Licht und Schatten im spanischen Energiesektor
In Spanien wird ein Großteil der Energiewirtschaft von einer Handvoll großer transnationaler Unternehmen kontrolliert. Unterdessen versucht die Bevölkerung in einem nur teilweise liberalisierten Geschäft Fuß zu fassen.
Über den Tod von Rosa wird auch heute noch geschrieben, obwohl er schon mehr als vier Jahre zurückliegt. Die 81-Jährige lebte in Reus (Katalonien) und kam im November 2016 bei einem Wohnungsbrand ums Leben. Das Feuer war durch eine Kerze entzündet worden, die ihr als Lichtquelle gedient hatte. Zwei Monate zuvor war ihr der Strom abgestellt worden, weil sie mit der Zahlung 200 EUR im Rückstand war. In der Sozialpolitik wird das als Energiearmut bezeichnet.
Das Unternehmen, das Rosa den Strom abgestellt hatte, hieß damals Gas Natural Fenosa und ist jetzt Naturgy – eines der großen Unternehmen, die den Energiesektor im spanischen Staat kontrollieren. Eigentlich hätte das Versorgungsunternehmen zunächst die Sozialdienste vor Ort über den Zahlungsrückstand informieren müssen, bevor es den Strom abstellte. Von der Regionalverwaltung wurde es deshalb wegen des Verstoßes gegen die katalanische Gesetzgebung mit einer Geldstrafe von 500.000 EUR belegt. Doch Naturgy ging gegen die Entscheidung in Berufung und bekam Ende des vergangenen Jahres vor dem Obersten Gerichtshof von Katalonien Recht. „Der Fall markiert einen Wendepunkt, denn bis dahin wurde das Gesetz systematisch umgangen“, kommentiert María Campuzano von der Allianz gegen Energiearmut (Alianza contra la Pobreza Energética, APE). Zwar hat es der Fall von Rosa in die Medien geschafft, doch die Tausenden von Menschen, die im spanischen Staat von Energiearmut betroffen sind, erscheinen nur selten in den Schlagzeilen.
In den letzten Jahren ist der Strompreis in Spanien immer weiter angestiegen – konkret von 2008 bis 2018 um 66,8 Prozent. Parallel dazu können immer mehr Menschen ihre Energierechnungen nicht mehr begleichen oder die Temperatur in ihren Wohnungen nicht auf einem ausreichenden Niveau halten. Daten des spanischen Verbands für Umweltwissenschaften (Asociación de Ciencias Ambientales) zufolge sind fast drei Millionen Menschen in Spanien derzeit mit den Zahlungen im Rückstand. Und diese Zahl steigt auf fast sieben Millionen, wenn auch die Wohntemperatur berücksichtigt wird. In einem Bericht von 2018 führt der Verband an, dass Spanien zu den Ländern der Europäischen Union mit den höchsten Energiepreisen für Haushalte zählt. Seit 2008 wurden hier die Preise am stärksten erhöht – ein entscheidendes Jahr, da die Liberalisierung des Sektors im Vorjahr abgeschlossen wurde.
„Für die Energiearmut ist in erster Linie das derzeitige Modell verantwortlich. Die Kontrolle wurde in die Hände großer Privatunternehmen gelegt, die mit einem Gut Geschäfte machen, das die Menschen zum Leben benötigen. Um die Energiearmut zu beseitigen, muss dieses Modell verändert werden“, erklärt Campuzano am Telefon. Das Energiegeschäft in Spanien unterteilt sich in vier Bereiche: Erzeugung und Vermarktung, die liberalisiert sind und an denen sich somit viele Unternehmen beteiligen, und Transport und Verteilung, die weiterhin reguliert sind und deren Kontrolle sich in wenigen Händen konzentriert. In diesen Bereichen ist die Beteiligung weiterer Unternehmen ausgeschlossen.
