Eine angekündigte Katastrophe

30.11.2020
Maurizio Coppola

Nach dem dreimonatigen Lockdown von März bis Mai 2020 haben die nationale und regionalen Regierungen wenig unternommen, um sich angemessen auf die zweite Welle vorzubereiten. Dies hat in der Folge zu einer Vertiefung der gesundheitlichen und sozialen Krise geführt: Das Virus ist laut Expert*innen kaum mehr unter Kontrolle zu bringen, die Intensivstationen in den Krankenhäusern sind überbelastet und die Gesundheitsarbeiter*innen kommen an ihre Grenzen.

„Mit diesem Niveau der Neuerkrankungen hat die Zahl der durchgeführten Tests keinen Sinn mehr. Es machte Sinn, 400.000 Test pro Tag zu machen, um die Ansteckungsketten zu unterbrechen. Nun ist aber das Virus außer Kontrolle geraten und wir werden erst Ende 2021, Anfang 2022 wieder rauskommen.“ So erklärt Andrea Crisanti, Virologe und Dozent für Mikrobiologie an der Universität Padua am 15. November 2020 gegenüber der Tageszeitung La Repubblica die gesundheitliche Situation Italiens angesichts der Corona-Pandemie. Die täglich vom Gesundheitsministerium publizierten Zahlen zum Coronavirus bestätigen diese Position: Nach einem eher ruhigen Sommer begann die Ansteckungskurve ab Mitte September 2020 wieder zu steigen, am 16. Oktober überstiegen die täglichen Neuerkrankungen 10.000 Personen und erreichten knapp einen Monat später (13.11.2020) den peak von 40.902. Auch die Zahl der Todesopfer erlebte einen langsamen, aber sicheren Anstieg und erreichte am 24. November 853.

Weitaus beeindruckender als diese Zahlen sind jedoch die Bilder, die in den letzten Wochen in der internationalen Presse zu sehen waren. Im Krankenhaus von Rivoli (Turin) wurden Patient*innen mit Covid-Verdacht auf Feld-Tragen in der Notaufnahme tagelang alleine gelassen, worauf die Gewerkschaft des Pflegepersonals Nursind in einer offiziellen Notiz die Untätigkeit der Politik scharf verurteilte: „Covid-Patient*innen auf dem Boden, schmutzige Korridore, nie zu Ende gebrachten Umbauarbeiten und ein massiver Personalmangel. Das sind die dramatischen Bedingungen des Gesundheitswesens im Piemont. Uns fehlen die Worte.“

Wie das Beispiel aus Kalabrien zeigt, ist die Situation im Süden des Landes noch tragischer. Seit dem Jahr 2010 steht das kalabresische Gesundheitswesen wegen Misswirtschaft und Unterwanderung durch die Mafia unter kommissarischer Kontrolle, Anfang 2019 wurde Saverio Cotticelli, ein ehemaliger General der carabinieri, als Leiter eingesetzt. Am 6. November 2020 zeigte er sich jedoch überrascht über die Aufgabe, einen Plan zur Bekämpfung der Virusverbreitung zu erstellen. „Ich muss einen operativen Covid-Plan erarbeiten? Das wusste ich nicht“, liess er vor laufender Kamera von RaiTre verlauten. Tatsächlich hatte niemand aus der regionalen Regierung diese Verantwortung übernommen und heute erlebt die süditalienische Region eine katastrophale Situation. Saverio Cotticelli wurde gezwungen, sich aus seinem Amt zu verabschieden.

Es handelt sich hierbei um zwei beispielhafte Fälle von systematischer Misswirtschaft, die mit der Corona-Krise noch einmal stärker zum Vorschein gekommen sind. Wo steht Italien heute, acht Moante nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie, in gesundheits- und sozialpolitischer Hinsicht?

Die Untätigkeit der Regierungen

Nachdem die Kurven von Neuerkrankungen und Todesopfer in den Monaten Mai und Juni langsam aber sicher abnahmen und den ganzen Sommer hindurch stabil tief blieben, bereitete ihren stetigen Anstieg ab Mitte September viele Sorgen. Die Bilder des Militärs, das in der lombardischen Stadt Bergamo die Särge abtransportieren mussten, weil das Krematorium der Stadt an die Kapazitätsgrenzen stieß, prägten noch das kollektive Gedächtnis der Italiener*innen. Obwohl Anfang der zweiten Welle nun aber die Neuansteckungen stark angestiegen sind, blieb zu Beginn die Opferzahl tief. Dies liegt daran, dass während der ersten Welle die positiven Fälle in einem schon entwickelten Stadium der Krankheit aufgedeckt wurden, während nun mit der Zunahme der täglich durchgeführten Tests zu Beginn der zweiten Welle ein Großteil der positiv getesteten Personen keine Symptome aufwiesen. Sie befanden sich am Anfang des Krankheitsverlaufes. Die Opfer-Kurve begann dann aber mit der Entwicklung der Krankheit tatsächlich Mitte November wieder zu steigen.

