Interview mit Éric Piolle

26.06.2020

Ethan Earle (EE): Was können Sie uns über die Lockerung der Ausgangsbeschränkungen in Grenoble sagen? Wie stellt sich die Situation mit dem Virus dar und wie kommen die Grenobler*innen damit zurecht?

Éric Piolle (EP): Der Zeitraum der Ausgangsbeschränkungen wurde hier sehr gut angenommen. Wir hatten das Glück, uns in einer Gegend zu befinden, wo das Virus zum Zeitpunkt der Ausgangsbeschränkungen recht wenig verbreitet war und wir hatten die gemeinsame Disziplin, die Regeln zu akzeptieren und unsere Gesundheit zu bewahren. Die Pflegekräfte konnten ebenfalls ihre Arbeit machen, die Kapazitäten der Krankenhausbetten erhöhen, das öffentliche Krankenhaus mit den Privatkliniken und der ambulanten Behandlung koordinieren, was einen Fortschritt darstellt, den wir versuchen werden zu erhalten. Und schließlich sind auch wir als öffentliche Behörde sofort in mehreren Bereichen aktiv geworden. 

Zunächst natürlich beim Management der Gesundheitskrise. Wir haben den Krisenstab vor der Ankündigung von Emmanuel Macron gebildet. Dies ermöglichte es uns, bereits ab Dienstag, dem 17. März, Lebensmittelhilfe zu leisten, da die Vereinigungen, die sich normalerweise darum kümmerten, keine Freiwilligen mehr hatten. Bei den Freiwilligen handelte es sich um Rentner, und die saßen durch die Ausgangsbeschränkungen zu Hause. 

Ab dem 17. März starteten wir die Internetplattform mit dem Namen „Voisins, voisines" (Nachbarn, Nachbarinnen), bei der sich sofort mehr als 2.500 Personen meldeten, die bereit waren, Nachhilfeunterricht zu geben, einkaufen zu gehen, kurz, Ihre Zeit für solidarische Aktionen zur Verfügung zu stellen. Die Verteilung der Lebensmittel erfolgte zu einem großen Teil durch diese freiwilligen Personen. 

In 14 Turnhallen verteilten wir Masken unter Einhaltung der Hygienevorschriften. Und auch hier waren es wieder Freiwillige, die zur Unterstützung der Mitarbeiter*innen kamen, um zusätzlich zum Internet ein Callcenter für die Terminvereinbarung einzurichten. Diese Freiwilligen engagieren sich auch heute noch im gesellschaftlichen Leben von Grenoble. Dann haben wir am Freitag, dem 20. März, das Festival „Fête comme chez vous" ins Leben gerufen, dessen Ziel es war, weiterhin Kultur zu erleben und die Verbindung zur Kultur sowohl für die Einwohner*innen als auch für die Kulturakteure lebendig zu halten. Das kulturelle Leben ist hart getroffen worden, und zwar für lange Zeit.

EE: Können Sie etwas zur Bewältigung der Gesundheitskrise durch die Regierung und Emmanuel Macron in Bezug auf Krankenhäuser, Schulen, die Wirtschaft sowie über ihre Vision für unsere gemeinsame Zukunft sagen? Und wie stellen Sie sich vor, dass Frankreich aus dieser Krise lernt und sie nutzt, um die Lebensbedingungen zu verbessern?

EP: Die derzeitige Regierung Frankreichs ist in Bezug auf ihre ideologische Zugehörigkeit und ihr politisches Vorhaben in eine Sackgasse geraten. Das Programm von Macron im Jahr 2017 beinhaltet die Streichung von Geldern für die öffentlichen Krankenhäuser und die Reduzierung der Betten. Bei Ausbruch des Coronavirus gab es eine zweimonatige Verzögerung, bis Maßnahmen ergriffen wurden. Bis zum 11. März hieß es stets „das Virus wird an den Grenzen Halt machen", wie die Tschernobyl-Wolke. In diesen zwei Monaten sah es eher so aus, als wolle die Regierung die Rentenreform unter Anwendung des Artikels 49.3 der Verfassung durchsetzen, zu einer Zeit, wo wir uns bereits mitten in der Pandemie befanden. 

