Wem gehört die Stadt?
Konferenzbericht zur Veranstaltung „Spurwechsel – Einstiege in die autofreie Stadt“
Unsere Städte leiden unter dem stetig anwachsenden Autoverkehr – Staus, hoher Flächenverbrauch für parkende Autos und Straßen, und schlechte Luft sind untrügliche Zeichen, dass wir in unseren Städten eine Stärkung des Umweltverbundes (Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV) und weniger individuellen Autoverkehr brauchen. Während des Lockdowns in der Corona-Krise, als der Autoverkehr stark zurückgegangen war, konnten wir erleben, wie schön unsere Städte sein könnten. Studien weisen darauf hin, dass in den Regionen der Welt, die unter starker Luftverschmutzung leiden, auch die Zahl der Todesfälle durch COVID-19 höher ist als in anderen Regionen.[1] Doch gegen die Luftverschmutzung kann etwas getan werden: Die spanische NGO „Ecologistas en Acción“ (Ökolog*innen in Bewegung) hat bspw. nachgewiesen, dass die verkehrsberuhigte Zone in der Innenstadt von Madrid tatsächlich zu einem starken Rückgang der Luftverschmutzung geführt hat.[2]
Wir müssen den öffentlichen Raum zurückerobern, weg von der „autogerechten Stadt“ hin zur „menschengerechten“ Stadt, um bequeme, bezahlbare, sichere und zuverlässige Mobilität für alle zu gewährleisten. Öffentlicher Nahverkehr ist im tatsächlichen Wortsinn „öffentlicher Raum“, der uns allen gehört.[3] Der wachsende Druck auf dem Wohnungsmarkt und die steigenden Mieten führen dazu, dass öffentliche Räume als Treffpunkt und „zweites Wohnzimmer“ wieder wichtiger werden. Und nicht zuletzt zeigt sich, dass lebendige Straßen gut für den sozialen Zusammenhalt im Quartier sind.[4] Menschen mit nicht ganz so dickem Geldbeutel leben eher an stärker luftverschmutzten Straßen und sind daher größeren Gesundheitsbelastungen ausgesetzt – das ist schlicht ungerecht, und muss bekämpft werden: durch bezahlbare Mieten und weniger Autoverkehr in unseren Städten.
Am 22. Juli 2020 veröffentlichte die deutsche Gewerkschaft ver.di, in der die Beschäftigten des ÖPNV organisiert sind, gemeinsam mit Fridays for Future eine Presseerklärung[5], in der sie gute Arbeitsbedingungen und gute Bezahlung für die Beschäftigten in der anstehenden Tarifrunde fordern, denn Klimaschutz und ein attraktiver, gut ausgebauter ÖPNV gehören zusammen. Der ÖPNV in Deutschland braucht bis 2030 mindestens 100.000 neue Beschäftigte – wenn sich jedoch die belastenden Arbeitsbedingungen nicht verbessern, wird sich das Personal nicht finden lassen.[6] Aber es geht nicht nur um eine Stärkung des ÖPNV, sondern auch um sicheren Radverkehr und Fußverkehr in unseren Städten: in Berlin wurden zwischen Januar 2020 und September 2020 bereits 15 Fußgänger*innen und 14 Radfahrer*innen im Straßenverkehr getötet.[7]
Und natürlich müssen wir auch aus Klimaschutzgründen den automobilen Straßenverkehr zurückbauen: 27 Prozent aller Emissionen in der EU stammen aus dem Verkehrssektor, und davon ca. drei Viertel aus dem Straßenverkehr (der Rest entfällt auf die Luftfahrt, Schifffahrt und Schienenverkehr). Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, muss hier also deutlich umgesteuert werden: mit mehr Güterverkehr auf der Schiene (und zwar europaweit), mit weniger Autoverkehr in unseren Städten, mit einem stark ausgebauten, bezahlbaren ÖPNV für Stadt und Land.
