Von Waffenexporten besessen
Vorwärts denn! Der Marsch, die Last, die Wüste, der Überdruss und der Zorn.
~Arthur Rimbaud, „Eine Zeit in der Hölle“
Die französische Rüstungsindustrie ist von Waffenexporten wie besessen, da sich Frankreich seine strategische Position als militärischer Global Player erhalten will. Um seine Besessenheit zu befriedigen, ermöglicht Frankreich undemokratischen Ländern im Nahen Osten und anderswo, diplomatisches Schweigen und die politische Komplizenschaft Frankreichs mit ihren Verbrechen zu erkaufen.
Wie allgemein bekannt ist, dient der Nahe Osten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als quasi permanenter Schauplatz für die amerikanische Einmischungspolitik. Dass Frankreich sich seit rund zehn Jahren verstärkt als wichtiger Waffenlieferant in der Region etabliert hat, ist hingegen eine weit weniger verbreitete Tatsache. Dabei erhöhte Frankreich zwischen 2009 und 2018 seine Rüstungsgüterexporte in den Nahen Osten um sagenhafte 261 Prozent. Infolge der sprunghaft angestiegenen Absatzmenge lag das Land als Waffenexporteur gleich hinter Israel in diesem Zeitraum. Auf globaler Ebene rangiert Frankreich heute bei Rüstungsexporten an dritter Stelle, nach den Vereinigten Staaten und Russland. 44 Prozent der französischen Abnehmerstaaten sind im Nahen Osten angesiedelt, mit Ägypten als Frankreichs wichtigstem Kunden.
Was bedeutet diese Trendentwicklung? Die französische Rüstungspolitik, die auf Charles de Gaulle zurückgeht, wird in erster Linie als innerstaatliches Anliegen erachtet. Ein nicht zu vernachlässigender Nebeneffekt dieser Innenpolitik ist jedoch die Stärkung undemokratischer Regime im Nahen Osten.
Die französische „Grandeur“
Wie die Wissenschaftlerin Lucie Béraud-Sudreau darlegte, hatte Charles de Gaulle eine bestimmte Vorstellung von Frankreich: Der ehemalige Präsident wünschte sich ein Land, das unabhängig Entscheidungen treffen kann, auf der internationalen Bühne hohes Ansehen genießt und sich nicht der amerikanischen Vormachtstellung nach dem Zweiten Weltkrieg unterwirft. Charles de Gaulle vertrat dabei die Überzeugung, dass Frankreich einen solchen Status in internationalen Angelegenheiten nur durch eine Respekt einflößende Landesverteidigung erreichen könne. Auf dieser Zielsetzung basierte auch Frankreichs Bestreben, sich als Atommacht zu positionieren.
Der Bedarf der französischen Armee reichte indessen nicht aus, um einen Industriesektor zu stützen, der Frankreich auf die von De Gaulle gewünschte Höhe bringen und dort halten konnte. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit der heimischen Industrie konnte nur durch weltweite Käufer gewährleistet werden. Kurz gefasst erklärt dies, warum Frankreich Rüstungsgüter zu exportieren begann. Auf politischer Ebene besteht für diese Prämisse in Frankreich weiterhin Konsens, und alle Nachfolger von De Gaulle haben ihre politischen Maßnahmen basierend darauf entwickelt und vorangetrieben. Der Verteidigungsminister des französischen Staatspräsidenten Pompidou, Michel Debré, machte beispielsweise deutlich, dass „wenn die [Rüstungsindustrie] auf den Inlandsmarkt angewiesen wäre, eine Landesverteidigung nicht mehr möglich“ sei.
Außerdem wurde das Bestreben wirtschaftlich mit dem Argument gerechtfertigt, dass die Rüstungspolitik Arbeitsplätze für französische Beschäftigte schaffen würde. Béraud-Sudreau verweist auf eine McKinsey-Studie aus dem Jahr 2014, der zufolge die Branche der Rüstungsgüterexporte rund 40.000 Arbeitsplätze in Frankreich stelle. In politischer und ideologischer Hinsicht wurden die Waffenexporte zudem mit dem Argument untermauert, dass der Kauf französischer Waffen den entkolonialisierten Staaten ermögliche, ihre neu gewonnene Unabhängigkeit in einer von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion beherrschten bipolaren Weltordnung zu erhalten. Nach Aussage des Verteidigungsministers von Valéry Giscard d'Estaing würde sich Frankreich nicht in die Politik anderer Nationen einmischen, indem es diesen Ländern durch Waffenverkäufe Bedingungen auferlege. Der Verteidigungsminister von François Mitterand ging noch weiter und erklärte, dass Frankreich dank seiner Waffenexporte eine Führungsposition unter den blockfreien Ländern einnehmen könne.
Die Grenzen des Idealismus
Die realen politischen Verhältnisse in den Staaten, die Waffenkäufe tätigten, war indessen weniger beeindruckend. Im Zeitraum von 1961 bis 1990 gingen 31 Prozent der französischen Waffenverkäufe an Nahoststaaten, die in dieser Zeit generell eine desolate Bilanz bezüglich Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen demokratische Grundsätze boten. In der Zeit des Kalten Krieges waren weite Teile der Region vorwiegend damit befasst, ihr Land abzusichern, anstatt Demokratisierungsprozesse anzustoßen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die USA und die UdSSR die Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke aufspalteten, festigten nichtdemokratische Regime ihre Macht, während sie sich hochtrabend für nationale Unabhängigkeit aussprachen. Die Voraussetzungen dafür lieferten die Supermächte des Kalten Krieges, die diese Länder im Kampf gegen den Kommunismus oder zur Unterstützung der politischen Unabhängigkeit finanziell unterstützten.
