Gasstreit oder Versuch der Revision einer Ordnung?

Über die türkisch-griechischen Spannungen am Rande der Ägäis

01.10.2020
Axel Gehring

Am 30. August erklärte der türkische Präsident in einer öffentlich übertragenen Rede in Gegenwart hochrangiger Militärs: „Wir werden nicht vor dem Kampf davonlaufen und wir schrecken auch nicht davor zurück, wenn wir Märtyrer beklagen müssen. Aber sind jene, die sich uns im Mittelmeer und den umstrittenen Zonen gegenüberstellen, bereit die gleichen Opfer zu bringen?“ Dies wurde weithin als Kriegsdrohung aufgefasst, ob realistisch oder nicht, eine Schwelle war überschritten.

Wenige Tage später wurde der Fund eines Gasfeldes im Schwarzen Meer bekanntgegeben. Obgleich die Vorkommen eine weniger große Bedeutung haben als ursprünglich angekündigt, übermittelte dies die Botschaft, dass sich Härte in der ägäischen Frage nicht nur symbolpolitisch, sondern rational-ökonomisch lohnt. Um den Gasfund im Schwarzen Meer ist es seither wieder ruhiger geworden, doch die Lage bleibt insgesamt angespannt. Es stellt sich ohnehin ganz grundsätzlich die Frage, ob der Konflikt als solcher bloß als ein Streit um Ressourcen aufgefasst werden kann.

Eine besondere friedenspolitische Herausforderung für europäische Politik stellt dabei die Frage dar, wie es gelingen kann griechische Maximalforderungen zu begrenzen, ohne dabei die besondere Qualität des türkischen Nationalismus zu leugnen, der sich auf ein weitaus größeres ökonomisch-militärisches Machtpotential stützt und die regionale Ordnung als solche neu schrieben möchte. Dies erfordert zunächst einen Blick auf den historischen Hintergrund.

Von Lausanne zum Gasstreit

Der türkische Unabhängigkeitskrieg von 1919-22 wendete nicht nur die dem Ersten Weltkrieg folgende griechische Invasion ab, sondern führte als de facto Fortsetzung jungtürkischer Ideologie zur Vertreibung des Gros der zum Teil seit Jahrtausenden in Anatolien lebenden griechischen Bevölkerung. Trotz dieser blutigen Vorgeschichte hatten Ankara und Athen in den ersten Jahrzehnten der türkischen Republik relativ gute diplomatische Beziehungen. Insgesamt waren territoriale Fragen durch den Vertrag von Lausanne (1923) einvernehmlich geregelt: Ankara hatte im Krieg die Verfügungsmacht über Anatolien gewonnen und damit sein zentrales Kriegsziel erreicht. Nur sehr wenige Inseln unmittelbar vor der anatolischen Küste gehörten zur Türkei und die weit überwiegende Mehrheit zu Griechenland. Für zahlreiche dieser griechischen Inseln unmittelbar vor der türkischen Küste, wurde die Seegrenze zwischen beiden Staaten entsprechend geregelt, dass sie dort nur wenige Meilen vor der türkischen Küste verläuft.

Auch wenn der Vertrag von Lausanne es nicht explizit ausspricht, die griechischen Inseln wurden bei Unterzeichnung nicht als kleine vorgelagerte Enklaven betrachtet, vielmehr konstituiert sich der Staat Griechenland aus Festland und Inselarchipel. Die freie Passage türkischer Schiffe durch die Ägäis wurde durch die Grenzziehungen (6 Seemeilen Hoheitsgewässer) um die Inseln herum ohnehin nicht tangiert und der Vertrag von Lausanne bildete in der türkischen Geschichtsschreibung die Grundlage eines nationalen Siegesmythos.

Allerdings wurde die Inselgruppe des Dodekanes am südöstlichen Rand der Ägäis im Vertrag von Lausanne der damals expandierenden Regionalmacht Italien zugesprochen. Erst in Folge der Niederlage des faschistischen Italiens wurde sie 1948 mit Griechenland vereint. Doch die kleine, heute von etwa 500 Menschen bewohnte Dodekanes-Insel Kastellorizo liegt relativ weit ab vom restlichen Dodekanes sowie insbesondere des ägäischen Archipels. Größere Streitigkeiten erwuchsen daraus zunächst jedoch nicht, denn die damals vorherrschende und beiderseitig akzeptierte Rechtsaufassung definierte Hoheitsgewässer als 6 Meilenzonen und der Türkei entstanden auch aus ihrer Sicht kaum gravierende Nachteile.