In einigen Städten Europas werden Schritte in die richtige Richtung gegangen: die LINKE. in der Berliner Landesregierung hat sich für ein Mobilitätsgesetz stark gemacht, das den Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV in der Stadt mit konkreten Ausbauzielen stärkt und ihnen Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr einräumt. Berlin ist damit das erste Bundesland in Deutschland, das über ein solches Gesetz verfügt.[8] Kristian Ronneburg, Abgeordneter der LINKEN in Berlin, erklärte auf der Online-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel „Einstiege in die autofreie Stadt“[9], dass bereits viel Geld in den Ausbau des Radverkehrs investiert wurde – allein 2018 wurden 13 Millionen Euro von der Verwaltung abgerufen[10]; außerdem wurde das Personal im Bereich der Verkehrsplanung in den 12 Berliner Bezirken aufgestockt; die Berliner Busflotte wird auf Elektroantrieb umgestellt, die Ticketpreise für den ÖPNV wurden gesenkt und seit August 2019 gibt es in Berlin ein kostenloses Schülerticket. Im nächsten Jahr steht die Überarbeitung der Regeln für E-Scooter an, damit die Bedürfnisse von Radfahrern und Fußgängern angemessen berücksichtigt werden.
Aber natürlich wären diese Fortschritte in Berlin ohne die vorbereitenden und begleitenden Kämpfe der Stadtgesellschaft nicht möglich gewesen: wie Denis Petri vom Verein Changing Cities auf der Konferenz erklärte, sind bspw. die Radentscheide (Volksentscheide über den fahrradfreundlichen Umbau einer Stadt) ein wichtiges Mittel der direkten Demokratie und mittlerweile in 35 deutschen Städten auf der politischen Tagesordnung. Eine Forderung hat sich Changing Cities von der spanischen Stadt Barcelona „abgeschaut“ – sog. „Kiezblocks“ bzw. „Superblocks“, wie sie in Barcelona heißen und unter dem linken Bündnis der Bürgermeisterin Ada Colau eingeführt wurden: verkehrsberuhigte Zonen mitten der Stadt, in denen mehrere Wohnblocks zusammengefasst und für den Durchgangsverkehr der Autos gesperrt werden. Durch diese „Kiezblocks“ entstehen mitten in der Stadt Spielstraßen, Grünflächen und Raum zum Verweilen.[11]
Auch in der spanischen Hauptstadt Madrid wurden die richtigen Schritte gegangen: im November 2018 führte die Stadtregierung unter dem linken Bündnis Ahora Madrid und der Bürgermeisterin Manuela Carmena die verkehrsberuhigte Zone Madrid Central ein. Die Schadstoffbelastung in Madrid konnte seither eklatant gesenkt werden, wie Nuria Blazquez von den Ecologistas en Accion auf der Konferenz erklärte: bspw. wurde an der einzigen Messstation Plaza del Carmen innerhalb der verkehrsberuhigten Zone in 2019 eine um 32% niedrigere Stickstoffdioxidbelastung gemessen als vor Einführung der Verkehrsberuhigung[12]. Und: die Debatte um autofreie bzw. auto-arme Innenstädte habe von Madrid aus nun auf ganz Spanien ausgestrahlt: in vielen spanischen Städten überlegt mittlerweile die Stadtgesellschaft, wie man vor Ort Umweltzonen einrichten kann. Als der neue konservative Bürgermeister von Madrid die verkehrsberuhigte Zone Madrid Central wieder abschaffen wollte, gingen am 29. Juni 2019 tausende Bürger*innen dagegen auf die Straße.[13] Denn die Bürger*innen haben verstanden, dass ihre Städte menschenfreundlicher werden müssen. Dies betonte auch Francisco Javier Canadas, Abgeordneter der spanischen Linkspartei Unidas PODEMOS während der Konferenz: die Stadtplanung habe in der Vergangenheit immer viel zu viel Rücksicht auf das Auto genommen, doch durch die Erfahrungen mit Madrid Central und der Umweltzone in Barcelona haben die Menschen ganz real erfahren, wie angenehm eine Stadt ohne Autos sein kann. Und sie haben erlebt, dass wir mit wenigen Schritten unsere Städte lebenswerter gestalten können. Nicht zuletzt profitiert auch die lokale Wirtschaft, wie z.B. der Einzelhandel, von Maßnahmen wie „Madrid Central“. Deshalb fordert Unidas PODEMOS, Madrid Central zu erhalten, denn der Schutz der Gesundheit dürfe nicht bürokratischen Winkelzügen geopfert werden. Die Konservativen in Madrid haben absurderweise mitten in der Corona-Krise das Angebot des ÖPNV stark eingeschränkt, obwohl doch die Infektionsschutzmaßnahmen eine höhere Taktung im ÖPNV erfordert hätten. Unidas PODEMOS setzt sich für einen massiven Ausbau des ÖPNV und die Staffelung der Ticketpreise anhand sozialer Kriterien ein, so dass für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine finanzielle Entlastung erreicht werden kann.
