Soziale Proteste in Zeiten der Corona-Krise

10.11.2020
Bethan Bowet-Jones, Francesco Pontarelli, Giuliano Granato, Maurizio Coppola

Tag für Tag verschlimmert sich die gesundheitliche und soziale Krise in Italien. Die Regierung droht mit einem erneuten Lockdown, aber die Unterstützungsmaßnahmen für die Arbeiter*innen bleiben nach wie vor unzureichend. Unterdessen breiten sich die sozialen Proteste im ganzen Land aus und lösen eine öffentliche Debatte aus, die weit über die Landesgrenzen hinausgeht.

Anfang Juli 2020 hatte Innenministerin Luciana Lamorgese im nationalen TV ihre Sorgen bezüglich den Auswirkungen der ökonomischen und sozialen Krise Italiens nach der ersten Welle des Coronavirus zum Ausdruck gebracht: „Die Gefahr eines heißen Herbstes ist real, denn im September werden wir die Auswirkungen dieser schweren Wirtschaftskrise sehen, die die Unternehmen getroffen hat. Die Geschäfte werden schließen, die Bürger werden keine Möglichkeiten mehr haben, für ihre täglichen Bedürfnisse zu sorgen. Die Regierung hat versucht, diesen Bedürfnissen und Forderungen nachzukommen, aber die Gefahr eines heißen Herbstes ist real.“

Während eine zweite Welle des Coronavirus das Land trifft, kämpft die Regierung damit, ein Gleichgewicht zwischen dem Management einer angespannten Situation der Wirtschaft und der Bewältigung der Gesundheitskrise zu finden. Obwohl Italien das erste europäische Land war, das vom Coronavirus befallen wurde, führte Italien schnell einen strikten Lockdown ein, das in der Öffentlichkeit weitgehend unterstützt wurde. Die aktuelle zweite Welle erweist sich jedoch als weitaus komplizierter: Die staatlichen Beihilfen kommen langsam aber sicher ans Ende, viele Italiener*innen erleben materielle Schwierigkeiten und die Aussicht auf einen zweiten Lockdown sorgt für persönliche und soziale Spannungen. Am Freitag, den 23. Oktober, widersetzte sich der Gouverneur der Region Kampanien Vincenzo De Luca (Demokratische Partei) nach einem starken Anstieg der Fallzahlen und Krankenhauseinweisungen den Hinweisen der nationalen Regierung und kündigte an, er werde einen lokalen Lockdown verhängen, falls der Anstieg nicht stoppen würde. In jener Nacht protestierten Tausende von Menschen in den Straßen von Napoli, was zu Zusammenstößen mit der Polizei führte. Als die nationale Regierung daraufhin einen sanften Lockdown mit der obligatorischen Schließung von Bars und Restaurants um 18 Uhr und die Ausgangssperre um 23 Uhr ankündigte, breiteten sich die sozialen Proteste im ganzen Land aus.

Die sozialen Auswirkungen der Krise

Die ökonomischen Folgen der Pandemie trafen die schwächeren Wirtschaften des Südens unweigerlich stärker. Italien bildet da keine Ausnahme. Im Einklang mit einem langfristigen Trend zur Reduktion öffentlicher Ausgaben (der EU-Finanzpolitik folgend), gehörten Italiens Krisenausgaben zu den tiefsten in der Eurozone. Zudem machen ihre Besonderheiten die italienische Wirtschaft besonders anfällig. Dazu gehören eine im Vergleich zum europäischen Durchschnitt hohe Arbeitslosenquote unter Jugendlichen und Frauen, ein hoher Anteil von prekären und informellen Arbeitsverhältnissen und ein hoher Anteil von Kleinunternehmen und selbständig Arbeitenden. Kleinstunternehmen mit weniger als 10 Angestellten beschäftigen in Italien 45% der Arbeiter*innen, im europäischen Durchschnitt liegt diese Zahl bei 30%. Während die pandemiespezifischen Staatsausgaben hauptsächlich größere Unternehmen vor der Insolvenz zu retten versuchten und die Löhne der regulär Beschäftigten garantierten, erhielten selbständige Arbeiter*innen nur eine einmalige Bonuszahlung von lediglich 600 Euro und Kleinunternehmen erhielten Finanzhilfen in Höhe von 20% der Gewinneinbußen (Differenz zwischen den Einnahmen 2019 und 2020). Erwerbslose und informell Beschäftigte erhielten eigentlich nichts.

Der italienische Sozialstaat basiert historisch auf einer engen Verbindung der Beschäftigung mit der Auszahlung von Sozialleistungen. Erst das kürzlich von der 5-Sterne-Bewegung eingeführte Grundeinkommen, eine Art Sozialhilfe für armutsbetroffene Menschen, hat diese Logik durchbrochen. Die Regierung erweiterte dieses Grundeinkommen während der ersten Welle der Pandemie zu einem sehr tiefen “Notstandseinkommen” mit strengen Anspruchsvoraussetzungen, so dass weniger als der Hälfte der Antragssteller*innen diese Sozialhilfe gewährt wurde. Somit konnten große Teile der Gesellschaft auf nichts anderes zurückgreifen als auf ihre eigenen Ersparnisse. Schätzungen gehen davon aus, dass in der Folge der Corona-Krise bis Ende Jahr 2020 zusätzlich eine Million Italiener*innen unter die Armutsgrenze rutschen werden.

