Portugiesische Ratspräsidentschaft: Europäische Säule sozialer Rechte muss verbindlich werden

10.02.2021
Manuela Kropp, Projektmanagerin RLS Brüssel
Climate March in Brussels

Durch die COVID-19-Pandemie sind EU-weit 40 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt worden, und mehr als 16 Millionen Menschen sind arbeitslos, zwei Millionen mehr als im Jahr vor der Pandemie. Neben den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie ist außerdem seit Jahren eine Zunahme von „in-work poverty“ (Erwerbstätigenarmut) zu beobachten, also Beschäftigte, die trotz Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Einer von 10 Beschäftigten fällt unter die Armutsschwelle, ein Anstieg von 12 % in den letzten Jahren. Einer der Hauptgründe für diese Entwicklung sind die steigenden Mieten in allen Mitgliedstaaten der EU, die quasi zu einer schleichenden Enteignung der Lohnabhängigen führen; ein weiterer wichtiger Grund ist die sinkende Tarifbindung in vielen Mitgliedstaaten der EU: in mindestens 14 Mitgliedstaaten verfügt über die Hälfte der Beschäftigten über keinen Tarifvertrag, in nur sieben Mitgliedstaaten liegt die Rate der Tarifbindung höher als 80 %. In einigen Mitgliedstaaten wird die Pandemie bereits als Vorwand genutzt, um Rechte der Beschäftigten einzuschränken, so Luca Visentini auf der Konferenz von ETUI „Towards a new socio-ecological contract“ am 3. Februar 2021.

Nun hat die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft jüngst angekündigt, die europäische Säule sozialer Rechte und das europäische Sozialmodell in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen; die europäische Kommission wird im März 2021 einen entsprechenden Aktionsplan vorlegen.

Wie wirksam diese Maßnahmen dann aber sein werden, hängt von der konkreten Umsetzung in den Mitgliedstaaten ab. Denn bisher ist die europäische Säule sozialer Rechte nur eine unverbindliche Sammlung von 20 „sozialen Prinzipien“, die im November 2017 verabschiedet wurde, und seither nicht zu einer Verbesserung der sozialen Lage in der EU beigetragen hat. Und das bedeutet: die europäische Säule sozialer Rechte und das „soziale Fortschrittsprotokoll“ müssen endlich Teil der EU-Verträge werden, damit soziale Schutz- und Arbeitnehmerrechte Priorität vor den Binnenmarktfreiheiten erhalten – der europäische Gewerkschaftsbund fordert dies seit Jahren. Ein Beispiel: Prinzip Nummer 6 der sozialen Säule nennt sich „Löhne und Gehälter“ und besagt, dass Beschäftigte das Recht auf eine „gerechte Entlohnung“ haben, die „einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.“ Für Millionen von Beschäftigten würde sich die reale Lebenssituation verbessern, würde dieses Prinzip tatsächlich in die Tat umgesetzt. Weitere „soziale Prinzipien“ umfassen bspw. die Gleichstellung der Geschlechter, Förderung des sozialen Dialogs, Zugang zur Gesundheitsversorgung und Zugang zu essenziellen Dienstleistungen wie Wasser, Energie und Verkehr.

Angesichts der sozialen und ökologischen Krise ist klar, dass es nach der Pandemie kein Zurück zum alten „Normal“ geben darf, sondern die Wiederaufbauprogramme der Mitgliedstaaten den sozial-ökologischen Umbau angehen müssen. Vier der neun „planetaren Grenzen“ sind bereits überschritten (Landnutzung, Integrität der Biosphäre, Klimawandel, Stoffkreisläufe) und setzen uns in Bezug auf die Bekämpfung des Klimawandels immer engere zeitliche Grenzen.

Der Green New Deal, wie ihn linke Kräfte seit vielen Jahren fordern, erfordert denn auch eine wirksame soziale Absicherung durch umfangreiche Tarifbindung, Schaffung guter Arbeit, Stärkung der Rechte von Gewerkschaften und der Beschäftigten, auskömmliche Mindestlöhne, Weiterbildung, Fortbildung und ein Sozialsystem, das vor Armut schützt. Dazu gehört bspw. auch, sog. „Plattformarbeiter*innen“ als das zu behandeln, was sie sind, nämlich Angestellte, denen der gleiche Schutz zustehen muss, wie allen anderen Beschäftigten auch.

Welche sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen bei der ökologischen Transformation unserer Gesellschaften auf uns warten, wird deutlich, wenn man sich die schieren Beschäftigtenzahlen einzelner Schlüsselsektoren anschaut: 350.000 Menschen arbeiten im Kohlesektor der EU, jedoch sage und schreibe 14 Millionen Beschäftigte (einschließlich indirekter Jobs) in der Automobilindustrie. Soll hier der ökologische Umbau gelingen – hin zu einem massiven Ausbau von Erneuerbaren Energien und zu einem Aufbau einer ökologischen Mobilitätsindustrie einschließlich eines Rückbaus der Autoindustrie, dann erfordert dies umfangreiche Investitionen. Investitionen in alternative Produktion (Stichwort Fahrzeuge für den ÖPNV und Schienenverkehr)und natürlich in Bildung, Sorgearbeit, Gesundheitswesen usw. Dazu gehört natürlich auch die Schaffung von „guter Arbeit“ in diesen Sektoren mit einem Verdienst, der über dem Mindestlohn liegt, die Sicherstellung von Fortbildung und Weiterbildung für die Beschäftigten in den fossilen Industrien und Mitsprache bei der betrieblichen Konversion durch Stärkung der Wirtschaftsdemokratie.

Die europäische Säule sozialer Rechte darf also kein Papiertiger bleiben – sondern muss tatsächlich bindendes Recht werden, um die Rechte von Gewerkschaften und Beschäftigten zu stärken. Nur dann kann ein gerechter Übergang (just transition) im Energie-und Automobilsektor gelingen, und nur dann werden die betroffenen Beschäftigten die Transformation mittragen.

Wie es nicht geht, zeigen die jüngsten Äußerungen des EU-Kommissars für Wirtschaft, Paolo Gentiloni: Ende Januar 2021 rief er zu einer stärkeren Einbindung der Gewerkschaften bei der Ausarbeitung der nationalen Wiederaufbaupläne auf – und begründete dies damit, dass ansonsten die angestrebten Reformen der Arbeitsmärkte und des Rentensystems nicht durchsetzbar wären. Diese Reformen zielen auf den Abbau von Schutzniveaus und eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, und untergraben damit letztendlich den notwendigen sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaften. Ebenso wie die aktuelle Diskussion, die strengen europäischen Verschuldungsregeln wieder in Kraft zu setzen, die doch viele notwendige Investitionen abwürgen würden.

Umso wichtiger, dass sich alle progressiven Kräfte in Zivilgesellschaft und Parlamenten dem entgegenstellen und für einen sozialen Green New Deal und eine verbindliche europäische Säule sozialer Rechte streiten.