Die Verteilung übernehmen die großen Unternehmen, die den Sektor kontrollieren – eine Situation, die einem Oligopol gleichkommt. Und der Transport liegt in einer Art natürlichem Monopol bei Red Eléctrica de España, einem börsennotierten Privatunternehmen, das zu 20 Prozent vom Staat kontrolliert wird. Die staatliche Beteiligung, die über die Staatsgesellschaft für Industriebeteiligungen (Sociedad Estatal de Participaciones Industriales, SEPI) erfolgt, wird lediglich in der Gebührenaufstellung erkennbar. Derzeit wird Red Eléctrica de España von Beatriz Corredor geleitet, die von 2008 bis 2010 Ministerin für Wohnungsbau war, und zu ihren Vorgängern zählen der ehemalige Minister Jordi Sevilla und der ehemalige PP-Abgeordnete José Folgado, der in seiner Laufbahn ebenfalls einige Ministerien durchlaufen hat. So überrascht es kaum, wenn sich die amtierende Regierung den Vorwurf gefallen lassen muss, sie betreibe mit Red Eléctrica „eine Vermittlungsagentur für treue Gefolgsleute“. „Der Elektrizitätssektor ist eine der stärksten Wirtschaftsmächte im spanischen Staat und ziemlich undurchsichtig. Das hat mit dem sogenannten Drehtür-Effekt zu tun, der zu dieser großen Macht beiträgt“, verrät María Campuzano.
Die neuen Energiehändler
„Aus wirtschaftlicher Sicht liegt das größte Geschäftspotenzial nicht im liberalisierten Teil. Die Netzbetreiber streichen das Geld ein, das wir letztlich alle bezahlen, um auf das Netz zugreifen zu können. Das ist ein oligopolistischer, komplexer und undurchsichtiger Sektor“, fasst Erika Martínez zusammen. Sie ist die Vorsitzende von Goiener, einer Erzeugungs- und Verbrauchsgenossenschaft für erneuerbare Energie, die hauptsächlich im Bereich der Vermarktung tätig ist und „die Energiesouveränität zurückgewinnen will“, wie es auf der Webseite heißt. Martínez berichtet, dass die Genossenschaft viel Bildungsarbeit leiste, um „zu zeigen, dass es sehr wohl Alternativen gibt“. Deshalb versucht sie, der Bevölkerung den Sektor näherzubringen. „Was den Diskurs angeht, haben wir bei den großen Unternehmen schon einiges bewegt. Jetzt sind sie alle überaus grün, feministisch und partizipativ… Wir Genossenschaften arbeiten zwar auf lokaler Ebene, doch unser Ziel ist, ein Gegengewicht zu stellen“, fährt die Vorsitzende der Goiener-Genossenschaft fort, die im Baskenland und Navarra operiert.
Der Verband Unión Renovables setzt sich aus etwa 20 Genossenschaften von Abnehmer*innen und Verbraucher*innen erneuerbarer Energien aus dem kommunalen und regionalen Bereich im gesamten spanischen Staat zusammen, die sich unter anderem dafür einsetzen, dass die Bürger*innen ihre ausschließliche Rolle als Verbrauchende ablegen und eine partizipativere Position einnehmen. Zudem schlagen diese Organisationen ein transparentes und ethisches Erzeugungs- und Vermarktungsmodell vor, das mit der Entwicklung des Gebiets vor Ort in Einklang steht. „Technisch gesehen funktionieren wir wie andere auch, aber bei uns werden die Ziele von den Teilhaber*innen definiert und wir sind gemeinnützig. Deshalb liegt uns nichts an maximalen Gewinnen und Intransparenz. Auch wenn wir vom Verbrauch der Menschen leben, fordern wir sie dazu auf, weniger zu verbrauchen. Wir funktionieren einfach anders“, erklärt Martínez weiter.