Die Ironie der französischen Bestrebungen lässt sich am besten durch die Tatsache veranschaulichen, dass die Nachfrage nach französischen Rüstungsgütern in der Region erst nach dem Sechstagekrieg anstieg, mit dem Israel dank der von Frankreich gelieferten Mirage-Kampfflugzeuge seine militärische Überlegenheit über die arabischen Länder bestätigte. Vor den Kriegshandlungen galt Israel als wichtiger französischer Verbündeter, und das Bündnis basierte gemäß Béraud-Sudreau auf dem gemeinsamen Widerstand gegen den arabischen Nationalismus. Dies zeigt die Grenzen auf, die der selbst auferlegte Idealismus Frankreichs unterliegt.
Heute ist die Existenz dieses Idealismus kaum mehr erkennbar. Sofern sich Entscheidungsträger trotzdem darauf beziehen sollten, kann dies in der Öffentlichkeit nur für Spott und bitteres Gelächter sorgen. Als die Regierung unter François Hollande nach einigen relativ ruhigen Jahren zu Ende des Kalten Krieges die französischen Rüstungsexporte wieder ankurbelte, wurden Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Ägypten zu Frankreichs wichtigsten Kunden im Nahen Osten. All diese Länder waren Bastionen der Gegenrevolution als Folge des Arabischen Frühlings. Ihre panikartigen Reaktionen auf die Aufstände und ihr Beitrag zu deren gewaltsamer Unterdrückung sind eingehend dokumentiert. Dies hinderte Frankreich jedoch in keiner Weise daran, Waffen an diese Länder auszuliefern, darunter die Rafale-Kampfflugzeuge, die den Stolz auf die französische Militärtechnologie symbolisieren, sowie Mistral-Raketen, Gowind-Korvetten, Caracal-Hubschrauber, Fregatten und Militärsatelliten.
Wie bereits im Kalten Krieg machte sich Frankreich das geopolitische Klima zu Beginn dieses Jahrzehnts zunutze. Als Gründe dafür, die Frankreich auch nach gegenwärtigem Stand zu einem vertrauenswürdigeren Partner gemacht haben, nennt Béraud-Sudreau die Spannungen mit den Golfstaaten infolge des US-Beschlusses, die kurzlebige Regierung der Muslimbruderschaft in Ägypten anzuerkennen; Präsident Obamas Ablehnung eines Eingreifens in Syrien, wodurch der Iran freie Bahn hatte, um seinen Einfluss in dem vom Krieg zerrissenen Land geltend zu machen; und das Atomabkommen zwischen Teheran und Washington. Die Einladung an François Hollande zur Teilnahme an der Sitzung des Golfkooperationsrates 2015 ist ein Beleg für das Vertrauen, das die Ölmonarchien Frankreich nunmehr entgegenbringen.
Weltweite diplomatische Folgen
Rund 50 Prozent des Budgets für die französische Verteidigungspolitik stammen heute aus Waffenexporten. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit hat Frankreich jeden echten Einfluss auf die Abnehmerländer verloren. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Frankreichs Kunden im Nahen Osten um Länder mit erheblichen Demokratiedefiziten handelt, erhält dieser Aspekt eine besondere Bedeutung. Selbst wenn dies ein Anliegen wäre, könnte Frankreich diese Staaten nicht zur Achtung der grundlegenden Menschenrechte zwingen. Paris schlug sich beispielsweise im Krieg gegen den Jemen auf die Seite von Saudi-Arabien, als es dem Einsatz französischer Waffen in diesem Konflikt zustimmte.
Die Auswirkungen sind aber auch über den Nahen Osten hinaus spürbar. Im vergangenen Monat wurde am helllichten Tag in den Straßen von Neu-Delhi eine regelrechte Verfolgung von Muslimen beobachtet. Die Gewalt ist ein fester Bestandteil des nationalistischen Programms des Premiers Narendra Modi, mit dem Indien in eine Hindu-Nation und ein Hindu-Regime verwandelt werden soll. Frankreich unterzeichnete 2016 einen Vertrag zum Verkauf von Rafale-Kriegsflugzeugen an Indien in Höhe von acht Milliarden Euro, obgleich die Regierung des indischen Premierministers Modi von Ideologien des Nationalsozialismus inspiriert ist. Dabei könnte man annehmen, dass sich Frankreich als früher von den Nationalsozialisten besetztes Land zumindest lautstark zur Situation religiöser Minderheiten in Indien äußern würde. Der Politikwissenschaftler Christophe Jaffrelot merkte jedoch an, dass Frankreich nach dem Pogrom von Delhi erwartungsgemäß keinen Druck auf Indien ausüben wird, eben weil Indien ein so wichtiger Auftraggeber ist.
Rüstungsgüterexporte sind nicht nur als Transaktionen zwischen Staaten zu erachten, sondern ihre Auswirkungen sollten mit Blick auf die Bevölkerung in diesen Abnehmerländern bewertet werden. Dabei können die Folgen nicht ausschließlich am Waffeneinsatz bemessen werden. Mit dem Verkauf von Rüstungsgütern, die in Kriegen oder zur Eindämmung von Unruhen im Nahen Osten zum Einsatz kommen können, ermöglicht Frankreich undemokratischen Ländern, sich diplomatisches Schweigen und die politische Komplizenschaft Frankreichs zu erkaufen. Und die Bedeutung dieser Ware ist bei Weitem nicht unerheblich, vor allem wenn der Verkäufer als eine der Weltmächte über einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verfügt.
Soweit nicht anderweitig angegeben, stammen alle angegebenen Statistiken von folgender Website: www.sipri.org/sites/default/files/2020-03/fs_2003_at_2019.pdf.