150 Jahre seit der Pariser Kommune

Interview mit Michèle Audin

04.03.2021

„Dies ist der einzige Moment in der Geschichte Frankreichs, wo die „schofle Menge“ das Wort und sogar die Macht für einige Wochen ergriff.“ Die unermüdliche Autorin erklärt uns, warum die Pariser Kommune wichtig war und weiterhin ist, sowohl für den Aufbau des französischen Staates als auch für die Vorstellungswelt der internationalen Linken.

Ethan Earle: Sie sind Mathematikerin und Schriftstellerin und schreiben einen Blog über die Pariser Kommune, der zu einer unschätzbaren Quelle für all diejenigen geworden ist, die sich für die Geschichte der Kommune interessieren. Verraten Sie uns mehr über dieses Projekt, ihren beruflichen Hintergrund und ihre internationale und politische Beziehung zur Kommune.

Michèle Audin: Es hat so angefangen: Ich wollte einen Roman schreiben, der in Paris zur Zeit der Kommune von 1871 spielt. Ich erkannte schnell, dass das, was ich über dieses Ereignis zu wissen glaubte, fast immer verzerrt und oft sogar ganz falsch war. Und dass ich nicht die Einzige war, die solche Fehler erlebte. Es gibt eine wahre „goldene Legende“ über die Kommune – im Übrigen ist es sehr interessant herauszufinden, woher sie kommt, warum und wie sie sich verbreitet. Auf jeden Fall hatte ich etwas Neues gelernt und ich hatte Lust, darüber zu berichten. Aber es war viel zu viel für einen Roman. Ich kam nicht voran, bis ich die Idee hatte, diesen Blog ins Leben zu rufen. Die Artikel nahmen mir die Last von all dem ab, was ich „zu viel“ wusste.

Es war ein Erfolg in zweifacher Hinsicht: Ich schrieb den Roman Comme une rivière bleue... und der Blog entwickelte sich auf seine eigene Weise weiter.

So ist das mit der Forschung: Je mehr man lernt, desto stärker wird man sich bewusst, was man noch alles lernen muss! Dies ist eine Erfahrung, die ich während meiner mathematischen Forschungen gemacht habe, aber sie hat mich trotzdem überrascht. Wie Sie sehen, weiche ich dem Thema Mathematik aber nicht komplett aus. Es spielt in dieser Geschichte eine sehr vielfältige Rolle und hat mich natürlich dazu bewogen sorgfältig zu arbeiten. Im Buch Comme une rivière bleue wird aber auch thematisiert, was die wissenschaftlichen Akademiker*innen in Paris während der Kommune gemacht haben.

Natürlich stand der Wunsch nach einem Roman nicht wirklich am Anfang meiner Verbindung zur Pariser Kommune... Dieser Bezug zur Kommune mit ihrer goldenen Legende, kommt von sehr viel weiter und findet zweifellos auch darin seinen Ursprung, dass ich in einer kommunistischen Familie aufgewachsen bin. Zunächst war dieser Bezug eher sentimental als intellektuell und politisch. Ich war sehr beeindruckt, als ich zum ersten Mal zur Mur des Fédérés (Mauer der Kommune) ging. Anlass war der hundertste Jahrestag der Kommune, ich war siebzehn Jahre alt.

EE: Warum ist die Kommune so wichtig? Wie konnte sie (und die Reaktion darauf) zum Aufbau der Staatsmacht beitragen? Warum ist sie heute im Gedächtnis Frankreichs immer noch so lebendig?

MA: Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts gab es eine politische Entwicklung mit einer starken kommunistischen Partei, die die Kommune als eine Art Prolog zur russischen Revolution vom Oktober 1917 betrachtete, sodass dieses Thema, mit Fragestellungen, wie Morgengrauen oder Abenddämmerung? Diktatur des Proletariats oder Selbstverwaltung? (ich schematisiere hier) in der Erinnerung stets hochgehalten wurde.

Heute ist diese Fragestellung weiterhin auf andere Weise ein wichtiges politisches Thema. Ich glaube, dies war der einzige Moment in der Geschichte Frankreichs, wo die „schofle Menge“ das Wort und sogar die Macht für einige Wochen ergriff. Viele Pariser*innen begannen, über ihre Angelegenheiten, ihr Leben, ihre Wünsche und Hoffnungen zu diskutieren. Sie waren keine Berufspolitiker*innen, sie waren Unbekannte. Selbst ihre gewählten Vertreter,*innen die fast so unbekannt waren wie sie selbst, durften nicht für sie sprechen. Das ist es, was unsere „Demokratien“ am meisten fürchten.

