Schluss mit Handelskriegen
Warum globale wirtschaftliche Ungleichgewichte Friede, Gerechtigkeit und Demokratie bedrohen
Ähnlich wie die 1930er bzw. die 1970er Jahre markiert auch das 2010 begonnene Jahrzehnt einen Wendepunkt. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob die große Schockwelle der globalen Krise von 2008 von der neoliberalen Globali-sierung absorbiert wurde. Der Aufstieg der G20 und die Bemühungen führender Volkswirtschaften Freihandel auszuweiten, verstärken diesen Eindruck. Unmit-telbar vor Beginn der 2020er Jahre ist es damit jedoch vorbei. Mit dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus und dessen protektionistischer Agenda vollzog sich ein Bruch in der Politik, der sich angesichts der internationalen Handelsstatistiken bereits seit langem abgezeichnet hat. Die Zeit der raschen Integration nationaler Volkswirtschaften in die Globalisierung ist vorbei. Zwar ist derzeit keine Entglobalisierung zu beobachten, doch das Tempo der Globalisierung in der Handels- und Finanzwelt stagniert. Die internationalen Ungleichgewichte, die sich schon vor der 2008er Krise herausgebildet haben, bestehen weiter und sind Ursache steigender geopolitischer Spannungen.
In dieser Konstellation stehen sich zwei Lager gegenüber: Zum einen wird die Fortsetzung der neoliberalen Agenda der 1990er Jahre gefordert. Dies setzt den Abschluss einer neuen Generation von Freihandelsabkommen voraus, um zu einer wesentlich tieferen – regelbasierten – Integration der einzelnen Volkswirtschaften zu gelangen. Diese, einst auch von der Obama-Administration vertretene Strategie bleibt zwar das Leitmotiv Europas, hat aber inzwischen deutliche Risse erhalten. Denn die Trump-Regierung hat sich dem Protektionismus verschrieben. Entgegen der von einem Großteil der Geschäftswelt befürworteten globalen Agenda greift ein emanzipierter Nationalismus um sich, der sich bei Regierungen weltweit wachsender Beliebtheit erfreut. Die Entwicklung in diese Richtung vollzieht sich so schnell – insbesondere im Zuge des zwischen den USA und China eskalierenden Handelskriegs –, dass die Fragmentierung der Weltwirtschaft in rivalisierende, voneinander mehr oder weniger isolierte Blöcke immer wahrscheinlicher wird. In Europa zeigt sich dies spezifisch. Vor dem Hintergrund eines verlorenen Jahrzehnts für die europäische Integration gewinnen rechtsextreme Kräfte, die die Einigung dieses Kontinents kritisch sehen, an Zulauf.
In der Gemengelage einer Polarisierung zwischen Nationalismus und Inter-nationalismus des Kapitals fällt es der Linken bisweilen schwer, sich Gehör zu verschaffen. Wie lässt sich beispielsweise die Kritik am Freihandel mit einer Zurückweisung des Nationalismus verbinden? Kann die internationale Solidarität gestärkt werden, wenn gleichzeitig eine von den Interessen multinationaler Unternehmen und der Finanzwelt bestimmte Agenda abgelehnt wird? Oder, wie lassen sich soziale Anliegen stärker in der Wirtschaft verankern, ohne in eine Politik der Abschottung zu verfallen?Dieses Essay erhebt nicht den Anspruch, auf all diese Fragen Antworten zu liefern. Es will aber einige wichtige Anregungen bieten – insbesondere unter Berücksichtigung der Rolle, die die globalen Ungleichgewichte in der Handels- und Finanzwelt spielen. Die an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik anzusiedelnden internationalen Ungleichgewichte stellen den wesentlichen Reibungspunkt im Weltmarktgefüge dar. Hier treffen die Interessen des Kapitals zur Erweiterung der Handels- und Investitionsmöglichkeiten