Die Entscheidung über die Ausgangsbeschränkungen war die einzig richtige Entscheidung, sie ist gut und ich unterstütze sie. Aber sie kam zu spät. Beim Krisenmanagement sind die ersten Entscheidungen, die Sie treffen, wegweisend. Und auch die fehlende Führung der Industrie im Hinblick auf Masken, Beatmungsgeräte... Was die Beatmungsgeräte betrifft, so haben mir meine Freunde aus der Industrie bereits im Januar berichtet, dass das, was sie produzierten, nach Deutschland geliefert wurde, denn Deutschland war bereits dabei, sich zu organisieren. 

Ich bedauere, dass es keine europäische Solidarität gibt, was tragisch ist. Italien befand sich in einer furchtbaren Situation, und Frankreich sagte dazu nur: „Wir schicken keine Ärzte, wir schicken keine Masken, wir schicken keine Beatmungsgeräte, wir schicken keine Feldlazarette". Nein, jeder überlässt die anderen sich selbst, jeder beißt die Zähne zusammen in der Hoffnung, dass man selbst nicht betroffen ist. 

Und schließlich war das schlimmste Zeichen von Macron seine Aussage, dass er sich im Krieg glaubte – eine Ansicht, die ich nicht teile; es ist ein Virus, aber kein Krieg. Und er schickte seine Generaloberin [seine Gesundheitsministerin] Agnès Buzyn als Provinzpräfektin [sie ist die Kandidatin von Macrons Partei „La République En Marche!“ (LREM) für das Amt des Bürgermeisters in Paris]. Ihr Nachfolger, Olivier Véran, hat getan, was er konnte, aber er kam in gewisser Hinsicht zu spät, da [Premierminister] Edouard Philippe und Macron die Sache bereits in den Sand gesetzt hatten. Wie geht es nun mit den wichtigen Themen in der Zukunft weiter?

Die größte Herausforderung ist ganz klar die Bildung. Die gesundheitlichen Maßnahmen, die in diesem Bereich zu Beginn getroffen wurden, müssen aufgehoben werden. Wir können unsere Abende nicht damit verbringen, ein Bier auf der Terrasse zu trinken, im Supermarkt Schlange zu stehen und uns zu sagen, dass unsere Kinder – die vielleicht gar nicht die großen Überträger des Virus sind – nicht zur Schule gehen dürfen. Denn hier geht es um eine Katastrophe für eine ganze Generation, eine Bildungskatastrophe von großem Ausmaß, es ist also notwendig, dass die Kinder wieder zur Schule gehen. Ich war in der Videokonferenz mit dem Präsidenten Macron, als dieser ankündigte, dass Schule optional sein sollte und wir sind wirklich von unseren Stühlen gefallen, als wir ihn das sagen hörten. Dies ist also der erste Punkt.

Des Weiteren ist eine wesentliche finanzielle Unterstützung für die Kulturwelt fundamental. Wir wissen, dass das kulturelle Leben mehrere Jahre lang getroffen sein wird. Wir, in Grenoble, werden dies unterstützen, denn mit Kreativität, Künstler*innen, kultureller Praxis, Engagement und Neugier wird es uns gelingen, die Welt von morgen zu formen. 

EE: Der zweite Wahlgang der Kommunalwahlen findet am 28. Juni statt, und Sie sind mit mehr als 45% der Stimmen im ersten Wahlgang sehr gut aufgestellt. Was sind Ihre wichtigsten Projekte für die nächste Amtszeit, und wie werden diese durch die Pandemie beeinflusst sein?

