Die Versprechen, die der französische Munizipalismus halten muss

16.06.2021
Vincent Béal, Nicolas Maisetti, Gilles Pinson und Max Rousseau
Elections municipales 2020 - 2nd tour

*** Französische Version unten ***

Bei den Kommunalwahlen 2020 in Frankreich wurden so viele Bürgerlisten mit parteilosen „Neulingen“ verzeichnet wie noch nie zuvor . Weniger als zwei Jahre nach dem Aufkommen der Gelbwesten sollte dieses Phänomen als Ergebnis einer vielschichtigen Krise der lokalen Demokratie verstanden werden. Der französische Munizipalismus mag einen Ausweg aus der Krise bieten, aber er ist mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert.

Die französischen Kommunalwahlen im März und Juni 2020 standen ganz im Zeichen der Corona-Krise. Mitten in der ersten Welle der Corona-Pandemie gab es eine Rekordzahl von Nichtwähler*innen. Dieses Phänomen könnte als eine neue Form des Desinteresses an der Politik gedeutet werden. Allerdings konnte bei der Wahl auch eine neue Dynamik der Mobilisierung verzeichnet werden. Gekennzeichnet ist diese durch das Aufkommen von „Bürgerlisten“, die sich aus „politikfremden Personen“ zusammensetzten, die keiner Parteiorganisation angehörten. Die letzten Wahlen reflektieren damit zweifellos ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Politik und dabei vor allem gegenüber den „Regierungsparteien“. Diese Entwicklung ist zwar nicht komplett neu, hat sich im letzten Jahrzehnt aber maßgeblich verstärkt.

Obwohl es schwierig ist, das derzeitige Ausmaß des Munizipalismus in Frankreich objektiv zu beurteilen – die Listen, die für sich in Anspruch nehmen, „partizipatorisch“, „bürgerlich“ oder „munizipalistisch“ orientiert zu sein [1](Artikel auf Französisch), sind ebenso zahlreich wie heterogen[1] –, ist ganz klar, dass er das politische Spiel auf lokaler Ebene, welches traditionell von den Regierungsparteien dominiert wird, durcheinanderbringt. Die Regierungsparteien haben in den letzten vierzig Jahren in der kommunalpolitischen Agenda den Fokus auf die Schlagworte Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität, städtebauliche Großprojekte und eine auf die Mittel- und Oberschicht ausgerichtete Kulturpolitik gelegt. Natürlich stellt sich die Situation je nach Städtetyp unterschiedlich dar und die Probleme sind in wachsenden Metropolen anders als in schrumpfenden mittelgroßen Städten. Aber im Großen und Ganzen wird das Mantra der Stadtentwicklung sowohl von den Stadträt*innen der Rechten wie der Linken geteilt, für die die größte Herausforderung darin besteht, Unternehmen, Investor*innen und neue Bevölkerungsgruppen in ihre Städte zu locken.

Es sind genau diese beiden Krisen, nämlich die der lokalpolitischen Agenda und, ganz allgemein, das fehlende Vertrauen in die Politik, die bei den Wahlen 2020 zum Vorschein gekommen sind und die der größte Auslöser für die „neue“ munizipalistische Bewegung waren. In vielen Städten konnte daher ein (erneutes) Aufkommen entweder kritischer Haltungen gegenüber der Attraktivitätspolitik oder konkreter Initiativen beobachtet werden, die darauf abzielen, das Kräfteverhältnis zwischen Marktteilnehmer*innen und öffentlichen Interessen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Welche Faktoren haben diese Bewegung beeinflusst? Welche sozialen Gruppen und Akteur*innen stehen dahinter? In wie fern spiegelt sich dies im Wahlangebot und sogar in den Programmen der Stadtverwaltung wider? Wird durch diese Entwicklungen das neoliberale Paradigma in Frage gestellt und zeichnet sich stattdessen ein Neo-Munizipalismus am Horizont ab?

Skeptische Stimmung angesichts der Metropolisierung

Zunächst einmal ist der Munizipalismus ein Beleg für die Legitimationskrise der lokalpolitischen Agenden, die weiterhin von Herausforderungen, wie Wachstum, Stadtentwicklung oder Attraktivität dominiert werden, was in Frankreich immer öfter als „Metropolisierungspolitik“ bezeichnet wird. In den letzten Jahren hat sich in intellektuellen und aktivistischen Kreisen eine ablehnende Haltung gegen die Metropolisierung entwickelt[2]. Und diese Entwicklung ist ziemlich neu, denn in Frankreich erreichten die städtischen Auseinandersetzungen nie den Umfang und die Langlebigkeit, wie zum Beispiel in Deutschland. Und im Übrigen wurde auch der Begriff „Metropole“ lange Zeit vorwiegend von Fachleuten und Geographen verwendet.