Mit der Entdeckung von und Vermutung von Öl- und Gasressourcen in der Ägäis in den siebziger Jahren begann die Türkei jedoch ihre Lage in der Ägäis zunehmend als Nachteil zu erleben. In der Zwischenzeit hatte sich das internationale Seerecht vor dem Hintergrund der Interessen der großen Mächte, die mittels neuer technischer Möglichkeiten immer größere Seegebiete exklusiv nutzen wollten, weiterentwickelt. So definiert Artikel 3 der Internationale Seerechtskonvention der Vereinten Nationen von 1982 die nationalen Hoheitsgewässer als Zonen von 12 Seemeilen. Die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen kennt darüber hinaus das Konzept des Kontinentalschelfs, dieses ermöglicht den Anreinerstaaten Seegebiete bis zum 200 Seemeilen ausgehend von ihrer Basislinie zu ihrer Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) zu erklären.

Vor dem Hintergrund ihrer strittigen Interessenslage und den Problemen das internationale Seerecht in Einklang mit dem Vertrag von Lausanne zu bringen, der immerhin das wichtigste Gründungsdokument der Republik Türkei darstellt, hat Griechenland bislang auf die Erweiterung seiner Hoheitsgewässer auf 12 Meilen in der Ägäis verzichtet. Allerdings beansprucht Griechenland um seine Inseln herum eine Ausschließliche Wirtschaftszone von 200 Seemeilen und sieht sich dabei im Einklang mit dem Internationalen Recht.

Dennoch greift es zu kurz, den Streit zwischen der Türkei und Griechenland als einen reinen Streit um Gas zu begreifen. Nachdem sich die Türkei einige Jahre lange versucht hatte einer Konzeption der „strategische Tiefe“ folgend direkten Einfluss auf die Staats-Zivilgesellschaftskomplexe ihrer arabischen-mediterranen Nachbarstaaten zu nehmen. Die Strategie der Förderung ihr politisch nahestehender Kräfte geriet jedoch an Grenzen, wo immer diese aus den Regierungen dieser Staaten verdrängt wurden oder aber von weiten Teilen der lokalen Gesellschaften gar nicht erst legitime Opposition angesehen wurden. In der Folge sah sich die türkische Außenpolitik darauf zurückgeworfen, zumindest ihre Minimalziele (Verhinderung einer kurdischen Autonomie) zum Teil durch direkte militärische Aggression in Nachbarstaaten abzusichern. Der militärische Sturz der ägyptischen Muslimbruderschaft im Sommer 2013 verschlechterte darüber hinaus auch ihre diplomatische Position im Mittelmeer. Während sich die Türkei seit den 2000er Jahren immer stärker auch als maritime Macht definierte, ermöglichte die Verschiebung der Machtverhältnisse in Ägypten der griechischen Regierung nunmehr gemeinsam mit den Regierungen Zypern, Israels sowie Ägyptens ein koordiniertes Containment der türkischen Ansprüche im Mittelmeer zu betreiben. Mit der Unterzeichnung eines Abkommens mit der von der Muslimbruderschaft dominierten »Konsensregierung« in Tripolis über eine gemeinsame türkisch-libysche „Seegrenze“ im November 2019, kodifizierte die Türkei ihre Nichtanerkennung der (von Griechenland definierten) Ausschließlichen Wirtschaftszone um Kastellorizo und erhebt dort fortan selbst Ansprüche. Darauf regierte Griechenland mittels einer ähnlichen Vereinbarung mit Ägypten, um libysch-türkische Ansprüche auszuhebeln.