EP: Wir hatten unser Programm mit Unterstützung Tausender Hände durchgeführt, also haben wir erneut unsere Projektplattform geöffnet, um Ideen entgegen zu nehmen, und dann haben wir auch unseren Redaktionsausschuss eingesetzt, um intensiv daran zu arbeiten. Letztendlich ist das grundsätzliche Konzept, nämlich weniger Werbung, mehr Natur in der Stadt, Stärkung der sanften Mobilität, Fußgängerzonen, für die Zukunft immer noch sehr relevant. All die Arbeit, die im Bereich Umwelt und Gesundheit – ein großes Thema bei uns: Mobilität, Gesundheit, Ernährung – geleistet werden muss, ist wichtig, weil sie alle betrifft. Situationen wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Prekarität sind während des Lockdowns sichtbar geworden. Jeder ist davon betroffen. Das schweißt uns zusammen.

Was hat uns gefehlt? Uns fehlte die Natur, uns fehlten Begegnungen in dieser Krise der Isolation, uns fehlte auch der Sinn für Nähe, was sich durch die Entwicklungen rund um lokale Lebensmittel gezeigt hat. Es gibt folglich Wege, um die Veränderungen zu begleiten und unsere Fähigkeit zu stärken, das Gemeingut zu einem Stützpunkt unserer Gesellschaft zu machen, die jedem/jeder Einzelnen ein Gefühl von Sicherheit gibt und ihm/ihr ermöglicht, seinem/ihrem Leben einen Sinn zu geben. Sie sehen also, wir sind immer noch voller Enthusiasmus und Entschlossenheit. 

Es ist wahr, dass die Wähler*innen unser Programm mit fast 47% stark unterstützt haben und dass die Wahlbeteiligung in Grenoble nur halb so stark zurück gegangen ist, wie anderswo in Frankreich: der Rückgang liegt bei 18 Punkten in Frankreich im Vergleich zu 10 Punkten in Grenoble. Wir spüren also, dass es eine Mobilisierung gibt und wir hoffen, dass sich diese Mobilisierung fortsetzt, um ein Programm durchzusetzen, in dem jeder seinen Platz hat. 

EE: Ihre Koalition, Grenoble en Commun (Gemeinsames Grenoble), vereinigt 13 Parteien, darunter die EE-LV, LFI, PCF und Génération.s. Wird der Traum einer neuen Koalition der französischen Linken in Ihrer Stadt nun wahr? Wie sind Sie dorthin gekommen? Glauben Sie, dass aus dieser Erfahrung Lehren für die französische Linke gezogen werden können?

EP: In der Tat war es unsere Absicht, einen humanistischen Bogen zu spannen und ja, fast alle sind vertreten. Auch die Hälfte der Sozialistischen Partei hat sich uns angeschlossen, trotz der anderen Hälfte, die mit ehemaligen rechten Abgeordneten und LREM-Aktivisten eher ein politisches Sammelsurium gewählt hat. Wir kommen aus einer 6-jährigen Koalition, die noch kleiner war – es gab keine Sozialisten, es gab keine Kommunisten – aber wir konnten bereits da sehen, dass wir beim Aufbau eines gemeinsamen Programms in der Lage waren, uns in seinen Dienst zu stellen und dieses Programm gemeinsam zu tragen. 

Und wir sind eine der wenigen großen Städte – wenn nicht gar die einzige Stadt ¬ die von einer einzigen Gruppenmehrheit geführt wird, was bedeutet, dass die einzelnen Parteien nicht hingehen und nach den Wahlen ihre eigenen Mitglieder zurückfordern. Wir haben 42 der 59 Abgeordneten im Stadtrat und wir haben die gesamte Amtszeit mit diesen 42 Gewählten regiert. Wir haben 2-Tages-Seminare durchgeführt, wir fahren 3 mal im Jahr in Schulungszentren in die Berge, wir haben an unseren Positionen gefeilt und sie gefestigt, Neugier und Engagement gefördert. Und schlussendlich sieht man, dass es genau das ist, was es uns ermöglicht, unsere Vorstellungen in Einklang zu bringen und ein Programm mit Themen auf die Beine zu stellen, die uns am Herzen liegen, uns gleichermaßen für Gleichberechtigung einzusetzen, uns eindeutig links, feministisch und im Kampf gegen Diskriminierung ganz klar nicht produktivistisch zu positionieren. 