Dies änderte sich Mitte 2010, als zwei Gesetze die interkommunalen Kooperationsstrukturen der größten Städte veränderten und die politische Kategorie der „Metropole“ schufen. Diese gesetzgeberische und semantische Neuerung trug dazu bei, die bis dahin latent vorhandene Unzufriedenheit herauszukristallisieren, die sich sowohl gegen sozialräumliche Entwicklungen richtete, die als schädlich angesehen wurden – steigende Immobilienpreise in den Stadtzentren, Gentrifizierung, die Vertreibung prekärer Bevölkerungsgruppen, die vermeintliche Aufgabe ländlicher Gebiete durch den Staat usw. ­als auch gegen die Mehrung großer Entwicklungsprojekte, die als unnötig und umweltschädlich angesehen werden, wie Flughäfen, Autobahnen, Sportstadien, Freizeitparks, Einkaufszentren usw. Gewählte Vertreter*innen und Verwaltungen sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene werden beschuldigt, eine Agenda voranzutreiben, die darauf abzielt, Menschen und Ämter in einer Handvoll großer Ballungsgebiete zu konzentrieren.

Die Ablehnung einer Agenda zugunsten der Metropolisierung wurde bei den letzten Kommunalwahlen von einer Reihe von Listen aufgegriffen. In Nantes ist die Liste „Nantes en Commun“ (Gemeinsames Nantes) ausdrücklich sowohl vom Munizipalismus als auch von der Kritik an der Metropolisierung in einer sozialistisch regierten Stadt inspiriert. Seit 1989 haben die Stadträt*innen die Stadt zu einem Versuchslabor für Kultur- und Umweltpolitik gemacht, um einerseits ihr Wählerklientel aus dem aufgeklärten Kleinbürgertum zufriedenzustellen und andererseits die Stadt im territorialen Wettbewerb zu positionieren. Es sei darauf hingewiesen, dass die Liste „Nantes en Commun“ aus den Engagement von Aktivist*innen hervorgegangen ist, die bestehenden Kämpfe in den Außenbezirken der Metropole – und hier vor allem die der ZAD de Notre-Dame des Landes[3] – sowie diejenigen in bestimmten Stadtvierteln zu bündeln, die umfassenden Veränderungen unterworfen sind. „Nantes en Commun“ ist somit das Wahlkampfprodukt einer breiter angelegten Bewegung namens „Métropole en luttes“ (Metropole im Kampf), welche sowohl die „großstädtische Norm“ als auch die Organisation der großstädtischen Kräfte in Frage stellt.

In Straßburg formt sich die Liste „Strasbourg Écologiste et Citoyenne“ (Ökologisches und Bürgerliches Straßburg), die von den Grünen angeführt wird, aber auch parteilose Bürger einschließt, ebenfalls losgelöst von der unternehmerischen Agenda der ehemaligen Stadtverwaltung. Dabei ist es vor allem die Kontroverse um ein Umgehungsstraßenprojekt, die das lokale Bündnis zwischen den Sozialisten und den Grünen, die die Stadt seit mehr als 10 Jahren regieren, endgültig untergräbt. In Frankreich ist der Protest gegen die Agenda und Politik der Metropolisierung genau wie derjenige gegen die Sparmaßnahmen ein entscheidender Faktor, um den großen Anstieg der kommunalen Listen in der letzten Zeit zu erklären.