EE: Sie haben kürzlich ein Buch über die Blutige Maiwoche geschrieben, in der die Kommune ihre letzte Niederlage erlitt und mehr als 10.000 Kommunard*innen von der Regierung Thiers getötet wurden. Erzählen Sie uns von dieser Woche. Was sollte jeder wissen? Was weiß man nicht über die Blutige Maiwoche?

MA: Herr Thiers und seine Regierung flohen am 18. März nach Versailles. In Paris organisierte das Zentralkomitee der Nationalgarde Wahlen, woraufhin am 28. März die Kommune proklamiert wurde. Zur gleichen Zeit aber verschwendete Thiers in Versailles keine Zeit und reorganisierte die Armee, insbesondere mit Hilfe von Kriegsgefangenen, die von den Preußen freigelassen worden waren. Diese Armee war darin ausgebildet, Paris anzugreifen: Es kam nicht mehr in Frage, den Soldaten die Möglichkeit zu geben, sich mit Pariser*innen zu verbrüdern, wie es am 18. März auf dem Montmartre geschehen war. Ab dem 2. April begann der (Bürger-)Krieg in Versailles. Es war in der Tat ein mörderischer Krieg, auch wenn er zunächst durch die Verteidigung der Festungen und Forts im Süden (Issy, Vanves usw.) außerhalb von Paris stattfand. Bis zum 21. Mai, als es der Armee von Versailles aufgrund der Schwächung der Kommune und einer schlecht (oder gar nicht) verteidigten Bastion der Festungsanlagen gelang, durch die Porte de Saint-Cloud in die Stadt einzudringen. Im Laufe der Woche eroberte sie systematisch, von Westen nach Osten, die Stadt zurück. Der Krieg endete am 28. Mai in Belleville.

Sechs- bis neunhundert Barrikaden wurden in der Stadt errichtet, die die Versailler Armee einnahm oder umstürzte. Aber, worüber wir nicht genug wissen, ist, dass es nicht nur diesen Straßenkrieg gab. Die Barrikaden, das war ein mörderischer Krieg, aber es war Krieg. Dieselbe Armee jedoch massakrierte systematisch und völlig willkürlich die Bevölkerung in den eroberten Vierteln. Vor allem in den östlichen Stadtteilen kam es zu einem wahren Blutbad.

Was niemand weiß - und nie wissen wird - ist, wie viele Opfer es gab. Mehr als zehntausend Leichen von Unbekannten wurden auf Pariser Friedhöfen begraben. Aber so viele andere sind anderswo verschwunden.

EE: Sie sind auch die Tochter von Maurice Audin, einem Antikolonialisten, der 1957 in Algerien von der französischen Armee unter Folter ermordet wurde. Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen dem offiziellen staatlichen Gedenken an die Kommune und demjenigen an den Algerienkrieg?

MA: Mir scheint, es gibt mehr als nur Ähnlichkeiten.

Viele der Offiziere der „regulären“ französischen Armee, die die Niederschlagung des Pariser Aufstandes anführten, waren in Algerien ausgebildet worden. Sie hatten kein Problem damit, von den kolonialen Verbrechen zu den Massakern der Blutigen Maiwoche überzugehen.

Wir können auch an die Schlacht von Algier denken, wo 1957 alle polizeilichen Befugnisse an die Armee übertragen wurden, genau, wie es in Paris im Mai 1871 der Fall gewesen war - zum ersten Mal auf Ebene einer großen Stadt. Diesmal war es der Kolonialkrieg, der von den Errungenschaften der Blutigen Maiwoche „profitierte".

Man kann ebenfalls an den französischen Terror denken. Wie es Thiers während der Blutigen Maiwoche formulierte: „Der Boden von Paris ist mit ihren Leichen übersät. Dieses furchtbare Schauspiel wird hoffentlich den Aufständischen, die es wagten, sich zu Anhängern der Kommune zu erklären, eine Lehre sein.“ Ist es nicht die gleiche „Philosophie“, die im Mai 1945 in Setif und Guelma umgesetzt wurde?