EE: Und ist das für Sie die Lehre, die im Grunde aus dieser Erfahrung für die Linke zu ziehen ist?

EP: Ja, denn wenn man diskutiert, findet man Gemeinsamkeiten und man ist stolz auf diese Gemeinsamkeiten.

Es bedeutet, dass wir wirklich als Team zusammen gearbeitet haben und meiner Meinung nach ist es in der kommenden Zeit notwendig, diesen humanistischen Bogen für die künftigen Etappen der politischen Herausforderungen zu spannen, wenn wir ein Programm durchsetzen möchten, das von einer kulturellen Mehrheit in Frankreich getragen wird. Und genau das ist es, was wir brauchen, wenn wir nicht vor einem Duell zwischen Macron und Le Pen stehen wollen, das sowohl in sozialer Hinsicht als auch klimatechnisch schlecht ausgehen könnte. 

EE: Einige behaupten, dass es in diesem globalen Kontext um die Stadt gegen den Staat geht: Auf städtischer Ebene mit vielen linken Experimenten und öffentlicher Politik, während wir staatlich gesehen umgeben seien von einer Mischung aus Neoliberalismus und nationalistischer rechtsextremer Gesinnung. Ist die Stadt derzeit das gemeinsame Haus der Linken ? Wie kann man eine Politik betreiben, die diese positiven kommunalen Erfahrungen zu einer nationalen Strategie vereint?

EP: Es ist richtig, dass die Städte an Gewicht gewinnen, vor allem in den letzten Jahren seit 2015, seit der COP21. Sogar seit dem Scheitern von Kopenhagen 2009 gewinnen sie an Gewicht, weil die Staaten schlussendlich gelähmt sind unter dem Druck der Lobbys, wenn sie nicht gar selbst als Lobby auftreten. In der französischen Regierung sitzen zum Beispiel unter anderen Chefs und Lobbyisten von Danone und Areva. Was interessant in den Städten ist – was in Innsbruck, Amsterdam, in einigen deutschen Städten, in Barcelona passiert – ist, dass wir handlungsfähig sind, dass wir Dinge bewirken können. Und dank dieser Handlungsfähigkeit können Vorstellungen sehr viel einfacher aufeinander abgestimmt und in Einklang gebracht werden, kann sehr viel einfacher eine gemeinsame Mythologie aufgebaut werden als im nationalen politischen Diskurs, der heutzutage kein Diskurs mehr über das Handeln ist, sondern nur noch große Worte gepaart mit einer Art Jupiter-Macht. 

Diese Macht „à la Macron“ ist verheerend, mit jakobinischen Zügen in einer heutigen Gesellschaft, die in der Praxis eine Gesellschaft der Gleichberechtigung, der Netzwerkakteure sein sollte, in der wir gemeinsam agieren, in der wir in der Lage sind, bei einem bestimmten Thema und für eine bestimmte Zeit Koalitionen zu bilden, um dann bei einem anderen Thema eine andere Koalition zu bilden. Wir brauchen Umgebungen, in denen es Gelegenheit für Reibungen und Annäherung gibt, wo auch Unsicherheit willkommen ist, aber es muss auch die Möglichkeit bestehen, gemeinsam hinter starken Werten zu stehen, wenn es um die Wahlen geht. 

Und auch dies ist eine der Lehren aus den Erfahrungen, die wir in Grenoble gemacht haben – und die ich versuche, auch bei den Führer*innen der nationalen Parteien umzusetzen. Wir haben eine kulturelle Mehrheit. Wir müssen einen Weg finden, ihr ein politisches Ventil zu geben, das auch menschliche Bindungen, basierend auf Vertrauen, umfasst, um Zutrauen zu gewinnen und in der Lage zu sein,  uns solidarisch zu zeigen, wenn es hart auf hart kommt. Und dass es zentrifugale Kräfte geben wird, ob sie nun parteiisch sind oder ob sie das Ergebnis der unterschiedlichen Ansichten sind, die heute über Europa, Migranten, Kernenergie oder was auch immer existieren mögen.