Unbehagen in der Repräsentation

Neben dem Protest gegen die Agenda der „Metropolisierung“, gibt ein anderes Element den Ausschlag für Schritte in Richtung Munizipalismus. Es handelt sich dabei um die Legitimitätskrise, unter der die politischen Institutionen im Allgemeinen und die politischen Parteien im Besonderen leiden. Gemäß dem politischen Vertrauensbarometer des Forschungszentrums für Politikwissenschaften CEVIPOF von Februar 2021, haben nur 16 % der Französinnen und Franzosen „Vertrauen in die politischen Parteien“, gegenüber 39 % der Deutschen und 32 % der Brit*innen[4]. Die Zeichen dieser Krise sind weitreichend dokumentiert: Unbeliebtheit der Politiker*innen, Wahlenthaltung, Aufstieg des Populismus und von Parteien, die sich als „Anti-Systeme“ präsentieren (wie La République En Marche (LRME), die von Emmanuel Macron gegründete Partei) sowie Verwischen der Kluft zwischen rechts und links bzw. der Versuch die Kluft zu „überwinden“. Lange Zeit blieben die lokalen Mandatsträger*innen von diesem allgemeinen Misstrauen verschont, vor allem in kleinen Gemeinden, in denen Parteizugehörigkeiten oft nicht vorhanden oder verdeckt sind. Gewählte Vertreter*innen in Großstädten haben es jedoch schwerer, dieser Schmach zu entgehen. Zunächst einmal, weil sie nicht den gleichen Grad an Nähe zu den Wähler*innen genießen wie ihre Amtskolleg*innen in den Kleinstädten. Zum anderen, weil ihre Parteizugehörigkeit sehr viel stärker zum Vorschein kommt: Sie sind abhängig von den Parteien und deren Ressourcen, um Wahlkampagnen durchführen zu können und sie müssen ihre Parteizugehörigkeit bekräftigen, wenn sie zu politischen Persönlichkeiten auf nationaler Ebene aufsteigen wollen.

Vor allem eine Partei befindet sich seit einigen Jahren in Aufruhr: die Sozialistische Partei (PS). Und aus diesem Grund richtet sich die munizipalistische Bewegung häufig gegen sie. Die PS verfügt über einige Besonderheiten, die sie zur idealen Zielscheibe machen. Auch wenn sie auf nationaler Ebene stark an Bedeutung verloren hat (die Zahl der sozialistischen Abgeordneten ist von 295 im Jahr 2012 auf 31 im Jahr 2017 eingebrochen), steht die Partei in einer großen Anzahl von Städten immer noch an der Spitze. Der munizipalistische Vorstoß ist folglich als Ergebnis der schwachen sozialdemokratischen Stadtverwaltung zu verstehen: Ihre Agenda spricht zwar immer noch einen Teil der fortschrittlichen Mittelschicht an, hat aber zunehmend Mühe, andere Gruppierungen der Stadtbevölkerung zusammenzubringen. Einige Gruppen mobilisieren sich für ein neues Angebot, z. B. solche mit hohem kulturellem Kapital, aber geringen finanziellen Mitteln. Was die Arbeiterklasse betrifft, so wendet sich diese der extremen Rechten zu (wenn auch in einem viel geringeren Ausmaß als in ländlichen Gebieten) und reagiert vor allem mit Wahlabstinenz.

Und auch, wenn der Trend zur Politikverdrossenheit in Europa schon lange und fast überall besteht, hat er in Frankreich seit Ende 2018, fünfzehn Monate vor den Kommunalwahlen, eine noch nie dagewesene Tragweite angenommen. Die Gelbwesten-Bewegung bringt die Formen des Protests und auch die Art und Weise durcheinander, wie die sozialen Kämpfe geführt werden. Ursprünglich auf den Protest gegen die Einführung einer neuen Treibstoffsteuer konzentriert, gewann die Bewegung schnell an Bedeutung und weitete ihre „Forderungen“ auf Vorschläge für demokratische Neuerungen aus, die darauf abzielten, die Ausübung der repräsentativen Macht auf nationaler und lokaler Ebene zu reformieren oder gar damit zu brechen. Die Themen der direkten kommunalistischen Demokratie, insbesondere über den Vorschlag zur Durchführung eines Bürgerbegehrens oder über die Selbstorganisation der Gelbwesten-Gruppen, sind ebenfalls wieder in die öffentliche Debatte gerückt. Und obwohl sie auf nationaler Ebene abgelehnt wurden, blieben sie nicht ohne Einfluss auf den Aufbau der neo-munizipalistischen Initiativen vom Frühjahr 2020. Darüber hinaus, und auch wenn der Gedanke umstritten ist, sehen einige die Gelbwesten als eine Bewegung, die vor allem ökonomisch benachteiligte soziale Gruppen mobilisiert, die durch den Prozess der Metropolisierung an immer weiter entfernte Randgebiete der Stadt verwiesen werden.