Viele der Genossenschaften sind ab 2007 entstanden, einige jedoch blicken bereits auf eine fast 100-jährige Geschichte zurück, insbesondere in der Valencianischen Gemeinschaft. Sie haben dem Druck des Energiesystems standgehalten. Pepita Company spricht voller Leidenschaft über ihre Genossenschaft und berichtet von den Hindernissen, die ihr in dem knappen Jahrhundert ihres Bestehens immer wieder begegnet sind. „Seit ich dabei bin, wurde schon zweimal versucht, die Genossenschaften aus dem Weg zu räumen. Aber jetzt sind wir stark“, erklärt die Sekretärin von Alginet. Die Genossenschaft erzeugt nicht nur Strom mit einem Solarkraftwerk und vermarktet ihn, sondern verteilt ihn auch in der eigenen Gemeinde. Damit stellt sie eine Ausnahme im spanischen Staat dar. „Wir sind die zweitgrößte Genossenschaft in Valencia und in Spanien die einzige überhaupt, die über ein eigenes Umspannwerk verfügt und deshalb nicht auf Iberdrola angewiesen ist“, berichtet Company stolz.
Nicht alle Energievermarkter, die in den letzten Jahren hinzugekommen sind, sind Genossenschaften. Es gibt auch zahlreiche private und einige kommunale Initiativen, wie beispielsweise Barcelona Energía und Eléctrica de Cádiz. „Dass es nun öffentliche oder genossenschaftliche Vermarktungsstrukturen gibt, ist ein erster und sehr interessanter Schritt in diesem Kampf, das Modell zu verändern, aber er reicht nicht aus, da die Vermarktung nur einen sehr kleinen Teil des Sektors darstellt. Das Problem liegt bei der Verteilung, und dieser Weg liegt noch vor uns: Es geht darum, die Kontrolle über die Verteilung zurückzugewinnen. Hier hat das Oligopol viel Macht, es ist fast schon ein Monopol“, betont Campuzano.
Die Karte der Elektrizitätsverteilung
Wenn wir uns die Verteilung noch einmal genauer anschauen, ist sie auf der Landkarte territorial von fünf großen transnationalen Konzernen besetzt, die ein „natürliches Monopol nach Zonen“ bilden, erklärt Álvaro Campos, der an der Universidad del País Vasco (UPV/EHU) lehrt und forscht: Das sind Endesa (jetzt zugehörig zum italienischen Energiekonzern Enel, aber ursprünglich bis zu seiner Privatisierung unter der Regierung von José María Aznar ein Staatsunternehmen), Iberdrola, Naturgy, EDP und Viesgo. Diese fünf geben den Ton an, sie sind die Auserwählten. Diese Unternehmen sind auch in den Erzeugungsmärkten präsent, wo sie von Kern- über Wasser- bis hin zu Windkraft unterschiedliche Erzeugungstechnologien einsetzen.
Bis zum vergangenen Januar konnten die fünf Großen ihre Interessen unter dem Dach einer Art Unternehmensverband bündeln: dem Verband der Spanischen Stromversorger aelec (Asociación de Empresas de Energía Eléctrica, bis 2018 Unesa). Auf unsere Anfrage nach einer Stellungnahme für diese Reportage erhielten wir eine schriftliche Absage. Anfang des Jahres kehrte Naturgy dem Verband den Rücken, weil aelec eine Gesetzesvorlage für die Schaffung eines Fonds befürwortete, mit dem die Kosten für erneuerbare Energien über einen Aufpreis auf den Verbrauch von Gas und Kraftstoffen aufgebracht werden sollten.