Legalismus untermauert mit militärischem Druck

Zur legalistischen Rechtfertigung ihrer politischen Expansionsinteressen entlehnt die Türkei das Konzept des Kontinentalschelfs aus dem internationalen Seerecht. Die auf Basis dieses Kontinentalschelf gezogenen Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) sollen nach türkischem Wunsch auf halber Strecke zwischen dem türkischen und griechischen Festland verlaufen. Dazu beruft sie sich auf die Artikel 55 und 57 des Seerechtsübereinkommens der UN. Auf Basis dessen möchte sie in weiten Teilen der Ägäis nunmehr ökonomische Nutzungsansprüche erheben, dies versucht sie nicht zuletzt im Konzept des Blauen Vaterlands (Mavi Vatan) gegenüber der eigenen Bevölkerung zu popularisieren. Dabei macht sich die Türkei zu Nutze, dass zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages von Lausanne das Konzept des Kontinentalschelfs noch nicht in die internationale Rechtsprechung eingeführt war. Dies ermöglicht es ex post Uneindeutigkeiten in den Vertrag von Lausanne hinein zu konstruieren: Gemäß der im Mavi Vatan zum Ausdruck kommenden türkischen Position liegen weite Teile griechischen Ägäisinseln vorgelagert auf dem „türkischen“ Kontinentalschelf und konstituieren nicht etwa einen zusammenhängenden griechischen Inselarchipel. Allerdings steht die darauf begründete Auffassung, dass die Türkei weit innerhalb des griechischen Inselarchipels ökonomische Ansprüche haben könnte im diametralen Widerspruch zum Logos des Vertrages von Lausanne – dem wichtigsten Gründungsdokument der Republik der Türkei. Es ist mehr als zweifelhaft, dass sich die Türkei mit einer solchen Rechtsauffassung über zuvor einvernehmlich geschlossene Verträge hinwegsetzen kann – zumal in der Ägäis nicht von einzelnen isoliert vorgelagerten griechischen Inseln zu sprechen ist, sondern von Archipel mit hunderten von Inseln. Einzig eine griechische Blockade der Ägäis für den türkischen Schiffsverkehr, durch einseitige Ausweitung ihrer Hoheitsgewässer, dürfte kaum mit dem Vertrag von Lausanne und dem internationalen Seerecht vereinbar sein. Zudem bleibt die türkische Argumentation insofern widersprüchlich, als dass sie trotz ihrer Berufung auf das Seerechtsabkommen der UN, genau diesem bislang nicht beigetreten ist.

Im Bewusstsein ihrer international kaum vermittelbaren Rechtsauffassung in Bezug auf die Ägäis verlagert die Türkei die Austragung des Konfliktes an die Stelle, an der die griechische Rechtsposition am schwächsten ist, indem sie seit dem Sommer seismische Erkundungen südlich und östlich der griechischen Insel Kastellorizo durchführt. Das Erkundungsschiff Oruç Reis wird dort von einer kleinen Armada türkischer Kriegsschiffe begleitet. Dort erscheint die Chance, dass Griechenland seinen Anspruch einer 200 Seemeilen großen Ausschließlichen Wirtschaftszone juristisch nicht in Gänze durchsetzen kann, am größten. Denn aus einer relativ isoliert vor der türkischen Küste liegenden kleinen Insel einen derartigen Anspruch abzuleiten, scheint kaum mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar. Allerdings ist die Türkei weder der Internationalen Seerechtskonvention beigetreten noch macht sie den Anschein den Internationalen Seegerichtshof in der Causa anrufen zu wollen. Stattdessen baut sie militärischen Druck und möchte Griechenland im Angesicht der Drohkulisse in direkte und ungleiche Verhandlungen zu zwingen.

Das Schaffen von Fakten durch seismische Erkundungen samt massiver Flottenpräsenz macht die türkische Position umso widersprüchlicher. Auch deshalb mutet der Legalismus der türkischen Regierung in der Causa Kastellorizo fadenscheinig an. Es liegt der Schluss nahe, dass die Causa Kastellorizo nur einen kleinen Baustein einer umfassenderen Hegemonialstrategie darstellt, die weitere Teile des Mittelmeers um Zypern sowie in der Ägäis umfasst. Es geht also nicht allein um Gas. Die umstrittene Causa der Ausschließlichen Wirtschaftszone um Kastellorizo und die damit verbundene Gasexploration ließe sich durch den Beitritt der Türkei zur Internationalen Seerechtskonvention und einem sich daran anschließenden Gang vor den Internationalen Seegerichtshof regeln. Doch würde diese weitergehenden türkischen Hegemonialinteressen gerecht? Eine rechtsverbindliche Regelung zur Ausschließlichen Wirtschaftszone um Kastellorizo würde, wenn sie unter dem Primat der Verhältnismäßigkeit griechische Ansprüche zu Gunsten türkischer Ansprüche beschneiden würde, weiter gehenden türkischen Hegemonialinteressen den Wind aus den Segeln nehmen. Denn die Akzeptanz von Rechtsprechung in der Causa Kastellorizo ließe sich nur schwerlich mit extralegalem Druck an anderen Stellen in der Ägäis vereinbaren, weitergehende Konzept, wie Mavi Vatan, ließen sich aber kaum auf legalem Wege realisieren. In anderen Worten: An der Handhabung der Causa Kastellorizo lässt sich erkennen, ob es der Türkei wirklich „nur“ um Gasexploration geht, denn Explorationsrechte als solche dürften sich auf juristischem Wege erstreiten lassen. Wird dieser Weg nicht beschritten, so sind Zweifel am Legalismus der türkischen Position berechtigt.