„Munizipalismus“ gegen Mauer der Parteipolitik

Die Kommunalwahlen 2020 scheinen also ein Wendepunkt zu sein. Der Sieg der Listen von Umweltschützer*innen mit parteilosen Kandidat*innen in Lyon, Bordeaux, Straßburg, Besançon, Tours, Annecy oder Poitiers ist wie eine Bombe in der nationalen politischen Landschaft eingeschlagen. Ganz allgemein ermöglichen die (zugegebenermaßen oft schwachen) Ergebnisse der „munizipalistischen“ Wahllisten den Einzug neuer Mandatsträger*innen in die Gemeinderäte vieler großer und kleiner Städte. Und doch scheinen diese Entwicklungen im Moment keine radikalen Veränderungen hervorzubringen, da die Abläufe weiterhin durch die Routinen und Rahmenbedingungen des bestehenden politisch-institutionellen Systems eingeschränkt sind.

Es muss gesagt werden, dass sich die französischen munizipalistischen Wahllisten auf lokaler Ebene an der Aufrechterhaltung der traditionellen parteipolitischen Kräfte gestoßen haben. Auf nationaler Ebene durch das Aufkommen von LREM geschwächt, hätten die traditionellen Parteien – insbesondere rechts und links von der Mitte - von der munizipalistischen Welle, die auch nicht registrierten Bürger*innen und Organisationen offen stand, die vermeintlich die „Zivilgesellschaft“ repräsentierten, hinweggefegt werden können. Dies war jedoch nicht der Fall. Die Parteien profitierten von der schwachen Verankerung der LREM auf lokaler Ebene und schafften es sogar, ihre Position bei den Wahlen 2020 zu halten. Anfänglich noch von den Bürgerlisten überholt, gelang es ihnen schnell diese zu bezwingen, indem sie sich mit einigen von ihnen verbündeten und sie aufnahmen. In vielfacher Hinsicht geben die Verankerung und die aus der Vergangenheit geerbten Netzwerke des Klientilismus noch immer den Ausschlag. Im linken politischen Spektrum wird das lokalpolitische Spiel nach wie vor sehr stark von den Parteien PS, Europe-Écologie-Les Verts (EELV), der PCF und La France Insoumise (LFI) geprägt.

In einigen Städten, wie z. B. Straßburg („Ecologiste et Citoyenne“) oder Marseille („Printemps Marseillais“ (Marseiller Frühling)), sind es die Parteien, die die Listen kontrollieren, welche der Zivilgesellschaft offen stehen. Zudem setzen sich diese Listen zum Teil aus politischen „Profis“ zusammen, die hier die höchsten Positionen bekleiden oder sie anführen. Durch das für die Kommunalwahlen in Frankreich geltende Wahlsystem - eine Listenwahl mit zwei Wahlgängen - erhalten die bestehenden Parteien einen Bonus, wodurch die Chancen für den Durchbruch einer neuen Bewegung systematisch beschränkt sind. In Chambéry beispielsweise stimmten einige der Aktivist*innen von „Chambé Citoyenne“ (Bürgerliches Chambéry) - einer munizipalistisch inspirierten Liste, die den dritten Platz belegte - zwischen den beiden Wahlgängen für einen Zusammenschluss mit der sozialistischen Liste, obwohl letztere ihre eigene Liste nur um eine Handvoll Stimmen geschlagen hatte.

