Eine Veröffentlichung des Verbindungsbüros in Madrid

Die Politik hier und heute feministischer machen!

Diskussionen und Tools der munizipalistischen Bewegung

23.10.2020
Laura Roth, Irene Zugasti & Alejandra de Diego Baciero

Wie können wir unsere Organisationen demokratischer machen? Wie können wir Inklusion in der Praxis stärker in unserem Aktivismus verankern? Wie können wir als Aktivist*innen, Multiplikator*innen, politische Bildner*innen, Bürger*innen, Mitglieder von Bewegungen und Organisationen feministische Werte in unsere Arbeit und in unseren Alltag einbringen und umsetzen? Linke und Feminist*innen beschäftigen sich schon seit langem mit diesen Fragen. Auch die munizipalistische Bewegung hat sie eingehend diskutiert und politische Vorschläge und Praxen entwickelt, um die Politik zu demokratisieren und dabei den Feminismus ins Zentrum zu rücken. Diese Publikation bietet Einblicke in die Prozesse, Erfahrungen und Diskussionen der Bewegung und stellt zahlreiche praxiserprobte Werkzeuge vor, die aus der spezifischen munizipalistischen Erfahrung gewonnen wurden. Ergebnis dieser politischen Arbeit ist das vorliegende Toolkit, das anderen Aktivist*innen, Bewegungen und Organisationen als Inspiration, Diskussionsgegenstand und Praxishilfe dienen kann.

Als die Welle des Munizipalismus vor einigen Jahren besonders durch spanische Metropolen ging und in zahlreichen Ländern ‚rebellische‘ oder ‚furchtlose‘ Städte hervorbrachte, verschlug es linken Bewegungen und Aktivist*innen den Atem. Während die (extreme) Rechte im Nachhall der Weltwirtschaftskrise und der anschließenden harten Sparmaßnahmen überall sonst große Erfolge feierte, indem sie die ärmsten und verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft zu Sündenböcken machte, bildete die munizipalistische Bewegung ein progressives, positives und konstruktives Gegengewicht als wirkungsvolle Antwort auf ein System, das so viele Gesellschaften im Stich gelassen hatte. Im Munizipalismus verbanden sich zahlreiche lokale Solidaritätsbestrebungen zu einer breiten Strömung, die das politische Geschehen bestimmen und die Politik insgesamt radikal verändern wollte. Ihr großer Erfolg in den Wahlen gab ihr recht.

Seither hat der radikal partizipatorische Ansatz der munizipalistischen Bewegung die linke Diskussion über die praktische Gestaltung der Demokratie deutlich belebt, während der neue Munizipalismus zur Bühne eines praktizierten Feminismus geworden ist. Das sollte nicht überraschen. Feminismus – in Form der Feminisierung der Politik – ist zentraler Bestandteil der politischen Agenda des neuen Munizipalismus, der in seiner Kritik an den Institutionen in vielen Fällen die feministische Kritik an der liberalen Demokratie widerspiegelt. Tatsächlich stellt die Betonung von Empathie, Sorge/Care, Zusammengehörigkeit, Beteiligung, Empowerment und Gewaltfreiheit einen regelrechten Paradigmenwechsel in der politischen Kultur und damit einen progressiven Schritt dar, für den der Feminismus schon lange kämpft.

Im munizipalistischen Herangehen an politische Prozesse können wir Politik neu begreifen, nämlich als einen Bereich zur Schaffung von Gemeinschaft, innerhalb derer sich die Menschen um sich selbst, ihre Gruppe und alle anderen Menschen kümmern können. Der munizipalistische Ansatz ermutigt uns – und fordert uns heraus – unser eigenes Handeln, unsere Voreingenommenheit und unsere uneingestandenen Annahmen zu überdenken. Gleichzeitig bietet er uns Mechanismen an, durch die die Reproduktion immer gleicher Stereotype, etwa bei der Verteilung von Arbeit und Verantwortung, verhindert werden soll.

