Interview über die Gelbwesten und die französische Demokratie

14.07.2020

Wie ist es derzeit um die Gelbwesten bestellt und welchen Herausforderungen sehen sie sich gegenüber?

Zunächst möchte ich betonen, dass die Französinnen und Franzosen heute, am 14. Juli, ihren Nationalfeiertag begehen und an den Sturm auf die aus dem Mittelalter stammende Bastille im Pariser Zentrum erinnern, die einst als Waffenlager und Staatsgefängnis diente und Sinnbild königlicher Tyrannei und Macht war. Die Einnahme der Bastille durch das gemeine französische Volk stellte einen entscheidenden Wendepunkt im Laufe der Französischen Revolution dar. Heutzutage geht der Nationalfeiertag zumeist einher mit der größten Militärparade Europas und sonstigen Bekundungen in Form eines kruden Nationalismus und reaktionärer Staatsmacht. Gleichzeitig bleibt die Place de la Bastille ein beliebter Treffpunkt für Menschen aus ganz Paris und darüber hinaus und fungiert häufig als Schauplatz für Protest und politische Demonstrationen.

Angesichts der aktuellen Turbulenzen in der französischen Politik und insbesondere der Gelbwestenbewegung („Gilets jaunes“) sowie der breiten Bürgerinitiativen der letzten Jahre halte ich diesen Tag für besonders passend, um dieses Gespräch zu führen. Die Gelbwesten werden häufig als Bewegung bezeichnet oder beiläufig als Bewegung interpretiert. Nach meiner Auffassung führt dies zu einer konzeptuellen Verwirrung. Bewegungen kommen typischerweise durch ein dialektisches Wechselspiel zwischen Spontanität und Organisation zustande – so wie auch Rosa Luxemburg von der Dialektik der Bewegung sprach. Die Gelbwestenbewegung bildete sich außerhalb organisatorischer Strukturen und weitestgehend als deren  Gegengewicht. Wenngleich aus den Protesten der Gelbwesten geordnete Strukturen hervorgingen, könnte niemand je den Anspruch erheben, die Gelbwesten als Ganzes zu verkörpern. Folglich gab es nur sehr wenige konkrete Forderungen, die wirklich dem kollektiven Protest zugeschrieben werden 
konnten.

Das heißt, die Gelbwesten sind keine Bewegung?

Meines Erachtens stellen die Gelbwesten keine Bewegung, sondern eher ein breites und größtenteils spontanes Aufbegehren der Arbeiterklassen gegen den politischen Status quo und die gegenwärtigen Machtverhältnisse im Land dar.  Die in Frankreich bei den Protesten getragenen gelben Westen dienten zwar als hervorstechendes optisches Symbol der Einheit, täuschten aber auch darüber hinweg, dass sich darunter das gesamte Spektrum der Wut und Sehnsüchte der 
französischen Arbeiterklasse verbarg – revolutionäre, reformistische und reaktionäre, aber auch visionäre, äußerst konkrete und ebenso recht inhaltslose Konzepte. So wie das in der Regel aus dem spontanen Aufstand einer Struktur entsteht, die so heterogen und politisch fragmentiert ist wie die heutige 
französische Arbeiterklasse.

Doch lassen Sie mich nach diesen Ausführungen auf Ihre Frage eingehen. Wenn es um die Gelbwesten geht, lässt sich dieses Kollektiv lediglich als Cluster aus politisch entfremdeten und unzufriedenen Arbeiterklassen mit gemeinsamen Herausforderungen beschreiben, deren Lösungen genauso komplex sind wie das Kollektiv selbst. Und bedauerlicherweise sind die Lebensbedingungen der französischen Arbeiterklasse insgesamt betrachtet genauso schlecht und wechselhaft wie in der Zeit vor dem Aufstand.