Europäische Perspektiven und Interessen sowie die Frage der Konfliktbearbeitung

Eine kritische Sichtweise sollte diesen Konflikt zunächst als einen politischen betrachten und ihn in seinem weiteren außenpolitischen Kontext verorten. Europäische Neutralität wird weder der besonderen Qualität der türkischen Außenpolitik noch dem höheren Machtpotential der Türkei gerecht, was in ihrer Tendenz der Türkei hilft.

Für die Bewertung des Konfliktes spielt ebenso die Frage einer europäischen Perspektive eine entscheidende Rolle, denn die Konfliktakteure handeln nicht nur auf Grund ihrer Interessen, sondern wegen der Möglichkeiten, die ihnen das internationale Staatensystem lässt. Während Frankreich auch auf Grund seiner Interessen im libyschen Stellvertreterkrieg, die griechische Position unterstützt und sogar maritime militärische Präsenz zeigt, hat die deutsche Außenpolitik lange versucht sich als „ehrlicher Makler“ im Konflikt zu positionieren. Ankara wird für die deutsche Außenpolitik schlicht höher gewichtet als Athen. Weder hat Berlin ein Interesse an einer möglichen Aufkündigung des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens, noch daran durch eine Missachtung türkischer Interessen die Spannungen zwischen der Türkei und der NATO insgesamt zu intensivieren. Ähnliches gilt auch für die US-Außenpolitik. (Ausführlich zu den Interessenslagen der konkurrierenden Staaten: Panagiotis Sotiris). Genau diese Ambivalenzen haben für die türkische Aggression, die sich Kastellorizo bedient, um die Möglichkeiten einer umfassenden Revision der regionalen Ordnung zu eruieren, überhaupt erst den Möglichkeitskorridor geschaffen.

Eine emanzipatorische Friedenspolitik sollte daher nicht in eine „Neutralismusfalle“ laufen, die die besondere Qualität der militärischen untermauerten türkischen Hegemonialstrategie verkennt und die beiden ungleichen Seiten zu Verhandlungen ermuntern. Denn zunächst gilt es die türkischen Kriegsdrohungen entschieden zurückzuweisen. Nur eine solche Zurückweisung kann in Ankara überhaupt ein Interesse am Beitritt zur Internationalen Seerechtskonvention und einem anschließenden Gang zum Internationalen Seegerichtshof wecken. Solange, wie die Türkei militärisch untermauerten Druck ausübt und sich einer Verrechtlichung des Konfliktes verweigert, um von Machtungleichgewichten in bilateralen Verhandlungen zu profitieren, ist eine neutrale Positionierung der EU-Staaten zwischen der Türkei und Griechenland einer zivilen Lösung kaum dienlich. Die türkischen Kriegsdrohungen haben ihre eigene Qualität, die über die Causa Kastelorizo an sich hinausgeht. Dabei geht es nicht um eine Übernahme aller griechischen Positionen, sondern darum, durch eine entschlossene Eindämmung der türkischen Machtpolitik, überhaupt erst den Rahmen für eine juristische Regelung zu schaffen.

Mittelfristig sind die permanenten Spannungen im mediterranen Raum umfänglicher zu bearbeiten. Konkret ist ein Prozess der schrittweisen und auf Gegenseitigkeit beruhenden Abrüstung anzustreben, der durch vertrauensbildende Maßnahmen und Praxen der einvernehmlich geregelten Überwachung abzusichern wäre – zum Beispiel im Rahmen einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im mediterranen Raum.

Über den Autor

Axel Gehring ist Politologe und lehrt an der Universität Marburg. Er arbeitet hauptsächlich zu Türkei-EU-Beziehungen, zur Politische Ökonomie der europäischen Integration zu Hegemonie- und Staatstheorie sowie zur türkischen Staatsdebatte.