So zeigt sich, dass lokale Bündnisse aus der Stadtgesellschaft und linke, progressive Regierungen viel für die Gesundheit der Menschen, für solidarische Mobilität für Alle und für lebenswerte Städte tun können.
Referenzen
[1] Damien Carrington, Air pollution may be key contributor to COVID-19 deaths – study, The Guardian, 20. April 2020 https://www.theguardian.com/environment/2020/apr/20/air-pollution-may-be-key-contributor-to-covid-19-deaths-study
[2] Ecologistas en Accion, Balance del efecto de Madrid Central, 2020 https://www.ecologistasenaccion.org/wp-content/uploads/2019/11/balance-2019-madrid-central.pdf
[3] Judith Dellheim, Kapitaloligarchien und die Auto-Gesellschaft, in: Michael Brie, Judith Dellheim, Nulltarif, Luxus des Öffentlichen im Verkehr, VSA
[4] Siehe auch: VCD-Position, Rückeroberung der Straße https://www.vcd.org/fileadmin/user_upload/Redaktion/Publikationsdatenbank/Fussverkehr/2016_Position_Rueckeroberung_der_Stasse.pdf
[5] https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++e7c87ad6-cc13-11ea-960d-525400940f89
[6] Siehe auch hier ein Artikel zu den Arbeitsbedingungen, die dazu führen, dass die Beschäftigten nicht mal Zeit haben, auf die Toilette zu gehen: Ines Wallrodt, Man kann nicht mal zur Toilette, Neues Deutschland, 18.08.2020 https://www.neues-deutschland.de/artikel/1140614.tarifrunde-im-nahverkehr-man-kann-nicht-mal-zur-toilette.html
[7] Quelle: Changing Cities Berlin https://changing-cities.org/
[8] Siehe auch hier: Hendrik Sander, Die Berliner Verkehrswende, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Juni 2020 https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Analysen/Analysen60_Bln_Verkehrswende.pdf
[9] Diese Online-Konferenz fand am 4. September 2020 statt. Auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel finden Sie in Kürze die Videoaufzeichnung dieser Konferenz in deutscher, englischer und spanischer Sprache. https://www.rosalux.eu/de/
[10] Peter Neumann, Rad fahren in Berlin, Berliner Zeitung, 15.1.2019 https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/rad-fahren-in-berlin-so-viel-geld-investiert-berlin-in-den-radverkehr-li.62636
[11] https://www.vox.com/energy-and-environment/2019/4/11/18273896/barcelona-spain-politics-superblock
[12] https://www.ecologistasenaccion.org/114930/balance-del-funcionamiento-de-madrid-central
[13] BBC News, Madrid Central protest: Thousands oppose suspension of anti-pollution plan, 29 June 2019 https://www.bbc.com/news/world-europe-48814970