Ein Großteil dieser “neuen Armut” konzentriert sich auf den Süden des Landes. Waren während der ersten Welle die industrialisierteren und wohlhabenderen Regionen des Nordes vom Virus betroffen, so waren die ökonomischen Auswirkungen auf die Regionen des Südens am stärksten. Tatsächlich hatte die Region Kampanien auch schon vor der Corona-Krise mit rund 50% die höchste Jugendarbeitslosenquote in ganz Europa und die irreguläre Arbeit macht hier rund 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Gerade in den letzten zehn Jahren entwickelte sich die lokale und regionale Ökonomie vorwiegend auf der Basis des boomenden Tourismus. Schon im Frühjahr überlebten viele Menschen in Kampanien nur dank Nahrungsmittelpaketen und warmen Mahlzeiten, die von kirchlichen oder Nachbarschaftsorganisationen verteilt wurden. Neuste Schätzungen gehen davon aus, dass rund 40% der 5 Millionen Einwohner*innen Kampaniens von Armut bedroht sind.

Die zweite Welle

Es war allen klar, dass sich die Pandemie nach der ersten Welle weiterverbreiten würde und Expert*innen hatten schon früh empfohlen, sich auf eine Zunahme der Corona-Ansteckungen Ende Sommer, also auf die sogenannte zweite Welle, vorzubereiten. Dennoch hat Italien wenig unternommen, um sich dagegen zu wappnen. Noch vor dem Sommer gab die nationale Regierung bekannt, zusätzliche 3.500 Plätze in den Intensivstationen zu schaffen. Bislang ist jedoch weniger als die Hälfte realisiert worden und die Rekrutierung von zusätzlichem Gesundheitspersonal schreitet nur sehr langsam voran. Die Lage des öffentlichen Gesundheitssystems wird dadurch verschärft, dass es in Italien aufgrund der regionalisierten Gesundheitssysteme landesweit große Unterschiede in Bezug auf Qualität der Versorgung und Kapazitäten gibt. Während im nationalen Durchschnitt pro 100.000 Einwohner*innen 10 Intensivplätze zur Verfügung stehen, liegt diese Zahl in Kampanien bei 7.

Als das Coronavirus im Februar/März Italien erreichte, war es der Norden, der die höchsten Fall- und Todeszahlen zu verzeichnen hatte. Die Befürchtungen hinsichtlich der Folgen im Süden waren damit vorübergehend beschwichtigt. Mit dem Eintritt Italiens in die zweite Welle sind diese Befürchtungen jedoch zurückgekehrt: Kampanien zählt bei einer Bevölkerung von rund 5 Millionen Menschen täglich zwischen 3.000 und 4.000 neue Fälle. Der regionale Gouverneur De Luca machte sich noch vor dem Sommer als Lockdown-Hardliner einen Namen. Er fuhr somit eine politische Linie, die im Kontext steigender Todesopfer die allgemeine Angst aufzufangen vermochte. Dank dieser Popularität wurde er im September mit 70% der Stimmen zum Gouverneur wiedergewählt. Obwohl er während des Sommers stets auf die ernste Lage im Gesundheitsbereich hinwies, versäumte er es, ernsthafte Eingriffe in das Gesundheitssystem der Region vorzunehmen. Tatsächlich hat er während seiner ersten fünfjährigen Amtszeit das Gesundheitssystem privatisiert und ganze Krankenhäuser und Notfallstationen geschlossen. Und heute ist das Gesundheitssystem nicht in der Lage, die Gesundheitskrise zu bewältigen. De Luca befindet sich daher in einer schwierigen Lage: Da die Krankenhäuser ausgelastet sind und die Fallzahlen immer weiter steigen, muss er entschlossen auftreten. Doch nach all dieser Zeit haben die Menschen nicht mehr die gleiche Bereitschaft wie noch im März, einen radikalen Lockdown zu akzeptieren. Die Kampanier*innen fühlen sich nun doppelt bestraft: Als das Virus vor allem den Norden traf, wurde das ganze Land abgeriegelt; jetzt, da Kampanien zu den am stärksten betroffenen Regionen gehört, wurden von der nationalen Regierung keine oder nur eine ungenügende finanzielle Unterstützung zur Bewältigung der Krise gewährt. Während De Luca mit einem neuen Lockdown drohte, verlor er kein Wort darüber, wie die popularen Klassen diesen finanziell überstehen sollen. Auch die nationale Regierung sprach nur vage davon, dass "Subventionen bereitgestellt" würden.

Wer steckt hinter den sozialen Protesten?