Zwar halten die Proteste der Gelbwesten an, doch seit Frühjahr letzten Jahres haben die Aktivitäten nicht mehr zugenommen. Nach wie vor gehen Menschen auf die Straße, während aus den Unruhen verschiedene politische Initiativen hervorgegangen sind, einige davon revolutionär, andere reformistisch 
und wieder andere reaktionär. Ohne Frage standen einige der Bürgerlisten bei den jüngsten Kommunalwahlen unter dem Einfluss der Gelbwesten. So gelang es der Neuen Antikapitalistischen Partei (Nouveau Parti anticapitaliste, NPA) einen ehemaligen Gelbwesten-Aktivisten, der bei dem brutalen Polizeieinsatz unter der Macron-Regierung seine Hand verloren hatte, in den Stadtrat von Bordeaux zu bringen. Doch wenn wir die Gelbwesten irrtümlicherweise als kohärente Bewegung bezeichnen, entpuppen sich der „Output“ oder die „gegenwärtige Lage“ dieser Bewegung unvermeidlich als Enttäuschung.

Auch wenn das etwas bedrückend und pessimistisch klingen mag, bewerte ich den Einfluss der Gelbwesten trotz dieser Heterogenität und Fragmentierung äußerst positiv. Für mich sind die Demonstrationen der Gelbwesten der Gipfelpunkt von Bürgerprotesten, die während der „Nuit debout“ 2016 
begannen und in weitere Missmutsbekundungen – wie gegen Kürzungen der Gelder für Krankenhäuser, die vorgeschlagene Rentenreform sowie in jüngerer Zeit die Kundgebungen gegen Polizeigewalt und rassistische Diskriminierung – mündeten.

Ich sage nicht, dass alle diese Proteste gleich sind und schon gar nicht, dass alle Demonstrant*innen dieselbe Auffassung vertreten. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Proteste der Gelbwesten dieser Epoche einen überdeutlichen Stempel aufgedrückt haben. Denn nun können Menschen aller Klassen und Hintergründe einer selbstherrlich gewordenen politischen Klasse – die den Aufschrei der vielen Menschen überhört, die das politische und wirtschaftliche System Frankreichs nicht länger für tragbar halten – die Zähne zeigen.

Wie bewerten Sie die von Präsident Macron  initiierten Bürgerversammlungen?

Ein unmittelbares Ergebnis der Gelbwesten-Proteste ist der Bürgerkonvent für das Klima, der von Präsident Macron im Rahmen der „großen nationalen Debatte“ eingerichtet wurde, die ebenfalls überwiegend als Antwort auf das Aufbegehren der Gelbwesten gedacht war. Dieser Konvent setzte sich aus über 150 per Losverfahren bestimmten Vertreter*innen der französischen Gesellschaft zusammen und sollte Maßnahmen vorschlagen, um die nationalen CO2-Emissionen um 40 Prozent zu senken. Am 21. Juni legte der Konvent eine formelle Liste mit 149 Vorschlägen vor.

Das Spektrum der vorgeschlagenen Maßnahmen ist äußerst breit und umfasst unter anderem die Themen Verkehr, Wohnungswesen, Konsum, Produktion, Arbeit und den Lebensmittelsektor. Konkretere Beispiele reichen von Investitionen in das Schienennetz über die Einführung einer Luftverkehrsabgabe bis zur Einbeziehung der Ziele des Pariser Klimaschutzübereinkommens in das Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der EU (CETA).

Einige Vorschläge und die verwendete Sprache erinnern bisweilen an die nachhaltigen Entwicklungskonzepte internationaler Institutionen, die sich bereits vor der Covid-19-Krise als unzureichend erwiesen hatten. Zudem findet sich unter 149 Vorschlägen nichts wirklich Neues und Innovatives. Vergleichsweise neu ist da schon, dass die Vorschläge von einer Bürgerversammlung stammen und auf soziale Proteste zurückgehen. 

