Warum wir über die afrikanische Freihandelszone sprechen sollten

30.03.2021
Andreas Grünewald und Arif Rüzgar

Am 1. Januar 2021 wurde die Welt um eine weitere Freihandelszone reicher. Anfang des Jahres erfolgte der offizielle Startschuss für die African Continental Free Trade Area (AfCFTA), die 55 Mitgliedsstaaten – alle afrikanischen Länder mit Ausnahme Eritreas – umfasst. Die Gründung dieser Freihandelszone wird in Afrika, aber auch in Europa – ja weltweit – überwiegend begrüßt. Damit habe die Afrikanische Union die Chance, zu einem starken, eigenständigen Akteur der Weltwirtschaft zu werden – so die optimistische Prognose. Zwar ist das wirtschaftliche Gewicht der neuen Freihandelszone in Relation zum Weltsozialprodukt bisher überschaubar. Mit einem geschätzten akkumulierten Bruttoinlandsprodukt von ca. 3,4 Billionen US-Dollar kann sie sich nicht mit anderen Freihandelszonen wie dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR, Stand 2018: 19,2 Billionen US-Dollar) oder der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA, 23 Billionen US-Dollar) messen. Zieht man jedoch die Bevölkerungszahl als Gradmesser heran, handelt es sich bei AfCFTA mit 1,2 Milliarden Menschen um eine der größten Freihandelszonen weltweit (EWR524 Millionen Menschen, NAFTA 480 Mio.).

Allein das enorme Potential an Arbeitskräften und Konsument*innen weckt die Hoffnung, mit der Gründung der Freihandelszone den Grundstein für einen nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung der afrikanischen Volkswirtschaften zu legen. Mehrere ökonomische Studien nähren diese Hoffnung. So hat die Wirtschaftskommission für Afrika der Vereinten Nationen errechnet, dass AfCFTA bei einem zügigen Abbau von tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen den innerafrikanischen Handel bis 2022 um 50 bis 100 Prozent steigern könnte. Laut Weltbank könnten durch die Freihandelszone zudem 30 Mio. Menschen aus der extremen Armut befreit und das Realeinkommen von afrikanischen Arbeitnehmer*innen in einem Zeitraum von 15 Jahren um ca. 10 Prozent erhöht werden.[1] Das große Wohlwollen, das der Freihandelszone in Afrika, aber auch in Europa entgegenschlägt, leitet sich jedoch nicht nur aus diesen Zahlen ab. Ebenso wichtig ist, dass AfCFTA als pan-afrikanische Initiative wahrgenommen wird, mit der die afrikanischen Staaten ihr wirtschaftliches Schicksal selbst in die Hand nehmen und einen pan-afrikanischen Entwicklungs- und Integrationsprozess einleiten. Diese Sichtweise teilen viele afrikanische Intellektuelle ebenso wie die EU-Kommission oder die deutsche Bundesregierung, die den Aufbau der Freihandelszone finanziell sowie mit Fachkräften fördern.

Kritische Stimmen zu AfCFTA finden in der Öffentlichkeit bisher wenig Beachtung. Dabei gibt es gute Gründe, die hohen Erwartungen an die afrikanische Freihandelszone in Zweifel zu ziehen. So weisen Ökonomen des Economic Policy Research Centers in Uganda darauf hin, dass die Wachstumspotentiale, die die Etablierung der AfCFTA mit sich bringen sollen, überschätzt werden[2]. Zum einen sind die Zölle zwischen den afrikanischen Staaten bereits jetzt relativ niedrig. Deren weitere Absenkung alleine wird den innerafrikanischen Handel kaum ankurbeln. Zum anderen, und das ist ein noch gewichtigeres Argument, sind die Bedürfnisseder afrikanischen Volkswirtschaften derzeit nicht aufeinander abgestimmt.

Die meisten afrikanischen Staaten weisen eine ähnliche Außenhandelsstruktur auf. Sie exportieren vor allem Rohstoffe, darunter Agrarprodukte, Metallerze und Energieträger wie Erdöl und Erdgas, und Importieren Investitions- oder Konsumgüter. Somit haben afrikanische Staaten ihren potentiellen afrikanischen Handelspartnern nur wenig Produkte anzubieten, die diese auch tatsächlich nachfragen. Handel findet vorwiegend mit Industrieländern im globalen Norden statt, die größtenteils Industriprodukte exportieren. Lediglich 17 Prozent beträgt der Anteil, den der innerafrikanische Handel am gesamten afrikanischen Handelsvolumen einnimmt.

Es ist illusorisch, diesen Anteil im Rahmen von AfCFTA auf 60 Prozent zu erhöhen, wie es der Afrikanischen Union vorschwebt, solange Zollsenkung und der Abbau nichttarifäre Handelshemmnisse die Hauptinstrumente bleiben. Gefragt ist vielmehr eine aktive nationale und panafrikanische Finanz- und Wirtschaftspolitik, die die industrielle Produktion ankurbelt und die afrikanischen Volkswirtschaften diversifiziert. Damit würde die Grundlage für einen nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung mit einer entsprechenden Verteilungsleistung und einen panafrikanischen wirtschaftlichen Integrationsprozess gelegt, und auch der innerafrikanische Handel angekurbelt.