Trotz Besonderheiten dient Kampanien als Testfall für die Auswirkungen der Pandemie auf das soziale Gefüge. Die sozialen Proteste schwappten nach der ersten Demonstration in Napoli auf ganz Italien über. Die soziale Zusammensetzung der Proteste war vielfältig und komplex und je nach Stadt unterschiedlich. In den Protesten mischten unterschiedliche soziale und politische Kräfte mit, von neofaschistischen Gruppen über lokale Betreiber*innen von Kleinhandel (Bars, Restaurants, Nachtclubs) bis hin zu linken Organisationen. Die Politiker*innen und die nationalen Medien haben die Proteste jedoch schlicht als das Werk von Corona-Skeptiker*innen, Faschist*innen und der organisierten Kriminalität (Camorra) abgetan. Dies diente vor allem dazu, die Realität der wachsenden sozialen Krise zu verschleiern.

Die Proteste, die zunächst auf Facebook unter Nachbarschaftsgruppen von überwiegend Laden- und Restaurantbesitzer*innen organisiert wurden, mobilisierten die unterschiedlichsten Menschen aus vielen Teilen der Gesellschaft. Neben den Betreiber*innen von Kleinhandel waren auch deren Angestellte, Selbständige, prekär Beschäftigte und Arbeitslose vertreten. In der Tat sind in der besonderen Wirtschaft von Napoli die Grenzen zwischen diesen Kategorien oft verschwommen, da ein und dieselbe Person von einem Status zum anderen wechseln kann, ohne dass sich dies auf das Einkommen oder den sozialen Status auswirkt. Gerade das Kleinbürgertum ist eine komplexe soziale Kategorie, die von der „ehrlichen“ Kleinhändlerin reicht, die nur einen bescheidenen Lohn verdient und Schwierigkeiten hat, die Familie zu ernähren, bis zum Unternehmer, der jeden Abend 15.000 Euro einkassiert und seine Angestellten ohne Vertrag arbeiten lässt. Mit dem Fortschreiten der Pandemie und insbesondere mit dem Zusammenbruch des Tourismus, der in den letzten zehn Jahren die lokale und regionale Ökonomie vorangetrieben hat, ist das Einkommen all dieser Kategorien zusammengebrochen.

Die Forderungen der Protestierenden waren unterschiedlich. Es gibt eine allgemeine Frustration über die Aussicht auf einen neuen Lockdown, die von einer „Corona-Müdigkeit“ angetrieben wird. Viele der Protestierenden, vor allem die Bar- und Ladenbesitzer*innen, forderten in erster Linie nicht finanzielle Unterstützungsmaßnahmen, sondern lehnten schlicht und einfach eine neue Schließung ihrer ökonomischen Aktivitäten ab. So waren Slogans wie "Wir wollen arbeiten" und "Freiheit" stark präsent. Die Forderungen dieser Kleinhandelbetreiber*innen dominierten gar die Proteste, während diejenigen ihrer Beschäftigten in den Hintergrund fielen. Die Forderung eines Corona-Grundeinkommens für alle Arbeiter*innen und Arbeitslose ist zwar weit verbreitet, doch bisher hat die Politik nicht darauf reagiert. Angesichts der katastrophalen Lage des Gesundheitswesens fordern linke Kräfte Investitionen im öffentlichen Bildungssektor (z.B. kleinere Klassen – insbesondere für Kleinkinder, für die Fern-Didaktik keine Alternative ist) und im öffentlichen Gesundheitssystem (Wiedereröffnung geschlossener öffentlicher Krankenhäuser, kostenlose Corona-Tests), die Stärkung des öffentlichen Transports und die Einführung von gesundheitlichen und sozialen Sicherheitsmaßnahmen an den Arbeitsplätzen.

Seit Beginn der Krise behandelten die Regierungen die kollektive Gesundheit und die soziale Sicherheit als zwei sich ausschließende Ziele. Für die Regierungen erfordert die Bewältigung der Pandemie notwendigerweise einen Kompromiss mit den ökonomischen Kosten der Krise. So wurde die kollektive Gesundheit stets in Opposition zur wirtschaftlichen Sicherheit gesetzt und es wurden Vergleiche zu Kriegszeiten gezogen, in der alle Opfer erbringen müssten. Es kam daher nicht überraschend, dass die Wut über die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise nun als Ablehnung des Lockdowns, als Misstrauen gegenüber gesundheitlichen Maßnahmen oder gar in Form eines konspirativen Skeptizismus zum Ausdruck kommt. Die in ganz Italien ausgebrochenen Proteste zeigen uns jedoch, dass diese Wut ernst zu nehmen ist. Die Lösung der Corona-Krise erfordert soziale Maßnahmen und vor allem eine Einkommenssicherung, die weit über das hinausgehen, was bisher zur Verfügung gestellt wurde.

Die immanente Drohung eines neuen Lockdowns zeigt, dass die Einführung präventiver Maßnahmen der Regierenden zu spät kommt. Die zahlreichen Warnungen des Gesundheitspersonals bestätigen zudem, dass Italien kurz vor der gesundheitlichen Katastrophe steht. Wenn es so weiter geht, sterben Menschen in aufgrund von COVID-19 überfüllten Krankenhäusern mit überarbeiteten Gesundheitsarbeiter*innen oder aufgrund des politisch produzierten sozialen und ökonomischen Elends.