Das Ausmaß des Zusammenschlusses von Macht in aelec lässt sich besser verstehen, wenn wir uns die Vergangenheit des Verbands näher anschauen: Unesa wurde 1944 auf Anregung von José María de Oriol Urquijo gegründet, der 40 Jahre lang dem spanischen Energieversorgungsunternehmen Hidroeléctrica Española (später Iberdrola) vorstand und auch die Präsidentschaft des Unternehmensverbandes übernahm. Seit der Gründung hatte Unesa die Aufgabe, die Elektrizitätsindustrie im Land zu koordinieren. Bei einem Treffen von Diktator Francisco Franco und Urquijo wurde festgelegt, dass es „Aufgabe der Unternehmen sein sollte, das Problem der Restriktionen zu lösen und das wachsende Angebot im Einklang mit den Industrialisierungsplänen der Regierung zu halten. Im Gegenzug sollte die staatliche Einmischung in elektrizitätswirtschaftliche Belange marginal bleiben, sodass sich die Unternehmen selbst regulieren konnten“, berichtete Javier Pueyo beim IX. Internationalen Kongress des Spanischen Verbands für Wirtschaftsgeschichte (IX Congreso Internacional de la Asociación Española de Historia Económica).
Im Übrigen führen die Netzbetreiber das Ranking der Unternehmen an, die in Spanien für die höchsten Kohlendioxidemissionen verantwortlich sind. Das geht aus Daten der spanischen Beobachtungsstelle für Nachhaltigkeit (Observatorio de la Sostenibilidad) von 2018 hervor. Mit großem Vorsprung steht dabei Endesa ganz oben auf der Liste, gefolgt von Repsol, das erst vor Kurzem in den Elektrizitätsmarkt eingetreten ist, Naturgy und EDP; Viesgo belegt den siebten und Iberdrola den achten Platz. Doch ist dies nicht die einzige Liste, auf der diese Namen ins Auge fallen. Endesa, Naturgy, Iberdrola und Repsol sind zudem im Aktienindex IBEX 35 die Unternehmen mit der höchsten Kapitalisierung (der transnationale EDP-Konzern ist nicht an der spanischen Börse notiert). Übrigens lehnte auch Endesa eine Stellungnahme für diese Reportage ab und verwies dabei auf aelec, während Iberdrola auf unsere Anfrage gar nicht geantwortet hat.
Doch kommen wir noch einmal auf das Geschäft mit der Verteilung zurück. Für Álvaro Campos besteht eine der wichtigsten Alternativen darin, die Netze wieder zu kommunalisieren: „Das würde viel Flexibilität zur Gestaltung einer lokalen Energiepolitik ermöglichen, ohne sich mit Privatunternehmen herumärgern zu müssen.“ Das Problem ist, dass die großen Unternehmen seit der Liberalisierung des spanischen Energiesektors zwischen 1997 und 2007 im Besitz der Niederspannungsleitungen sind, mit denen der Strom zu den Verbraucher*innen gelangt. In diesem Zusammenhang betont der Professor der UPV/EHU, wie wichtig öffentliche Debatten und Bildungsarbeit sind, damit es den Bürger*innen möglich wird, Veränderungen einzufordern.
Die nebulöse Abrechnung
Im vergangenen Januar explodierte der Strompreis aufgrund des Sturmtiefs Filomena – so lautete die offizielle Erklärung. Und schoss dann im April wieder in die Höhe, diesmal allerdings ohne klimatische Ausrede. Mit seinen exorbitanten Strompreisen, die wie ein schwer zu durchschauender Nebel sind, schafft es der Elektrizitätssektor in Spanien immer wieder in die Schlagzeilen.