Insgesamt zeugen sie von einer recht guten politischen Orientierung, die – sofern umgesetzt – nicht nur Frankreichs Verhältnis zum Klimawandel, sondern auch zum Kapitalismus radikal verändern würde. Wie realistisch ist eine Umsetzung? Zweifelsohne hängt die potenzielle Umsetzung wie ein  Damoklesschwert über den Vorschlägen des Bürgerkonvents. Insbesondere angesichts der „Grünen Welle“, die Frankreich scheinbar bei den jüngsten Kommunalwahlen völlig umgekrempelt hat, meine ich, dass Macrons Partei La République en Marche!, die im Parlament die Mehrheit behält, einige der Vorschläge umsetzen wird. Gleichwohl sollten wir – auch angesichts einer jüngsten Kabinettsumbildung, in deren Rahmen Macron seine Absicht bekannt gab, sich 2022 zur Wiederwahl zu stellen und auch Wähler*innen der Rechten 
anzusprechen – nicht erwarten, dass Veränderungen, die die dominante Rolle von Markt und Großkapital in der französischen Gesellschaft von Grund auf umwälzen, umgesetzt werden. 

Demgemäß sind dem Erfolg notgedrungen Grenzen gesetzt. Doch dies entspricht dem Status quo, der nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Teilen der Welt gegeben ist. Wenn sich nicht neoliberale politische Projekte wie von Macron durchsetzen, dann siegen irgendwann fortschrittsfeindliche 
Politiken wie von Trump, Bolsonaro oder Duterte. In diesem globalen Kontext des Rückzugs und der Verteidigung sollten meines Erachtens sowohl der Bürgerkonvent als auch dessen Empfehlungen zu begrüßen sein. Schließlich spiegeln sich hierin altbekannte Forderungen verschiedener linker Bewegungen wider. Dass es diese ohne die Gelbwestenproteste niemals ins Rampenlicht geschafft hätten, liegt auf der Hand.

Haben die Gelbwesten die jüngsten Kommunalwahlen  in irgendeiner Weise beeinflusst?

Das ist schwer zu sagen, weil die Wahlen einerseits noch nicht lange zurückliegen und, wie ich bereits gesagt habe, die Gelbwesten derart amorph und heterogen sind. Ich hatte bereits die Wahl des Stadtrats in Bordeaux erwähnt. Bei den letzten Kommunalwahlen von 2020 traten über 400 Bürgerlisten an. 66 von ihnen errangen Sitze und standen in verschiedener 
Weise implizit oder explizit unter dem Einfluss der zuvor erfolgten Bürgerproteste. Diese Bürgerlisten nutzten unterschiedliche demokratische Neuerungen, wählten Kandidat*innen nach dem Zufallsprinzip oder über lokale Versammlungen aus oder schickten bisweilen Listen ohne spezifische Kandidaten ins Rennen. Die 66 erfolgreichen Listen traten in einigen kleineren Städten alleine an, doch insbesondere in größeren und sogar mittleren Städten wie Chambéry und Poitiers schlossen sie sich zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang zumeist mit traditionellen Parteien zusammen. Soziologische Analysen zeigen gleichwohl, dass die meisten Menschen, die sich als Gelbwesten bezeichnen, die Wahlen von 2017 und 2019 boykottierten. Ebenfalls bekannt ist, dass die Mehrheit des französischen Volkes bei den jüngsten Kommunalwahlen zum ersten Mal überhaupt den Urnen fernblieb. Korrelation und Kausalität bereits so früh nach den Wahlen voneinander zu trennen, ist schwierig. Man kann es drehen und wenden wie man will, aber für mich hängen 
diese beiden Aspekte eindeutig miteinander zusammen. Ebenso wissen wir, dass unter den Wähler*innen der Gelbwesten eine knappe Mehrheit generell linke Kandidat*innen bevorzugte, wie 2017 durch Jean-Luc Mélenchon verkörpert. Doch fast genauso viele stimmten für die rechtsextreme Kandidatin Le Pen und ihre Partei Rassemblement National. 