Aber das ist noch nicht alles. Es wird eine Lektion erteilt und zur gleichen Zeit wird etwas geleugnet. Ein Historiker aus Versailles, Maxime Du Camp, schwört, dass während der Blutigen Maiwoche in Paris nicht mehr als 6.500 Menschen starben. Seltsamerweise scheint auch die Frage nach der Anzahl der Toten eine Herausforderung darzustellen. Wer weiß, wie viele Tote es in Algerien im Mai 1945 gab?

Was natürlich wiederum die Niederschlagung der Demonstration von Algerier*innen am 17. Oktober 1961 in Erinnerung ruft – nun abermals in Paris. Wieder ging es darum zu terrorisieren. Es war in Paris, und ist kaum sechzig Jahre her. Eine riesige Staatslüge hat dazu geführt, dass die Zahl der Vermissten immer noch nicht mit Sicherheit bekannt ist.

Sie werden sicherlich wissen, dass die Historiker*innen des Algerienkrieges in Frankreich mit dem schwierigen Problem zu kämpfen haben Zugang zu den Archiven zu bekommen. Der zeitliche Abstand und die geographische Nähe machen es viel einfacher, die Archive für die Geschichte von Paris im Jahr 1871 zu konsultieren als für die Geschichte Algeriens im zwanzigsten Jahrhundert.

Aber seien Sie versichert, die Staatslüge war auch hier, wie ich bereits gesagt habe, trotz dieses einfacheren Zugangs zu den Archiven, gut organisiert, sodass wir vieles über die Massaker in Paris 1871 nie erfahren werden!

EE: Sie sind auch Autorin von Büchern über die „Unbekannte(n)“ der Kommune, vor allem Frauen. Warum ist das so? Was kann die Literatur leisten, was die geschichtliche Analyse nicht vermag?

MA: Die Kommunard*innen sind Unbekannte. Das waren sie bereits zu ihrer Zeit. Man hat es ihnen vorgeworfen: „Hier haben wir einen Maurer, der Frankreich regieren wollte!“ sagte ein Soldat aus Versailles zu einem Arbeiter der Kommunard*innen, den er danach erschoss. Es ist sehr schwierig, diese Menschen wiederzufinden, um ihre Geschichte, ihre Geschichten zu schreiben.

Und es ist hundertmal schwieriger, wenn diese Unbekannten unbekannt sind. Zum einen, weil man sie bereits zu ihrer Zeit vergessen hat. Hier ist ein Beispiel. Jeder wird Ihnen erzählen, dass der Club der sozialen Revolution ein überwiegend weiblicher Club war. Es ging um Themen wie zum Beispiel „Frauen in den Augen der Kirche und der Revolution“. Im Protokoll der Eröffnungssitzung im Amtsblatt (der Kommune) werden allerdings nur sieben Personen genannt... alles Männer.

Das ist die Art und Weise, wie die Geschichte damals von den Kommunard*innen geschrieben wurde. Aber damit ist es noch nicht vorbei. Ich gebe Ihnen zwei weitere Beispiele.

Alix Payen war eine junge Frau, die im April 1871 als Sanitäterin in das Bataillon eintrat, in dem ihr Mann Nationalgardist war. Sie nahm am Krieg in Fort d'Issy, Neuilly und Asnières teil. Das waren keine Scharmützel, das war ein echter Krieg. Sie sammelte die Verwundeten im Kugelhagel von Versailles ein. Ihr Mann wurde getötet. Sie schrieb an ihre Mutter und berichtete dabei nach und nach über das Leben des Bataillons. „Vor allem nachts tobt ein blindwütiger Kampf“, sagte sie, und ich habe diesen Satz als Titel „ihres“ Buches verwendet, das bei Libertalia erschienen ist. Ihre Briefe wurden 1911 von Péguy, 1978 von Maspero veröffentlicht. Ich glaube nicht, dass es noch ein weiteres unmittelbares, an Ort und Stelle verfasstes Zeugnis über diesen Krieg gibt. Doch diese Frau taucht in keinem biographischen Lexikon der Kommune auf - nicht einmal in einem Lexikon „über die Frauen der Kommune“.

Genauso wenig wie Émilie Noro. Sie wurde während der Blutigen Maiwoche verhaftet und als Gefangene nach Versailles gebracht, wo sie Monate verbrachte, bevor sie entlassen wurde. Sie schrieb einen Bericht über die Misshandlungen in der Hölle dieser Gefängnisse, der in einer Schublade vergessen wurde, bis ... 1913, bevor er veröffentlicht und... wieder vergessen wurde.

Aber es gibt nicht nur diese Unterlassungen – ob vor langer Zeit oder erst kürzlich. Auch in der ultimativen Quelle, die den Beweis liefert, dass Sie existiert haben, nämlich das Standesamt, waren Männer und Frauen nicht gleichgestellt. Nicht nur, weil Frauen oft mit dem Namen ihres Mannes angesprochen wurden, der nicht der Name war, den das Standesamt führte. Sondern auch, weil die Zeugen in sämtlichen Urkunden Männer waren (und Zeugen sind sehr hilfreich, um die Beziehungen zwischen Personen nachzuvollziehen).

Dank des Standesamts und der Zeugen der Familienurkunden, erfuhr ich sehr viel über einen Kommunarden, Albert Theisz. Ich wusste auch, dass er nach London geflohen war, dass ihm dorthin eine Frau gefolgt war, in deren Haus er sich ohne Zweifel nach der Flucht während der Blutigen Maiwoche versteckt gehalten hatte, dass ihn diese Frau durch ihre Arbeit als Wäscherin unterstützt und ausgehalten hatte. Aber ich konnte nichts über diese Frau erfahren, nicht einmal ihren Namen (höchstens vielleicht den Namen ihres Mannes, der nicht Albert Theisz war). Sie war „die treue Gefährtin“ von Albert Theisz. Und sie ist eine Frau, die die Geschichte verloren hat.

Hier endet die Geschichte.

Der einzige Weg, mehr über sie herauszufinden, war... sie neu zu erfinden. Sie ist die Heldin von Josée Meunier, 19 rue des Juifs. Dies ist ein Roman. Und es ist ein Beispiel dafür, was die Literatur leisten kann. Ich hoffe, dass sie auch der Geschichte etwas bringt.

EE: Wir haben über vergessene Geschichten gesprochen und über schwere und schwierige Geschichten. Aber die Kommune ist auch ein wichtiges Ereignis in der Vorstellung der Linken weltweit. Könnten Sie uns eine historische Begebenheit über die Kommune beschreiben, die diese Vorstellung nährt? Eine Anekdote, die Hoffnung weckt?

MA: Die Freude bei der Feier der Ausrufung der Kommune? Der ungarische Juwelier-Arbeiter Leo Frankel, ein Ausländer und gewählter Vertreter der Kommune? Und der allererste „Minister für Arbeit“ in der Geschichte Frankreichs? Das Dekret, das die Nachtarbeit für Bäcker-Arbeiter verbot, damit sie Zeit hatten, ein soziales Leben zu führen, zu lesen und zu lernen? Und das einzige wirkliche Dekret der Kommune, laut Leo Frankel? Ein Mitglied des Klubs der Proletarier*innen, das sich aufregte, weil diese Arbeiter*innen gekommen waren, um der Kommune für das Dekret zu danken – das Volk muss sich doch nicht bei seinen Vertreter*innen bedanken, weil sie ihre Pflicht getan haben? Oder auch mein liebstes Beispiel, die Worte einer alten Proletarierin, die in einem Club in Montmartre einem jungen Mann antwortet, der gerade die Ziele der Kommune erklärt hatte:

Er sagt uns, dass die Kommune etwas tun wird, damit die Leute bei der Arbeit nicht verhungern. Und richtig! Zu früh ist es bestimmt nicht! Denn seit vierzig Jahren bin ich Wäscherin, ich arbeite die ganze heilige Woche, ohne dass es immer reicht für etwas zu beißen oder für die Miete. Und warum ruhen sich die einen vom Neujahrstag bis zum Silvesterabend aus, während wir anderen bei der Arbeit sind? Ist das gerecht? Mir scheint, wenn ich die Regierung wäre, würde ich etwas dafür tun, dass sich auch die Arbeiter*innen ausruhen können. Wenn das Volk Urlaub hätte, wie die Reichen, würden sich nicht so viele Bürger*innen beschweren.

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Michèle Audin ist Mathematikerin und widmet sich heute der Literatur. Sie interessiert sich vor allem für die Geschichte der Pariser Kommune von 1871 und der Arbeiterbewegung am Ende des Zweiten Kaiserreichs. Zu diesem Thema hat die Autorin zwei Romane verfasst, Comme une rivière bleue und Josée Meunier 19 rue des Juifs (Gallimard). Sie hat zudem die Schriften von Eugène Varlin, die Briefe von Alix Payen und La Semaine sanglante (Libertalia) veröffentlicht.