Mit der Rechnung wird nämlich so etwas wie eine Versteigerung bezahlt: Man zahlt zum einen für die pro Haushalt vertraglich vereinbarte Leistung und zum anderen für den effektiven Verbrauch pro Monat. Dazu kommen die Steuern (die Mehrwertsteuer von 21 Prozent, obwohl es sich bei der Energie um ein lebenswichtiges Gut handelt) und die als Peajes bezeichneten Abgaben, die stets für die Verbraucher*innen anfallen. Diese Peajes beziehen sich auf den regulierten Teil des Sektors, also den Stromtransport und die Verteilung, und machen einen hohen Anteil der Rechnung aus. Jährlich belaufen sie sich auf 6,5 Milliarden EUR, wie aus einer Reportage hervorgeht, die in der Zeitschrift Energías Renovables unter dem Titel „Bajar el precio de la luz es muy fácil“ („Den Strompreis zu senken ist ganz einfach“) veröffentlicht wurde. Davon gehen 1,7 Milliarden EUR an Red Eléctrica (das für den Transport verantwortlich ist, also für die Hochspannungsleitungen) und die verbleibenden 4,8 Milliarden an die fünf großen Netzbetreiber. Die wohlgemerkt mit einem Verteilungssystem arbeiten, das sich, wie der Professor für Thermodynamik Valeriano Ruiz in derselben Zeitschrift erklärt, „im Eigentum des Staates befinden müsste, weil wir es alle gemeinsam bezahlt haben“.
Der Preis für den tatsächlichen Stromverbrauch ist variabel. Seit 1997 wird er täglich über ein System namens Pool Energético festgelegt. Dieser Pool funktioniert tatsächlich wie eine Art Auffangbecken, in das die verschiedenen Stromerzeugungstechnologien einfließen – jede mit ihrem Preis und beginnend mit der kostengünstigsten –, bis der aktuelle Energiebedarf gedeckt ist. In der Regel ergibt sich dabei diese Reihenfolge: Kernenergie, Erneuerbare, Gas, Erdöl und Kohle. Den abschließenden Preis bestimmt die letzte Energieform, die einbezogen wird, also die teuerste, die dann den Wert für alle anderen festschreibt. Für alle Technologien wird also letztlich derselbe Preis angesetzt, egal was die Erzeugung gekostet hat.
Eine besondere Rolle kommt hier der Wasserkraft zu, da die Entscheidung, wann damit Strom erzeugt wird, unabhängig getroffen werden kann – oder anders ausgedrückt, wann die Preise in die Höhe getrieben werden können, wie es verschiedene Quellen bestätigen. Wasserkraft gelangt noch vor Gas in den Pool, und der Gaspreis wird sowohl von den Gasmärkten als auch von den CO2-Märkten beeinflusst. In Kenntnis dieser Tarife heben die Stausee-Betreiber (auch das sind große, durch öffentliche Konzessionen begünstigte Unternehmen) wiederum ihre Preise an und es kommt automatisch zu einem Domino-Effekt, wie auch die spanische Verbraucherorganisation OCU anprangert. Diesen Sachverhalt erläutert die Genossenschaft Goiener ihren Teilhaber*innen in einem von ihr veröffentlichten Text.
Neue Horizonte
Die von der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei PSOE und Unidas Podemos unterzeichneten Regierungsvereinbarungen beinhalten unter anderem den Vorschlag, Rechtsvorschriften für die Reformierung des Elektrizitätsmarkts aufzustellen. Außerdem soll die schrittweise Reduzierung der Kosten für erneuerbare Energien auf den Strompreis übertragen werden. Weiterhin sind gesetzliche Änderungen angedacht, um der Übervergütung für bestimmte Technologien ein Ende zu setzen und die Stromrechnung zu modifizieren, um Anreize für mehr Energieeffizienz zu schaffen. Aktuell sieht der neue Abrechnungsmodus, der im Juni in Kraft treten soll, eine Preisfestlegung nach Uhrzeiten bzw. Abschnitten vor (Zeiten mit hohem, mittlerem und niedrigem Verbrauch). Die Peajes sollen so geändert werden, dass es weniger kosten wird, zu einer bestimmten Uhrzeit die Waschmaschine oder den Herd anzustellen – allerdings nur für jene Kund*innen, die regulierte Preise mit ihrem Stromanbieter vereinbart haben.
Während noch abzuwarten bleibt, ob die beschlossenen Änderungen wirklich umgesetzt werden und welche Wirkung der neue Abrechnungsmodus tatsächlich zeigt, waren in den letzten Jahren durchaus schon einige Veränderungen in der Branche zu beobachten. Nicht nur sind neue Vermarktungsunternehmen dazugekommen, sondern seit 2019 ist es auch zulässig, überschüssige Energie aus dem Eigenverbrauch ins Netz einzuspeisen und dafür bezahlt zu werden. Zudem kommen auf europäischer Ebene zwei neue Rechtsformen des gemeinschaftlichen Eigentums und der demokratischen Governance ins Spiel, die „Bürgerenergiegemeinschaft“ (die noch nicht näher definiert ist, aber bis 30. Juni dieses Jahres in die staatliche Gesetzgebung aufgenommen werden muss) und die „Erneuerbare-Energie-Gemeinschaft“ (in die Unternehmen eintreten können). Weder die eine noch die andere dürfte finanzielle Vorteile generieren – vielmehr sind positive Auswirkungen für die Umwelt und auf gesellschaftlicher Ebene zu erwarten. „In der Bevölkerung hat sich eine sehr starke Bewegung formiert, die immer größer wird und nur auf die Gelegenheit wartet, die Energiewende voranzubringen. Angesichts der mangelhaften Umsetzung der europäischen Richtlinien sind die Initiativen, die es dazu gibt, der Gesetzgebung voraus“, heißt es in einem Dokument der Nichtregierungsorganisation Amigos de la Tierra unter dem Titel „Estado actual de la energía comunitaria en el Estado español y recomendaciones para fortalecerla“ („Der aktuelle Zustand der Gemeinschaftsenergie im spanischen Staat und Empfehlungen zu ihrer Stärkung“).
Während sich das Feld noch neu sortiert, haben die großen Unternehmen das neue Terrain jedenfalls schon beschritten. „Repsol democratiza el autoconsumo: lanza 30 comunidades energéticas“ („Repsol demokratisiert den Eigenverbrauch und ruft 30 Energiegemeinschaften ins Leben“), lautet zum Beispiel die Überschrift einer Notiz in El Economista. „Es lässt sich schwer abschätzen, ob sich die Dinge damit ändern werden“, überlegt Erika Martínez. „Theoretisch ja, weil das die Tür zu einem verteilten Eigenverbrauch öffnet und ermöglicht, dass Menschen Teil des Elektrizitätssektors werden. Allerdings wieder auf der Ebene der Erzeugung und Verteilung“, ergänzt sie.
Esther Muñoz Alonso ist Ingenieurin und setzt sich dafür ein, dass diese neuen Rechtsformen und Projekte wirklich einen Wandel bewirken. Sie beklagt diverse Hürden, beispielsweise dass sich die Verwaltungsverfahren mit den Netzbetreibern über ein Jahr hinziehen können. Mit ihrer Initiative Kisar hat sie bislang fünf Projekte beraten, für die eine effektive Partizipation an erster Stelle steht: „Am wichtigsten ist nicht die Energie selbst, sondern die Beteiligung. Es geht darum, weiterzubilden und zu informieren, die Werkzeuge bereitzustellen, damit Entscheidungen und Gestaltung möglich sind. Die Menschen brauchen Wissen, um aktiv am Energiewandel mitwirken zu können.“
Die neuen Rechtsformen, deren Reichweite und Transformationspotenzial sich noch nicht abschätzen lassen, sind Teil der Energiewendestrategie, die die Europäische Union für die kommenden Jahre anstrebt. Die Ziele für Spanien sind im spanischen Energie- und Klimaplan (Plan Nacional Integrado de Energía y Clima, PNIEC) 2021–2030 festgeschrieben. Demnach soll „bis 2030 der Anteil der erneuerbaren Energien am Endenergieverbrauch auf 42 Prozent steigen”. Für die Stromerzeugung wird ein Anteil von 74 Prozent angestrebt. Um diese Zahlen besser einordnen zu können, lässt sich das Jahr 2020 als Referenz heranziehen, als die Erzeugungsquote für die Erneuerbaren bei 43,6 Prozent lag und damit am höchsten seit Beginn der Aufzeichnungen, wie aus Daten von Red Eléctrica hervorgeht.