Aber das Gewicht der alten Parteien lastete auch intern auf der Bewegung. Mehrere Listen, die für sich eine munizipalistische Orientierung beanspruchten, haben so nach und nach von der Unterstützung der Parteien profitiert, was Fragen aufgeworfen hat hinsichtlich der Verwässerung ihrer bürgerlichen Identität. So hat zum Beispiel die Liste „Poitiers collectif“ (Kollektives Poitiers), die außerhalb von Parteien entstanden ist, Unterstützung von EELV, Génération.s, Nouvelle Donne und schließlich der Kommunistischen Partei erhalten. Die Liste wurde angeführt von einer grünen Regionalrätin, die schließlich zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Auf Initiative ihres Vorsitzenden Jean-Luc Mélenchon, favorisierte die LFI eine Strategie zur Unterstützung der Bürgerlisten bei den Kommunalwahlen. Aber das Auftreten von erfahrenen politischen Aktivist*innen in unerfahrenen Gruppen hat die internen Strategien verändert. So verließen zum Beispiel in Montpellier Aktivist*innen der munizipalistischen Bewegung die Liste, nachdem diese von der LFI unterstützt wurde (was die Bewegung dennoch in den Umfragen steigen ließ). Sie prangerten an, dass die offizielle Kommunikation der Bewegung von einem der LFI nahestehendem Verein übernommen wurde sowie den Zynismus einer Kampagne, in der parteipolitische Arbeit in den Arbeitervierteln hochgehalten, in den wohlhabenden Vierteln dagegen „verheimlicht“ wurde. In Marseille litt die munizipalistisch geprägte Initiative des „Pacte démocratique“ (Demokratischer Pakt) doppelt unter dem Gewicht der Parteien, wodurch sich zum Teil das fehlende Antreten bei den Wahlen erklären lässt. Von außen, da die Mitglieder sich in endlosen und schließlich auch ausweglosen Verhandlungen mit den Parteivertretern (PS, PCF) der konkurrierenden linken Koalitionsliste („Printemps Marseillais“) aufrieben. Aber auch im Inneren, denn die LFI-Aktivist*innen wurden von den Mitgliedern abgelehnt, die der Idee feindlich gegenüberstanden, die Bewegung als Werkzeug für den Wahlgewinn zu benutzen.

Der Preis der internen Demokratie

In zahlreichen französischen Städten haben sich die Bewegungen, die sich als munizipalistisch bezeichnen, sehr stark der Mechanismen zur Wiederbelebung der lokalen Demokratie bedient. Rückblickend lässt sich sagen, dass sich diese Maßnahmen als zweischneidig erwiesen haben. Die Anfangsdiagnose, nämlich die einer Repräsentationskrise, wurde oft mit dem Wunsch nach einer Maximierung der Beteiligung und der Bekämpfung der Wahlabstinenz begegnet. Es ging darum Raum einzunehmen (Bürgercafés, Versammlungen in den Straßen), Werkzeuge (Auslosung, Wahlen ohne Kandidat*innen, souveräne Vollversammlungen) und horizontale kollektive Entscheidungsmechanismen einzusetzen, die sicherstellen sollten, dass jede Stimme berücksichtigt wird. Die getroffenen Entscheidungen lassen sich sicherlich mit dem oft noch recht jungem Alter der Teilnehmer*innen erklären, aber auch mit der Anwesenheit von Personen mit organisatorischen Fähigkeiten (Projektmanagement, Kommunikation, Technik, Personalwesen usw.) in diesen Bewegungen.

In Montpellier zum Beispiel hat die Bewegung, um Misstrauen bei der Aufstellung der Wahlliste zu vermeiden, Mechanismen zur Förderung der Transparenz ausgearbeitet. Hierzu gehören Wahlen ohne Spitzenkandidat*in, Ernennung der Liste mit der größten Zustimmung (von anderen Mitgliedern der Bewegung vorgeschlagene Kandidat*innen) usw. Die Erstellung der Liste wurde im Übrigen einem Komitee aus Akademiker*innen und Vertreter*innen von Verbänden übertragen, die dafür sorgten, dass die Liste repräsentativ für die Bevölkerung von Montpellier ist (Alter, Geschlecht, Beruf). In Straßburg wurde ein ähnliches System entwickelt, damit die Liste die Struktur der einzelnen Stadtviertel repräsentiert. In Chambéry wie in Toulouse schließlich wurde die kommunale Liste auf der Grundlage von drei verschiedenen Mechanismen erstellt: ein Drittel wurde ausgelost, über ein Drittel wurde abgestimmt (von den Mitgliedern des mobilisierten Kollektivs bestimmte Kandidat*innen) und das letzte Drittel war den freiwilligen Kandidat*innen vorbehalten. Auch wurden zahlreiche Maßnahmen entwickelt, um die Teilnehmer*innen möglichst lange einzubinden. Dabei wurden Kommunikationswerkzeuge, wie Internetforen, die eigentlich für die Spieler*innen von Videospielen entwickelt worden sind, genutzt oder umfunktioniert, da sie sehr flexibel einsetzbar sind und die Neuausrichtung der Aufgabenverteilung erleichtern.