Die Fähigkeit, den Krankheitsverlauf unter medizinische Kontrolle zu bringen, ist stark von der Möglichkeit abhängig, Menschen mit Symptomen zu hospitalisieren und sie in den Intensivstationen zu pflegen (intensivmedizinische Behandlungskapazität). Im nationalen Plan zur Bekämpfung des Coronavirus beschloss die Regierung den Ausbau der Intensivstationen, um eine zweite Welle besser bewältigen zu können als die erste Welle. Die politische Umsetzung fällt allerdings in den Verantwortungsbereich der Regionen. Laut der Datenanalyse von IlSole24Ore hatten bis Mitte Oktober nur zwei (Venetien und Aostatal) von 21 Regionen das angegebene Ziel erreicht. In den meisten Regionen – darunter auch in den stark betroffenen wie Lombardei, Piemont und Kampanien – wurden die Intensivstationen während des Sommers um höchstens 10% der vom nationalen Krisenplan angegebenen Plätze erweitert. Laut der Agentur der regionalen Gesundheitsdienste erreichten die Krankenhäuser schon Mitte Oktober die „kritische Grenze“ von 30% Covid-Patient*innen in den Intensivtherapien, Mitte November waren in 17 Regionen gar über 40% der Plätze von Covid-Patient*innen belegt.

Zudem war laut Gesundheitsorganisation Gimbe das testing and tracing System Italiens nicht mehr fähig, die Ansteckungsketten nachzuverfolgen: Bei über 80% der täglich positiv getesteten Personen ist es nicht möglich herauszufinden, in welchem gesellschaftlichen Kontext die Ansteckung passiert. Tatsächlich gibt es dazu auch wenige Statistiken, einzig das Nationale Institut für die Arbeitsunfallversicherung Inail (Istituto nazionale per l'assicurazione contro gli infortuni sul lavoro) publiziert regelmäßig die Covid-Erkrankungen am Arbeitsplatz. Demnach passieren rund 10% aller Ansteckungen am Arbeitsplatz, ein Drittel aller Arbeitstoten ist im Jahr 2020 an Covid-19 gestorben – Tendenz steigend. Auch wenn das Virus außer Kontrolle geraten und das Gesundheitssystem einem großen Stresstest ausgesetzt war, taten die politischen Verantwortlichen sehr wenig, um diese Probleme anzugehen.

Das bedeutet aber noch lange nicht, dass während dieser Zeit kein Geld floss. Gerade in den größeren Regionen wie die Lombardei, Kampanien und Toskana wurden seit Ausbruch der Pandemie größere „Investitionen ins Gesundheitswesen“ getätigt. Die nationale Behörde zur Korruptionsbekämpfung Anac ist diesen Ausgaben auf die Spur gegangen und frappante regionale Unterschiede aufgedeckt: Während in der Region Venetien viel Geld in der Durchführung von Covid-Tests geflossen ist, wurden in der Region Kampanien vor allem individuelle Schutzdispositive wie Masken gekauft. In den erste vier Monaten des Jahres wurden in Kampanien 204 Millionen Euro „investiert“ und dafür sage und schreibe 1.279 öffentliche Ausschreibungsverfahren eingeleitet. Kampanien gehört zudem mit 76.308 Euro zu den Regionen mit den höchsten Pro Kopf Ausgaben für jede*n Covid-Patient*in. Die Staatsanwaltschaft von Napoli führt heute in diesem Zusammenhang unterschiedliche Untersuchungen wegen illegitimer Finanzierungen von Privaten von Seiten der Region durch.

Private Profite gegen kollektive Gesundheit

Diese wenigen Beispiele zeigen: Die zweite Welle der Covid-19-Pandemie deckt vermehrt die Widersprüche auf, die der gesamten (Gesundheits-)Politik, wie sie in den letzten Jahrzehnten geführt wurde, zugrunde liegen: Die Austeritätspolitik im Gesundheitswesen bedeutet in erster Linie Abbau der Betten in den öffentlichen Intensivstationen und beim Gesundheitspersonal und somit Überforderung des nationalen Gesundheitssystems in einer Krisensituation. Diese Entwicklungen werden heute politisch dazu benutzt, um den Umbau und die Privatisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben.

Dies trifft die sogenannte territoriale Medizin besonders stark. Mit dem am 9. März eingeführten Notfalldekret gab die Regierung den Regionen die Anweisung, pro 50.000 Einwohner*innen medizinische Teams aufzustellen, die von Haus zu Haus Covid-Patient*innen bzw. Menschen mit Symptomen kostenlos behandeln, um die Hausärzt*innen zu unterstützen. Die sogenannten Usca (Unità Speciali di Continuità Assistenziale) wurden aber bei weitem nicht von allen Regionen mobilisiert, so dass private Kliniken diese Leere nutzen, um ihre Dienste anzubieten. In der Region Lombardei zum Beispiel wurden diese medizinischen Teams nicht aufgestellt und erkrankte Menschen waren gezwungen, auf private Gesundheitsinstitutionen zurückzugreifen. Die privaten Klinken bieten jedoch Tests und fachärztliche Untersuchungen nicht kostenlos an, im Gegenteil: Ein Test kostet 75 Euro und die fachärztliche Untersuchung 450 Euro. Auf diese Weise werden einkommensschwache und armutsbetroffene Menschen de facto aus dem öffentlichen Gesundheitssystem ausgeschlossen.

Die privaten Kliniken profitieren also von dieser systematischen Unterfinanzierung der öffentlichen Krankenhäuser. Die regionalen Regierungen haben die exponentielle Erhöhung der Covid-Fallzahlen und den Mangel an Plätzen in der Intensivtherapie dazu benutzt, um die Taschen der privaten Kliniken zu füllen. Die Region Kampanien bezahlt den privaten Klinken für jeden nicht besetzten Platz in der Intensivtherapie 1000 Euro und für jeden nicht besetzten Platz in der Sub-Intensivtherapie 360 Euro. Es handelt sich also um eine Vorauszahlung einer noch nicht erbrachten Leistung, die je nach Pandemie-Entwicklung von den privaten Klinken gar nie erbracht werden wird – Ausgaben, die eigentlich in den Ausbau der öffentlichen Einrichtungen gesetckt werden sollten.

Es geht hier nicht einfach um mangelnde Interventionen von Seiten des Staates bei Ausbruch der Pandemie. Die aktuellen gesundheitspolitischen Schwierigkeiten sind Ausdruck der strukturellen Schwäche des nationalen Gesundheitssystems, die schon vor der Pandemie vorherrschten und das Resultat vorangegangener politischer Entscheidungen sind: Austerität, neoliberale Umstrukturierung und Privatisierung der öffentlichen Dienste.

Das Gesundheitspersonal an seinen Grenzen

Die Konsequenzen dieser neoliberalen Politik tragen die Patient*innen: Wer an Coronavirus erkrankt ist, findet nur mit großer Mühe einen Platz in den Intensivtherapien. Viele sterben aufgrund fehlender Plätze und dem Mangel an Ambulanzen schon bevor sie überhaupt ein Krankenhaus betreten. Menschen mit anderen Pathologien müssen aus demselben Grund ihre Behandlung aufschieben und riskieren, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert; wenn sie notfallmäßig ins Krankenhaus kommen, riskieren sie aufgrund der prekären Lage der Gesundheitsstrukturen hingegen, an Covid-19 zu erkranken. Es sind in der Folge die Gesundheitsarbeiter*innen, die die Last dieses desolaten Zustandes des nationalen Gesundheitswesens tagtäglich managen müssen.

Die noch zu Beginn der Pandemie als „Held*innen“ bezeichneten Gesundheitsarbeiter*innen wurden von der Politik regelrecht ihrem eigenen Schicksal überlassen. Bis heute starben über 200 Ärzt*innen am Virus. In einer Mitteilung des 18. November kritisieren die Gewerkschaften diesen Zustand aufs schärfste: „Über 20.000 Gesundheitsarbeiter*innen haben sich mit dem Virus infiziert, darunter Ärzt*innen der Allgemeinmedizin, die oft ohne Schutzdispositive zu arbeiten gezwungen sind. In den Gesundheitseinrichtungen mangelt es an Personal, wer arbeitet ist gezwungen, doppelte Schichten zu verrichten. Bis heute haben wir angesichts der dramatischen Zustände keine strukturellen Investitionen gesehen, um das territoriale Netz der Allgemeinmedizin auszubauen: mangelnde Aktivierung der medizinischen Teams, die von Haus zu Haus gehen, keine Perspektive auf unbefristete Neueinstellungen von Pflege-, Notfall- und Ambulanzpersonal.“

Darüber hinaus drohen in einigen Regionen den Gesundheitsarbeiter*innen sogar Disziplinarmaßnahmen und Stellenverlust, falls sie in der Öffentlichkeit über ihre Arbeitsbedingungen und über die Zustände in den Gesundheitseinrichtungen berichten. Ein Negativbespiel ist erneut die Region Kampanien, wo Anfang Oktober nach der Veröffentlichung von erschreckenden Bildern zu den Zuständen im Immunologie-Zentrum Codugno und im grössten Krankenhaus Cardarelli die regionale Covid-Kriseneinheit dem Gesundheitspersonal einen Maulkorb auferlegt und den Medienschaffenden verboten hat, sich in der Nähe der Einrichtungen zu bewegen und darüber zu berichten.