Verfechter der afrikanischen Freihandelszone gehen den umgekehrten Weg: sie vertrauen darauf, dass der Abbau von Handelshemmnissen zu nachhaltigem wirtschaftlichen Aufschwung in Afrika führt. Dieses Vertrauen speist sich aus einer Freihandelsideologie, die die Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten geprägt hat und von den großen Akteuren wie Welthandelsorganisation (WTO), Weltbank und dem Internationalen Weltwährungsfond (IWF) intensiv propagiert und umgesetzt wird. Auch die Europäische Union und im Besonderen Deutschland sind Verfechter dieser Ideologie –solange es ihrem Vorteil gereicht. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass sie AfCFTA finanziell und personell unterstützen. Zugleich haben die europäischen Regierungen sichergestellt, dass ihre eigenen ökonomischen Interessen auch unter dem Dach der afrikanischen Freihandelszone gewahrt bleiben. Die Freihandelsabkommen, die die EU mit regionalen afrikanischen Wirtschaftsblöcken (wie ECOWAS oder SADC) oder Einzelstaaten (wie Tunesien und Südafrika) abgeschlossen hat oder im Begriff ist abzuschließen, behalten im Rahmen von AfCFTA ihre Gültigkeit. Mehr noch: Meistbegünstigungsklauseln, wie sie sich in den EU-Handelsabkommen mit Ghana, der Elfenbeinküste oder Kamerun wiederfinden, garantieren der EU, dass weitere Zollsenkungen, die diese Staaten im Rahmen von AfCFTA vornehmen, automatisch an die EU weitergeben werden.

In seiner jetzigen Ausgestaltung halten sich die positiven Effekte der afrikanischen Freihandelszone für die beteiligten Staaten in engen Grenzen. Auf afrikanischer Seite werden von der Freihandelszone vor allem diversifizierte Volkswirtschaften wie Südafrika oder Nigeria sowie große Unternehmen profitieren, die sich neue Absatz- und Rohstoffmärke erschließen können. Verlieren werden hingegen kleinere ökonomisch schwache Länder, KMUs, aber auch Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sein, die der neuen Konkurrenz wenig entgegenzusetzen haben. Zu bezweifeln ist zudem, dass sich die Arbeits- und Einkommensverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmern signifikant verbessern, da das Arbeitsrecht in den Verhandlungen bisher keine Rolle spielt. Im Gegenteil: Regulierungen zum Schutz von Arbeitsmärkten oder der Umwelt sind im Rahmen von AfCFTA explizit nicht vorgesehen. Somit wird AfCFTA eher zu größerer regionaler Ungleichheit in Afrika führen als zu einem wirtschaftlichen Entwicklungs- und Integrationsprozess, von dem alle afrikanischen Länder profitieren. Zu guter Letzt wird auch das Problem der zerstückelten, ungleichen Einbindung der afrikanischen Volkswirtschaften in den Weltmarkt bestehen bleiben.

Aus linker Perspektive sollten deshalb Stimmen gestärkt werden, die den wirtschaftlichen Integrations- und Entwicklungsprozess in Afrika nicht auf Handelsfragen beschränken, sondern Debatten zu Industrialisierung und wirtschaftlicher Diversifizierung – und damit eine aktive Finanz- und Wirtschaftspolitik – ins Zentrum stellen. Die politische Debatte um die afrikanische Freihandelszone bietet dafür durchaus Möglichkeiten. Denn die Verhandlungen zur Umsetzung der afrikanischen Freihandelszone sind trotz deren Start noch keineswegs abgeschlossen. Wichtige Entscheidungen, beispielsweise zu Ursprungsregeln, stehen noch aus. Hier könnten Diskussionen anschließen, die eine aktive politische Gestaltung des wirtschaftlichen Entwicklungs- und Integrationsprozesses zum Ziel haben. Auch eine Erweiterung des Themenspektrums, z.B. um einheitliche Arbeitsrechte sowie um verbindliche Umweltstandards, ist ein wichtiger Punkt, den linke Akteure und Gewerkschaften fordern sollten. Von daher: lasst uns über die afrikanische Freihandelszone sprechen.

Referenzen

[1] The African Continental Free Trade Area: https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/34139/9781464815591.pdf (29.03.2021).

[2] Trade, revenue, and welfare effects of the AfCFTA on the EAC: https://eprcug.org/publication/trade-revenue-and-welfare-effects-of-the-afcfta-on-the-eac-an-application-of-wits-smart-simulation-model (29.03.2021).


Andreas Grünewald arbeitet bei der Fraktion DIE LINKE im Bundestag im Bereich Entwicklungspolitik

Dr. Arif Rüzgar leitet das Wirtschafts- und Handelsprogramm der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel