hatte, ging er rasch dazu über, Beschränkungen aufzuerlegen und die Vorschläge in eine andere Richtung zu lenken. Macron erklärte, dass er alle 150 Empfehlungen annehmen würde – ausgenommen von vier Vorschlägen, die er aus verschiedenen Gründen als nicht umsetzbar einschätzte. Dabei handelte es sich unter anderen um die Besteuerung von Konzernen in Höhe von 4 Prozent. Emmanuel Macron zufolge wäre eine solche Steuer ein falsches Signal an Anleger*innen, auf die das Land derzeit angewiesen wäre, um als attraktiver Investitionsstandort die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie abfedern zu können. Ein weiterer prompt abgelehnter Vorschlag betraf die Verankerung des Umweltschutzes in der Präambel der französischen Verfassung. Der Präsident begründete seine Entscheidung damit, dass der Umweltschutz dadurch über den Grundfreiheiten stehen könnte.

Diese Verwerfungen lassen bereits erahnen, dass andere Empfehlungen ebenfalls überarbeitet oder abgeschwächt werden dürften. Ein Beispiel dafür ist das erwähnte Verbot von Flügen, das nunmehr für Städte gilt, die in weniger als zweieinhalb Stunden mit dem Zug erreicht werden können. Die Neuverhandlung des CETA wird ihrerseits vertagt und einer weiteren „Prüfung“ unterzogen, während die EU-Verhandlungen zum Mercosur-Handelsabkommen schnell voranschreiten.

Entsprechend dem sich abzeichnenden Gesamtbild werden somit alle Maßnahmenvorschläge, die potenziell einen Kurswechsel in der französischen Steuer-, Handels- und Energiepolitik hätten begründen können, entweder nicht berücksichtigt oder seitens der Regierung auf den St. Nimmerleinstag verschoben. Es spricht zudem Bände, dass der Bürgerkonvent nicht zu einer Erörterung des künftigen Energiemixes Frankreichs aufgefordert wurde und damit die immer drängende Frage der Kernenergie ignoriert wird, während der Bau des neuen EPR-Reaktors auf dem Prüfstand steht und wegen seiner überhöhten Kosten und mangelnden Sicherheit heftig kritisiert wird.[4]

Nicht erwähnt wurde zudem die öffentliche und private Finanzierung von Investitionen in fossile Brennstoffe, die durch französische Finanzinstitute auf internationaler Ebene abgewickelt werden. Des Weiteren wurde kein Wort über Unternehmen wie EDF und Total verloren, obwohl letzteres zu den 20 weltweit größten Umweltverschmutzern gehört.

Es wäre wohl untertrieben zu sagen, dass hier einiges ausgelassen wurde.

Konvent der Bürger oder Konvent des Präsidenten?

Wie mit den verbleibenden Empfehlungen verfahren wird, ist weiterhin unklar. Macron hielt sich in seiner Rede verdeckt und merkte lediglich an, dass ein Teil der vorgeschlagenen Maßnahmen dem Parlament im Januar 2021 als „Gesetzesvorschlag des Bürgerkonvents zum Klima“ vorgelegt würden und dass die restlichen durch Präsidialdekrete verabschiedet oder als Vorschläge für Haushaltsänderungen vorgesehen werden könnten. 

 

Die vorstehenden Maßnahmen sind zum Teil vielversprechend und ein Zeichen dafür, dass der Klimaschutz nunmehr in grundlegende Politikbereiche Eingang gefunden hat. Allerdings liegt der Schluss nahe, dass Macron den Konvent als Unterstützungstool für die Wahl einsetzte.