In diesem Kontext war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Gesundheitsarbeiter*innen zu Protestaktionen entschieden würden. Mitte November protestierten dann in unterschiedlichen Gesundheitseinrichtungen Italiens Äzt*innen und Pfleger*innen, indem sie die Arme verschränkten, um auf ihre Arbeitssituation aufmerksam zu machen. Für den 9. Dezember ist von den grossen Gewerkschaften ein italienweiter Protesttag angekündigt worden.

Über die gesundheitliche Krise hinaus

Während das nationale Gesundheitssystem kollabiert, ist die Zentralregierung weiterhin damit beschäftigt, eine Balance zwischen sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Anforderungen zu finden. Aufgrund des ersten Lockdowns hat das italienische BIP im zweiten Quartal 2020 einen Rückgang von 12.4% verzeichnet. Auf Druck des Unternehmensverbandes Confindustria ist die Regierung nicht bereit, einen zweiten gesamtitalienischen Lockdown zu verhängen. Zudem sind Mitte Oktober soziale Proteste ausgebrochen, die sich gegen eine Corona-Schließungen richteten und finanzielle Unterstützung für Arbeiter*innen, Mittelklasse und Kleingewerbe fordern. Die Bereitschaft der Bevölkerung, einen zweiten Lockdown hinzunhemen, ist sehr gering, da während des ersten Lockdowns psychische und soziale Probleme stark zugenommen haben (Suizid, häusliche Gewalt, Feminizide, Verkauf von  Psychopharmaka, Depressionen und Angstzustände etc.), die sich jetzt umso mehr in Verzweiflung oder Wut ausdrücken.

Die Unfähigkeit der Politik, diesen Balanceakt zu meistern, wird beim Umgang mit der Wiedereröffnung der Schulen besonders ersichtlich. Bildungsministerin Lucia Azzolina hatte während des Sommers ausschließlich auf die „Erneuerung der Infrastruktur“ gesetzt und verteilte über öffentliche Ausschreibungen Millionen an private Zulieferer von neuen Schulbänken und anti-Covid-Material. Weitaus wichtigere Probleme wurden aber nicht gelöst: Rund 200.000 Lehrer*innen italienweit hatten weiterhin nur eine befristete Anstellung, waren gezwungen, unter prekären Bedingungen an unterschiedlichen Schulen zu arbeiten und wurden so zu Träger*innen des Virus. Auch wurden keine Investitionen im öffentlichen (Schul-)Transport getätigt, die überfüllten Busse und Bahnen wurden zu hotspots der Virusverbreitung, in denen Arbeiter*innen und Schüler*innen täglich reisen.

Kurz nachdem die Schulen Mitte September wieder geöffnet hatten, wurden sie mit dem Anstieg der Ansteckungskurve im Oktober wieder geschlossen und in Fern-Didaktik übergeführt. Vor allem in ärmeren Regionen und in ärmeren Familien, die aus ökonomischen Gründen keine stabile Internetverbindung und keinen Zugang zu Computer haben und die Eltern gezwungen sind, weiter zu arbeiten, werden Kinder und Jugendliche regelrecht aus dem Bildungsprozess ausgeschlossen. Heute sind rund die Hälfte der 8.4 Millionen Schüler*innen gezwungen, von zu Hause aus den Unterricht zu verfolgen. Das Potential der Schulen, ihre Räumlichkeiten zu einem Ort des testing and tracing umzufunktionieren und gleichzeitig das Recht auf Bildung zu garantieren, wurde verpasst.

Anstatt einen Kontext zu schaffen, der die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise auf ein Minimum reduzieren würde – Schließung der nicht lebensnotwendigen ökonomischen Aktivitäten, Ausbau des öffentlichen Gesundheits-, Bildungs- und Transportsystems, finanzielle Unterstützung für Lohnabhängige, die den Job verlieren – verschärft sich die Situation unter den gegebenen Coronamaßnahmen nur noch mehr.

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Über den Autor

Maurizio Coppola arbeitet als freiberuflicher Journalist, Übersetzer und Dolmetscher und unterhält den Telegram-Kanal @ItalienNews mit aktuellen Nachrichten in deutscher Sprache über Italien. Er lebt und arbeitet in Neapel.