Diese Neuerungen, die manche als „Plattform-Munizipalismus“[2] bezeichnen, bedeuten eindeutig einen Bruch mit den gewöhnlichen Abläufen in der lokalen französischen Demokratie. Durch den Aufbau von Vertrauen durch Transparenz, fördern sie die Einbindung von Gruppen, die immer stärker von dem kommunalen Verwaltungssystem ausgeschlossen wurden. Dies gilt sowohl für Jugendliche als auch ganz allgemein für Gruppierungen, die in der lokalen Demokratie wenig vertreten waren. In einigen Fällen konnten durch diese Maßnahmen auch Gewerkschaften angezogen werden. Auch wenn die Dauer des Engagements dieser Gruppen über den Kampagnenzeitraum hinaus noch abzusehen ist, muss festgestellt werden, dass sie sich im Allgemeinen als unzureichend erwiesen haben, um Arbeiterviertel zu erreichen, außer in den Fällen, in denen die kommunalen Listen von einer bereits seit langem bestehenden Bewegung ausgingen, die im lokalen Gemeinschaftsgefüge gut verankert war. Darüber hinaus ging das Engagement zur Förderung der Beteiligung und der Erneuerung der Demokratie häufig zu Lasten des Aufbaus eines gemeinsamen ideologischen Fundaments als Basis für ein Programm und für Reflexionen, die stärker auf die Inhalte der urbanen Politik ausgerichtet waren.

Die Falle der Klientilismus

Durch den Fokus, der auf die Entstehung einer „neoliberalen Stadt“ gelegt wird, wird die Bedeutung der Klientilismus auf Ebene der Lokalpolitik zum Teil verdeckt. Die differenzierte Verteilung von öffentlichen Gütern ist überall vorhanden, allerdings in südlichen Städten wie Marseille, Nizza, Montpellier und Perpignan deutlicher sichtbarer. In Montpellier zum Beispiel basiert das sozialistische Verwaltungssystem, das nach der „rosa Welle“ von 1977 ohne Unterbrechung umgesetzt wurde, auf einer räumlichen Differenzierung. Die Verwaltung des Ostens der Stadt mit den großen Neubauprojekten der „New-build gentrification“ (Port Marianne usw.) richtet sich an Zielgruppen der Unternehmenspolitik (Führungskräfte des privaten und öffentlichen Sektors), während der Westen und seine Arbeiterviertel von einer „politischen Maschinerie“ verwaltet werden, die die letzten verfügbaren öffentlichen Güter verteilt (gering qualifizierte öffentliche Arbeitsplätze, Kitaplätze, Standplätze auf städtischen Märkten usw.). Im Laufe der Jahrzehnte, in denen die zu verteilenden Ressourcen zurückgingen und sich die Zusammensetzung der Gesellschaft in der Stadt veränderte, ließ dieses System einen wachsenden Teil der Bevölkerung außen vor.

In vielen Städten ist die Ablehnung des klientilistischen Mechanismus, die Anprangerung von Geschäftemacherei und Vetternwirtschaft und der gleichzeitige Wunsch, die Arbeiterklassen und Stadtviertel der Arbeiter*innen wieder in den Mittelpunkt von neuen kommunalen Kräften zu stellen, zentraler Bestandteil des Diskurses, auf den die munizipalistischen Initiativen aufbauen. Dies gilt für Marseille mit dem sogenannten Prinzip der „permanenten Demokratie“, das durch den „Pacte démocratique“ (Demokratischer Pakt) unterstützt wird. Dieser Pakt, der größtenteils aus den sozialen Kämpfen, die in den nördlichen Bezirken vom „Syndicat des quartiers populaires de Marseille“ (Zusammenschluss der Marseiller Arbeiterviertel) geführt wurden, hervorgegangen ist, vermochte allerdings nur in einem der Sektoren der Stadt eine Liste zu präsentieren, nämlich im 13. und 14. Arrondissement, die lange Zeit unter der Kontrolle der örtlichen Sozialistischen Partei[5] standen und seit 2014 in die Hände der extremen Rechten gefallen sind. Die vom „Pacte démocratique“ unterstützte munizipalistische Liste stolperte zweifellos – auf jeden Fall zumindest teilweise – über die bestehenden klientelistischen Netzwerke und erhielt im ersten Wahlgang nur 6 % der Stimmen.