Bei den Kommunalwahlen bildete Mélenchons Partei France insoumise in der Regel Koalitionen oder lehnte die Teilnahme an den Wahlen ab. Auch wenn ihr Einfluss demgemäß recht begrenzt war, zählte sie zu den verschiedenen Parteien der beeindruckenden Wahlunion Printemps Marseillais, die in Frankreichs zweitgrößter Stadt nach rund 20-jähriger konservativer 
Regierung die Macht übernahm. Indes konzentrierte sich Le Pens Partei Rassemblement National darauf, die Mehrheiten ihrer amtierenden Bürgermeister*innen zu festigen und gewann in der südfranzösischen Stadt Perpignan das Bürgermeisteramt. Trotz ihres Erfolgs und der Tatsache, dass sie erst zum zweiten Mal in einer Stadt mit mehr als 100.000 Einwohner*innen den Bürgermeister stellt, sorgte ihre recht engstirnige Strategie dafür, dass sie es nicht weiter ins nationale Rampenlicht schaffte. 

Wie haben linke Kräfte bei den Kommunalwahlen abgeschnitten?

Abgesehen von den bereits genannten Bürgerlisten erlangten breite Linkskoalitionen unter Führung der Grünen oder sozialistischer Kandidat*innen bedeutende Wahlsiege. Inwieweit und ob die Grünen die Absicht hegen, das politische System umzugestalten, bleibt abzuwarten und darf möglicherweise bezweifelt werden. Sicher ist jedoch, dass ihnen ihre Position als relative Außenseiter im politischen System Frankreichs geholfen hat, sich zumindest gegen einige der vielen Gelbwesten-Sympathisanten durchzusetzen, die sich wie 
üblich politikverdrossen zeigten. Dennoch würde ich weiterhin behaupten, dass der Aufstand der Gelbwesten bei diesen Wahlen im Wesentlichen zu einem steigenden Anteil von Nichtwähler*innen geführt hat. Damit meine ich jene Französinnen und Franzosen, die sich vom politischen Wahlprozess komplett 
übergangen fühlen.

Ich halte Wahlen gewiss für wichtig und würde Menschen immer dazu anhalten, sich am Wahlprozess zu beteiligen. Doch zu guter Letzt möchte ich auf den ursprünglichen Geist des Nationalfeiertags verweisen und deutlich machen, dass die Wahlurnen möglicherweise nicht das sind, wo sich der größte Protest der Gelbwesten entladen soll. Ich betrachte Letztere – und im weiteren Sinne die Proteste der Bürger*innen, die Bürgerkonvente und Bewegungen und 
Aufstände in jüngerer Zeit – als Verurteilung des Systems in seiner heutigen Form. Sie befinden sich jenseits des Systems, das ihre Anliegen schon zu lange ignoriert und ihre vielen Rufe nach Veränderung unterdrückt, herunterspielt, verzerrt und schlussendlich für die eigenen Zwecke der regierenden 
Klasse missbraucht. Vor diesem Hintergrund insistieren sie weiterhin auf ihre Daseinsberechtigung, ihre kollektive Identität in all ihren Facetten und die Legitimität ihrer Forderungen.

Abschließend würde ich sagen, dass sich in den letzten Jahren in Frankreich ganz unzweifelhaft eine neue Protestbewegung herauskristallisiert hat, in deren Rahmen die Nuit debout, die Gelbwesten, die Beschäftigten in Krankenhäusern 
und im Gesundheitssektor, Rentner*innen und Gewerkschafter*innen, junge Menschen und Aktivist*innen für Klimagerechtigkeit und die Black Lives Matter-Bewegung zusammenkommen. Diese Bewegung findet bei Macron und dem 
gesamten politischen Establishment in einem Ausmaß Beachtung, was eher traditionellen politischen Bewegungen der Linken in den letzten Jahrzehnten nur schwerlich gelang. Das ist zwar noch kein Sieg an sich, ebnet aber den Weg, um den Kampf um Gerechtigkeit und Gleichheit auf einer anderen Ebene fortzuführen. Gewiss: Die Bastille wird zwar nicht erneut belagert. Aber 
mehr denn je in der jüngeren Geschichte hat das gemeine französische Volk die Bastionen der Macht fest im Visier.

Ethan Earle ist Projektkoordinator von „Eine Zeit in der Hölle“ und politischer Berater in Paris. Das Interview wurde geführt von Axel Ruppert, Projektmanager im Büro Brüssel der Rosa-Luxemburg-Stiftung.