Die Klimapolitik Frankreichs ist nicht immun gegen das von Macron geprägte politische Konzept des en même temps (dt. parallel dazu). Diesen Ausdruck einer gewollten Gleichzeitigkeit hat Macron in Reden und Interviews im Wahlkampf 2017 und auch in seiner Amtszeit als Präsident wiederholt verwendet. Das Konzept, das die „gemäßigte“ oder zentristische Regierungsführung von Macron versinnbildlichen soll, kam kürzlich bei der Abstimmung über das Finanzgesetz, die nur wenige Tage nach Macrons Rede in den Gärten des Elysée-Palasts stattfand, erneut zur Anwendung. Die französische Nationalversammlung, in der die Partei La République en Marche von Macron mehrheitlich vertreten ist, lehnte sämtliche Änderungsanträge ab, die als Reaktion auf die drohende Wirtschaftskrise geänderte Steuervorschriften sowie bedeutende Klimaschutzmaßnahmen nach sich gezogen hätten.[5]

Abgelehnt wurde zudem die vorgeschlagene „Konditionalität“, nach der Unternehmen, die in irgendeiner Form staatliche Beihilfen erhalten, Umweltauflagen erfüllen müssen. Davon ausgenommen wurden Unternehmen, an deren Kapital der französische Staat direkt beteiligt ist. Über Firmen, die diese anspruchslosen Voraussetzungen nicht erfüllen, werden Bußgelder in Höhe von lediglich 375.000 Euro verhängt – jedoch nur, wenn ihr Umsatz mehr als 500 Millionen Euro beträgt. Das Konzept der „grünen Konditionalität“ wurde breit diskutiert und im Zuge der Coronakrise als eine Möglichkeit angeführt, Unternehmen und Industrien mit hohen Klimabelastungen – wie die Luftfahrt- oder Automobilbranche – zu dringend notwendigen sozialen und ökologischen Anpassungen anzuhalten.[6]

Die Verwerfung dieser Empfehlung, die den Staatshaushalt verstärkt auf die Orientierung und die Vorschläge des Konvents ausgerichtet hätte, verdeutlicht die Weigerung der Machthaber, von ihrer bedingungslosen Unterstützung des Großkapitals und dem Schutz der Großaktionäre und Anlegerkreise abzurücken.

Der Bürgerkonvent für das Klima ist zweifellos ein einzigartiges politisches Experiment, das innovative Formen der Demokratie beinhaltet. Das Mandat, das dem Konvent von der exekutiven Gewalt in dieser Tragweite erteilt wurde, macht jedoch eines deutlich: Die Regierung hält an einer Analyse fest, im Rahmen derer eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Einflussfaktoren der Klimakrise und ihren sozialen Auswirkungen unerwünscht ist.

Die Botschaft dieses Experiments ist somit folgende: Wir können die Klimakrise irgendwie beheben, indem wir kleinere, auf einzelstaatliche Ebene beschränkte Maßnahmen treffen, die Thematik der Energieerzeugung und der Eigentumsverhältnisse im Energiesektor ausklammern und das Klima und die soziale Gerechtigkeit außen vor lassen. All dies unter dem Mantel von Bürgernähe und beworben als neue Form einer sogenannten Klimademokratie.

Es ist durchaus vorstellbar, dass sich solche grünen und innovativen Demokratiepraktiken auch in anderen westlichen Ländern als Reaktion auf den zunehmenden Klimaaktivismus und das Drängen der Wissenschaft auf die Eindämmung des Klimawandels durchsetzen könnten. Am Beispiel von Frankreich zeigt sich jedoch, dass sich solche Konzepte als untauglich und durchaus als kontraproduktiv erweisen können, da die Lösungsansätze für die beiden Ziele – Bewältigung der Klimakrise und Erneuerung der westlichen Demokratien – in die falsche Richtung gehen. 

 

[1] https://lvsl.fr/sauver-le-climat-renouveler-la-democratie-lepopee-de-la-convention-citoyenne-pour-le-climat/

[2] https://propositions.conventioncitoyennepourleclimat.fr/pdf/ccc-rapport-final.pdf

[3] Europe Écologie Les Verts (Europa Ökologie – Die Grünen)

[4] https://www.reuters.com/article/us-france-nuclear/french-auditor-says-edf-must-ensure-financing-to-build-new-nuclear-idUSKBN24A1Q5

[5] https://reporterre.net/Loi-de-finances-Macron-discourt-sur-l-ecologie-ses-deputes-la-demolissent

[6] https://www.carbonbrief.org/coronavirus-tracking-how-the-worlds-green-recovery-plans-aim-to-cut-emissions