Diese Herangehensweise basiert auf einem Verständnis, wonach ein auf Gegenseitigkeit, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Vielfalt zielender politischer Aktivismus nur im Rahmen praktischer Maßnahmen gedeihen kann, die genau diese Werte auch umsetzen. Hinzu kommt ein Verständnis von „Macht“ als positiver und kreativer Kraft zur Überwindung lokaler, wirtschaftlicher, patriarchaler und rassistischer Vorurteile und anderer Formen der Beherrschung und Ausbeutung.
Zwar finden sich verschiedene Spielarten des Munizipalismus, doch teilen sie zentrale Gemeinsamkeiten. Insgesamt stellt dieser Ansatz nicht nur wichtige Fragen, sondern entwickelt je nach Anforderung auch dynamische und realisierbare Antworten. Eine dieser Fragen betrifft zum Beispiel den Aufbau politischer Institutionen (etwa hinsichtlich der Führung unserer eigenen Organisationen) in einer Weise, die eine Beteiligung benachteiligter bzw. marginalisierter und ausgeschlossener Gruppen gewährleistet. Er fragt weiter, wie wir Kooptation vermeiden und auch verhindern können, den Logiken bestehender Institutionen und externer Strukturen zu erliegen, zum Beispiel bei Wahlen oder in der Zusammenarbeit mit anderen. Er fragt, wie wir gemeinschaftliche Strukturen aufbauen können, durch die wir Verantwortung teilen und für uns selbst und andere Menschen sorgen können. Er fragt, wie wir sicherstellen können, dass unsere eigene politische Praxis und Kommunikationsformen nicht zum Ausschluss bestimmter Gruppen führen. Und er fragt, wie wir unsere eigenen Ressourcen ohne Rückfall in eine stereotype Arbeitsteilung und Selbstausbeutung effizienter nutzen können.

Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) glauben wir, dass nicht nur politische Plattformen, sondern ganz besonders auch Aktivist*innen, soziale Bewegungen und Organisationen auf der ganzen Welt viel von den Erfahrungen des Munizipalismus lernen können. Im Laufe der letzten fünf Jahre hat der ‚neue Munizipalismus‘ mit unterschiedlichen Verfahrensweisen experimentiert und versucht, weniger politisierte und weniger lautstarke Gruppen in die politische Entscheidungsfindung einzubinden. Dabei ging es nicht in erster Linie um die Umsetzung bestimmter Politiken, sondern vor allem um die radikale Veränderung des politischen Prozesses selbst.
In dieser Publikation stellen Aktivist*innen aus der Bewegung die Erfahrungen aus sechs Städten vor, um Sinn und Zweck der später vorgeschlagenen Werkzeuge zu verdeutlichen. Sie legen die Hindernisse, Herausforderungen, Widersprüche und Beschränkungen auf ihrem Weg dar und denken vor allem darüber nach, wie sich diese überwinden lassen. Wir werden aufgefordert, uns kritisch mit unseren eigenen Organisationen und uns selbst auseinanderzusetzen. Viele werden in den Szenarien vertraute Elemente finden, die sie zum Ausgangspunkt machen können, die Vorschläge aus dem Toolkit umzusetzen und für ihre eigenen Organisationen nutzbar zu machen. Natürlich erhebt diese Publikation keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr ist sie dazu gedacht, Denkanstöße einzubringen und einen relevanten Beitrag zu einer Debatte zu liefern, die gerade erst begonnen hat. Wir danken allen Frauen*, die sich so offen und bereitwillig an der Entwicklung des Toolkits beteiligt haben, dass sie uns damit ermöglichen, von ihren Erfahrungen und Reflexionen zu lernen und darauf aufzubauen, mit dem Ziel, unsere politische Praxis und unsere Organisationen demokratischer zu gestalten.

Vorwort von Ada Regelmann & Vera Bartolomé

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