Im PNIEC heißt es, das Energiesystem solle „hin zu einer höheren Energieautarkie transformiert werden. Um das zu erreichen, müssen wir das regenerative Potenzial, das in unserem Land vorhanden ist, effizient ausnutzen, insbesondere in Bezug auf Solar- und Windenergie“. Zudem ist die Rede von einem „Impuls für die Ausweitung der erneuerbaren Energien, eine verteilte Erzeugung und Energieeffizienz“. So werden aus Sicht der Regierung „wichtige Investitions- und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen“. Und weiter: „Es wird erwartet, dass durch den Eigenverbrauch, die verteilte Erzeugung, die Steuerung der Nachfrage, die Stärkung lokaler Energiegemeinschaften sowie spezifische Maßnahmen zur Unterstützung der proaktiven Rolle von Bürger*innen bei der Dekarbonisierung die Akteure vielfältiger werden. Außerdem soll der Anteil partizipativer Projekte sowohl bei der Erzeugung erneuerbarer Energie als auch im Energiesystem insgesamt steigen.“
Der fragwürdige Boom der Erneuerbaren
Jenseits dieser Absichten sieht die Realität derzeit so aus, dass es immer mehr Projekte zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen gibt, vor allem große Windparks und Photovoltaikprojekte. Im vergangenen Februar wurde die Alianza Energía y Territorio (Aliente) gegründet, eine Organisation, der aktuell 127 Kollektive aus ganz Spanien angehören. Sie kritisiert das Modell, das für erneuerbare Energien festgelegt wird, als „massiv, überdimensioniert“ und zentralisiert. Zur Begründung führt das Bündnis an, dass laut PNIEC von den 191 Gigawatt (GW) an installierter Leistung, über die das Elektrizitätssystem bis 2030 verfügen soll, 89 GW aus Wind- und Solarenergie stammen sollen. Luis Bolonio, einer der Initiator*innen von Aliente, weist darauf hin, dass aktuell bereits 36 GW im Stromnetz installiert und weitere 129 GW für die Umweltverträglichkeitsprüfung vorgesehen sind. Die Rede ist also von 156 GW, was praktisch dem Doppelten von dem entspricht, was eigentlich für das nächste Jahrzehnt geplant ist. Zudem hat Aliente mit der Unterstützung von mehr als 250 Wissenschaftler*innen die irreversiblen Folgen dieser Projekte für die Biodiversität aufgezeigt.
„Wir erleben, wie fossile Energieträger gegen erneuerbare ausgetauscht werden, während das spekulative und profitorientierte Modell gleich bleibt. Oder vielleicht sogar noch gefährlicher wird, weil der Übergang zu den Erneuerbaren so einen guten Ruf hat. Sie sind ja auch notwendig, nur wird uns damit ein Verständnis von Energie als einer Ware im klassischen Sinne untergeschoben“, erklärt Álvaro Campos.
Ein Großteil der neuen Projekte wird in ländlichen Gebieten umgesetzt. An verschiedenen Orten der spanischen Halbinsel formiert sich mittlerweile der Widerstand der Anwohner*innen angesichts der Entwicklung von Megaprojekten und der Installation weiterer Hochspannungsnetze. „Es ist zutiefst ungerecht und paradox, dass die bäuerlich geprägten Gemeinschaften, Randgebiete und Landgemeinden, die bislang am wenigsten von der Entwicklung profitiert haben, die sich aus der Nutzung ihrer Ressourcen – einschließlich fossiler Brennstoffe – ergeben hat, (wieder einmal) nur die Schattenseite einer Energiewende abbekommen sollen. Diesmal gibt sie zwar vor, nachhaltig zu sein, letztlich werden aber wieder Plünderungslogiken reproduziert“, erklärt die Bürgerplattform Plataforma Ciudadana para una Transición Energética Justa. Auch sie ist der Ansicht, dass der PNIEC „keinen gerechten und demokratischen ökologischen Wandel garantiert“.