Genauso verhält es sich auch in Chambéry, wo die Liste „Chambé Citoyenne“ Mühe hatte, gegen die Netzwerke einer durch 6 Jahre Opposition geschwächten sozialistischen Partei im sozialen Wohnungsbauviertel von Chambéry-le-Haut anzukämpfen. Oder auch in Melun im Großraum Paris, wo die Liste des Kollektivs „Bien vivre à Melun" (Gut leben in Melun) trotz zahlreicher Verbindungen zu Vereinen, ihrer Verankerung in den Bewegungen (gegen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, für das Recht auf Wohnen) und einem seit zehn Jahren bestehendem Engagement für direkte Demokratie und Umweltgerechtigkeit, durch die klientelistischen Netzwerke der lokalen Rechten in ihrem Vorankommen gebremst wurde. In den Städten und Stadtvierteln, die von solchen Mechanismen beherrscht werden, schlagen sich die lokalen Aktionen engagierter Kollektive nicht unbedingt in Wählerstimmen nieder. Es ist dieses materielle System, an dem sich die oft unerfahrenen Aktivist*innen der munizipalistischen Bewegung stoßen. Und die Erkenntnis darüber, die immer offensichtlicher wird, je näher der Wahltag rückt, führt bei vielen Aktivist*innen zu einer starken Ernüchterung im Hinblick auf parteipolitische Machenschaften. Letztere zeigen deutlich, dass die Listen, wenn sie nicht im Vereinsgefüge verankert oder aus sozialen Bewegungen des letzten Jahrzehnts entstanden sind, bis auf bestimmte Gruppen der gebildeten Mittelschicht wenig überzeugen können.

Versprechen, die noch zu halten sind

Das eindrucksvolle Aufkommen der munizipalistischen Wahllisten hat die Kommunalwahlen 2020 geprägt. Die Listen belegen – vor allem in den Metropolen – eine nachlassende Unterstützung des parteiübergreifenden Konsenses in Bezug auf die Attraktivitätspolitik, spiegeln aber in mittelgroßen Städten auch eine wachsende Ablehnung der Sparpolitik wider. Diese Listen bringen heterogene Bevölkerungsgruppen in der Stadt zusammen, die aber eines gemeinsam haben, nämlich, dass sie sowohl von der neoliberalen Stadtpolitik als auch von den klientelistischen Umverteilungspraktiken vergessen wurden. Die Allianzen erinnern an die „rosa Welle" von 1977, die die Sozialistische Partei in vielen Städten auf der Grundlage eines Bündnisses zwischen einem Teil der verarmten Arbeiterklasse und der aufstrebenden gebildeten Mittelschicht an die Macht brachte. Aber die Situation hat sich verändert. Anhand der räumlichen Differenzierung wird deutlich, dass die Herausforderungen in einer überhitzten Metropole, in einer Vorstadtgemeinde im dritten Ring um die Stadt oder in einer schrumpfenden Stadt im „Nirgendwo“, die von der Schließung öffentlicher Dienste betroffen ist, nicht die gleichen sind.

Die munizipalistischen Listen sind allesamt auf den Widerstand der politischen Parteien gestoßen, die in der Lage waren, zum Teil unnatürliche Allianzen zu bilden und programmatische Änderungen oder Positionen auf den Listen im Austausch für ihre Unterstützung auszuhandeln, welche immer noch als wesentlich gilt. Je nach ihrer Verankerung im lokalen Vereinsgefüge und ihrer Verbindung zu städtischen sozialen Bewegungen, haben die Listen anfällig auf diesen Druck reagiert. Nachdem sie gewählt waren, wurden die Listen weiter gebremst, vor allem durch die Gemeindeverbände, die aufgrund ihrer Zuständigkeiten in den Bereichen Planung, Wohnungsbau, Verkehr oder Kampf gegen den Klimawandel unumgänglich geworden sind. In den Gebieten, deren politische Führung durch parteiübergreifende Koalitionen sichergestellt wird, die sich eher hinter verschlossenen Türen absprechen als politische Großstadtprojekte auszuarbeiten, mussten sich die wenigen siegreichen munizipalistischen Listen mit anderen politischen Kräften der Linken und der Mitte verbünden, um eine Hoffnung darauf zu haben, ihr Programm umzusetzen.