und der Versuch von Unternehmen, staatliche Ressourcen zum eigenen Vorteil zu nutzen, aufeinander. Auch handelt es sich hier um die Nahtstelle, an der die verschiedenen sozialen Kompromisse auf nationalstaatlicher Ebene aufeinander einwirken. Genau an diesem kritischen Punkt kann das nationale Bündnis von Staat und Kapital zu geopolitischen Rivalitäten bis hin zu offenen Konflikten führen.In meinen nachfolgenden Ausführungen will ich versuchen, diese Frage aus einer linken Perspektive zu reflektieren. Wie sind die globalen Ungleichgewichte aus diesem Blickwinkel zu bewerten? Im Wesentlichen werden zwei Aspekte erörtert. Zunächst wird untersucht, wie sich nationale Wirtschaftspolitiken auf zwischen-staatlicher Ebene auswirken. Im Anschluss daran soll der Logik des Kapitals – und ihrer Wirkungen auf soziale Gerechtigkeit, Umwelt und Bedürfnisbefriedigung – eine Politik entgegengestellt werden, die darauf abzielt, die Kontrolle zurückzuerlangen. Auch für die Linke stellt sich dabei das Problem des Umgangs mit außenwirtschaft-lichen Zwänge, denen sich bereits so viele Regierungen hilflos gegenübersahen.Zunächst werden einige Begriffe und Konzepte erklärt. Dabei wird gezeigt, dass der Kampf um Wettbewerbsfähigkeit ein Nullsummenspiel ist, bei dem die Gewinne der einen die Verluste der anderen sind und die Anhäufung von Über-schüssen gravierende Ungleichgewichte hervorruft.
Im Anschluss werden Imperialismus, autozentrierte Entwicklung und Globalisierung als die wichtigsten internationalen Wirtschaftsmodelle des 20. Jahrhunderts in groben Zügen dargestellt. Die mit dem Neoliberalismus aufkommende Instabi-lität, die mit sich häufenden Finanzkrisen (vor allem in den Ländern des Globalen Südens) und der rapiden Verschlechterung der Leistungsbilanzen ab den 2000er Jahren einhergeht, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. Darauf folgend wird die Wechselwirkung heutiger Ungleichgewichte anhand der wichtigsten Volkswirtschaften weltweit, die gleichzeitig die bei Weitem größten Überschüsse bzw. Defizite aufweisen, analysiert (USA, China, Japan und Deutschland). Gegenstand des letzten Abschnitts sind die internen Ungleichgewichte in der Eurozone. Im Rahmen eines Exkurses werden externe ökonomische Zwänge bewertet, mit denen sich die linke Syriza-Regierung in Griechenland im Sommer 2015 konfrontiert sah. Auch die Ursachen des deutschen Exportüberschusses, dessen Beseitigung für die Verbesserung des Klimas der internationalen Zusammenarbeit erforderlich ist, werden diskutiert. In der Schlussbetrachtung wird die zwar gemeinsame, jedoch ungleich große Verantwortung einzelner Länder bei der Entstehung globaler Ungleichgewichte erörtert. Zudem sollen Denkanstöße gegeben werden, wie sich eine internationale auf Zusammenarbeit und Demokratie ausgerichtete Ordnung schaffen ließe.
Über den Autor
Cédric Durand ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Paris 13. Im Rahmen seiner Forschung befasst er sich mit der Globalisierung und den Wand-lungen des modernen Kapitalismus. Seine Arbeiten knüpfen an die marxistische und regulationstheoretische Tradition in der Volkswirtschaftslehre an. Zu diesen Themen hat er zahlreiche Artikel veröffentlicht und schreibt regelmäßig Beiträge für die Online-Zeitschrift ContreTemps. Sein aktuelles Werk Le capital fictif wurde im Jahr 2014 (Verlag: Les Prairies Ordinaires) veröffentlicht und ist 2017 auf Englisch (Fictitious capital: how finance is appropriating our future) bei Verso und auf Spanisch bei Ned Ediciones erschienen.