Eine weitere wesentliche Frage hinsichtlich der angedachten Energiewende betrifft die physischen und räumlichen Grenzen der Erneuerbaren. Antonio Turiel, wissenschaftlicher Forscher am Institut für Meereswissenschaften des CSIC, der größten öffentlichen Forschungseinrichtung Spaniens, kritisiert in seinem Blog, es werde versucht, erneuerbare Energien „auf eine Art und Weise zu nutzen, die nicht nur nicht die effizienteste ist, sondern so viele Nachteile mit sich bringt, dass sie sogar mit einer funktionalen Gesellschaft inkompatibel sein könnte“. Im vergangenen April erklärte Turiel vor dem Senat, dass die Erneuerbaren über einen Zeitraum von 20 Jahren mit einer jährlichen Rate von mehr als zehn Prozent wachsen müssten, um die rückläufige Produktion aus Erdöl, Kohle und Uran auszugleichen: „Das Problem ist, dass die erneuerbaren Energien Grenzen haben. Unter anderem gibt es eine maximale Energiemenge, die aus den Strömen des Planeten Erde gezogen werden kann. Ihre Ertragsrate reicht nicht immer aus, um eine Gesellschaft zu erhalten, die um sie herum strukturiert ist. Sie stehen in einer Abhängigkeit zu fossilen Energieträgern. Sie sind nicht immer wirtschaftlich rentabel. Und sie sind auf Elektrifizierung ausgerichtet, aber Elektrifizierung ist nicht immer das, was wir brauchen.“
Der Wissenschaftler wies im spanischen Oberhaus darauf hin, dass man gerade auf einen „Energierückgang“ zusteuere, weil die Verfügbarkeit von Energie zurückgehen werde: „Leider fehlt uns der Wille, die Probleme an der Wurzel zu packen. Denn im Grunde müssen wir unser Modell einer extraktivistischen Gesellschaft ändern, das auf einem Wirtschaftswachstum bis zum Äußersten basiert.“ Angesichts der Fragen der Senator*innen äußerte sich der Wissenschaftler kritisch über die Vorhaben des spanischen Staates zur regenerativen Energiegewinnung, da sie „darauf gerichtet sind, mehr Strom zu erzeugen, aber noch gar nicht erwiesen ist, dass wir mehr Strom benötigen. Derzeit müsste es vor allem darum gehen, unseren Strom effizient zu nutzen, und es sollte gezeigt werden, dass es für unseren Strom weitaus mehr Nutzungsmöglichkeiten gibt.“
Álvaro Campos äußert sich zudem besorgt darüber, dass die „schönen Töne und die diskursive Maschinerie“ der großen Unternehmen falsche Illusionen zur Energiewende wecken könnten und „die Chance auf einen grundlegenden Wandel vertan wird“. Für ihn ist die Schaffung eines anderen Modells unumgänglich: „Gerade wird eine Infrastruktur angelegt, aber wir überlegen erst danach, was wir eigentlich brauchen. Das müsste umgekehrt sein. Die Energieplanung ist ein Erbe des fossilen Systems. Diese Perspektive haben wir aus den Augen verloren.“
Indes ist die Madrider Armensiedlung Cañada Real seit nunmehr sieben Monaten vom Strom abgeschnitten. Wie auch im Fall von Rosa stellte sich die Justiz im Februar hinter Naturgy, das Unternehmen, das dafür die Verantwortung trägt. Es muss den Strom für die Hunderten von Menschen, die dort nachts im Dunkeln sitzen, nicht wieder anschließen.