Zum aktuellen Zeitpunkt scheint die Wahl dieser neuen Listen daher lediglich den Bruch zwischen zwei unterschiedlichen politischen Räumen sichtbarer zu machen, nämlich dem politisierten Raum der Gemeinde, in dem das munizipalistische Projekt der sozialen Transformation umgesetzt werden kann, wenn auch unvollständig sowie dem entpolitisiertem Raum der Metropole, in dem weiterhin pragmatische und unternehmerische Verwaltungsmethoden vorherrschend sind. Immerhin zeichnen sich seit der Wahl 2020 die gewählten Vertreter*innen der munizipalistischen Listen, auch wenn sie in der absoluten Minderheit sind, oft durch ein besonders hohes Maß an Engagement aus. Ihre Redebeiträge während der Gemeinderatssitzungen werden besonders stark wahrgenommen, denn sie profitieren von der Vorbereitungsarbeit des Kollektivs. Das Wiedererlernen des demokratischen Spiels geht also, fast ein Jahr nach den Wahlen, weiter. Das ist auch der Grund dafür, warum diese beispiellose politische Kraft in den französischen Städten zweifellos eine wachsende Rolle spielen könnte, auch wenn die Versprechen, die an das Aufkommen dieser Bewegung geknüpft wurden, noch nicht alle erfüllt sind.
 

Über die Autoren

Vincent Béal ist Soziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Strasbourg (UMR 7363 SAGE). Er beschäftigt sich mit Städten, Stadtpolitik und Governance. In den letzten Jahren hat er sich in seiner Forschungsarbeit der Analyse von Antworten auf die Probleme des städtischen Verfalls gewidmet.

Nicolas Maisetti ist Postdoktorand der Politikwissenschaften an der Gustave-Eiffel Universität (UMR 8134 LATTS). Er forscht im Rahmen der ANR INVEST-Forschung im Bereich der städtischen Sparpolitik.

Gilles Pinson ist Professor für Politikwissenschaften am Institut für Politikwissenschaften Bordeaux (UMR 5116 CED). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Governance und Stadtpolitik. Er hat gerade „La ville néolibérale“ (PUF, 2020) und „Pouvoirs Urbains“ (zusammen mit Christian Lefèvre, Armand Colin, 2020) veröffentlicht.

Max Rousseau ist Politikwissenschaftler und Geograph bei CIRAD (UMR 5281 ART-Dev). Seine Arbeit konzentriert sich auf Governance und Sanierungsstrategien in Stadtrand-Gebieten im Norden und im Süden.

 

Referenzen

[1] Der Verein Action Commune! (Gemeinsame Aktion!), der mehrere seiner Listen während des Kommunalwahlkampfes unterstützte und ausstattete, verzeichnete im März 2020 mehr als 400, ohne dass diese Anzahl Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

[2] An der Grenze zwischen der wissenschaftlichen und der aktivistischen Welt haben zwei Bücher ein starkes Medienecho gefunden, das des Essayisten Christophe Guilluy's „La France périphérique“ (2014) und das Buch des Geographen Guillaume Faburel „Les métropoles barbares“ (2020). Die Debatte zum Protest gegen die Metropole wird ebenfalls Gegenstand einer Sonderausgabe der Online-Zeitschrift Métropoles sein, die Ende 2021 erscheint: https://journals.openedition.org/metropoles/[3] (auf FR/EN)

[3] Bei den „Zones à Défendre“ (Verteidigungszonen), die sich im letzten Jahrzehnt vervielfacht haben, handelt es sich um permanente Zusammenkünfte von Aktivist*innen, die sich gegen große Entwicklungsprojekte stellen. Diejenige in Notre-Dame-des-Landes auf dem Gelände, das für den Bau eines Flughafens vorgesehen ist, war eine der bekanntesten, bis sie 2018 von der Regierung unterbunden wurde.

[4] https://www.sciencespo.fr/cevipof/fr/content/le-barometre-de-la-confiance-politique.html[4] (auf Französisch)

[5] Diese beiden Stadtbezirke sind die politische Hochburg der sozialistischen Abgeordneten Sylvie Andrieux, die 2013 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde, davon ein Jahr ohne Bewährung, wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder. Die Justiz deckte die Finanzierung einer politischen Maschinerie in ihren Diensten auf: 750.000 Euro wurden an fiktive Vereine gezahlt, die hauptsächlich zur Subventionierung ihrer Wahlhelfer dienten.

Links:

  1. https://laviedesidees.fr/L-essor-des-listes-participatives.html
  2. https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0309132520909480
  3. https://journals.openedition.org/metropoles/
  4. https://www.sciencespo.fr/cevipof/fr/content/le-barometre-de-la-confiance-politique.html

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