Das fehlende Element

04.08.2021
Nessim Achouche

Die Nachrichten der vergangenen Wochen hinterlassen den deutlichen Eindruck, dass sich die Klimakrise irreversibel und immer weiter verschärft. Die Bilder der Katastrophen reichte von den außergewöhnlichen Hitzewellen und Waldbränden in Kanada bis zu den verheerenden Überschwemmungen in Belgien und Deutschland. Angela Merkel, Bundeskanzlerin seit fast 16 Jahren, hat die Verwüstungen in Deutschland zwar als „surreal“[1] bezeichnet, doch sind sie äußerst real und werden lange in Erinnerung bleiben.

In der Zwischenzeit hat die EU-Kommission ihren Plan zur Dekarbonisierung Europas vorgelegt. Hier wird zwar behauptet, dass die richtigen Lehren gezogen wurden, doch scheint der gewählte Weg vor allem im Hinblick auf weitere klimabedingte Zerstörungen und deren negativen sozialen Folgen zu zögerlich, um das Klima tatsächlich zu retten oder die Wirtschaft gerecht umzugestalten.

Zunehmende klimabedingte Zerstörungen

Der Klimawandel trifft uns in Europa deutlich schneller und heftiger als von den Wissenschaftler*innen erwartet. Bereits eingetretene Umweltschäden und die Vernichtung von Menschenleben ist für die westlichen Länder nicht mehr zu übersehen. Es beginnt nunmehr ein Zeitalter der Zerstörungen und großen Katastrophen.

Was im globalen Süden mit gewaltigen Überschwemmungen, andauernden Dürren und der Ausbreitung von Wüsten längst schon Wirklichkeit ist und allein im Jahr 2020 etwa 40 Millionen Menschen in die Flucht im eigenen Land gezwungen hat[2], ist jetzt in einem sehr kurzen Zeitraum auch im globalen Norden und in Europa eingetreten. Auf die extreme Hitze und die dadurch verursachten Brände in Kanada folgten Überschwemmungen in Belgien und im Westen Deutschlands in einem lange nicht mehr dagewesenen Ausmaß der Zerstörung.

Diesmal beschränkten sich die Folgen allerdings nicht auf massive materielle oder natürliche Schäden wie schon so oft in Europa, sondern forderten mehrere hundert Menschenleben. Während in Deutschland eine Stadt fast vollständig ausradiert wurde[3], wurde in Kanada eine andere ein Opfer der Flammen. Vor kurzem sahen wir Bilder der komplett überfluteten Londoner U-Bahn direkt im Anschluss an vollkommen erschütternde Bilder eines U-Bahntunnels in China, wo Tausende eingeschlossener Menschen einschließlich Kinder und Babys verzweifelt versuchten, den steigenden Fluten zu entkommen. Nicht anders sah es fast gleichzeitig auf Straßen in Japan aus.

In einem kürzlich zu den Überschwemmungen in Belgien[4] veröffentlichten Artikel wird besonders ein all diesen Massenzerstörungen gemeinsamer Aspekt deutlich herausgearbeitet, nämlich die Tatsache, dass die von diesen Ereignissen am stärksten betroffenen Menschen den unteren Gesellschaftsschichten und zahlreichen Migrant*innen in schlecht instand gehaltenen Gebäuden und abgehängten Stadtteilen angehören. Die gleichen Menschen, die schon unter der Pandemie am stärksten zu leiden hatten, müssen jetzt mit ansehen, wie ihre Häuser und Stadtviertel zerstört werden. Sie sind Opfer eines Phänomens, zu dem sie im Vergleich zu den Reichsten und den großen Unternehmen am wenigsten beigetragen haben.

Die sich beschleunigende und auch in den westlichen Ländern immer deutlicher spürbare Klimakrise macht es dringend erforderlich, sich die Reaktionen der Politik auf das jetzt beschlossene Maßnahmenpaket genauer anzusehen.

‚Fit for 55‘... aber für wen?

Es wäre völlig irreführend anzunehmen, dass sich in Politik und Gesetzgebung nichts bewegt. Tatsächlich finden besonders auf EU-Ebene wichtige Veränderungen statt.

Seit Ursula von der Leyen den ‚Green Deal‘ in ihrer Rede zur Lage der Union im letzten September kurz vorgestellt hat, war das ‚Fit for 55‘-Paket das am dringendsten erwartete Gesetzesvorhaben. Womöglich ist es noch nicht das letzte Wort zum Green Deal, liefert aber zahlreiche Einzelheiten zur beabsichtigten „Transformation“ der EU hin zu einer dekarbonisierten Wirtschaft.

Diese umfassende Überarbeitung bestehender Richtlinien und Vorlage neuer Vorschriften und Gesetze stellt den konkreten Plan zur Erreichung des von der EU gesteckten Ziels einer 55%igen Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber dem Stand von 1990 sowie von Netto-Null-Emissionen bis 2050 dar. Obwohl das ‚Fit for 55‘-Paket tatsächlich ein alle Lebens- und Politikbereiche betreffendes Maßnahmenbündel ist, können wir uns die Hauptbereiche herausgreifen:

Bei den Themen Energie und Emissionen zeigt sich überraschenderweise das völlige Fehlen von Vorschlägen dazu, wie der Ausstoß von Treibhausgasen (THG) bis 2030 um die angestrebten 65 % gesenkt werden kann. Eine Steigerung des Gesamtanteils erneuerbarer Energien von 32 auf 40 % ist nach wie vor unzureichend und wird nicht durch verbindliche Zielvorgaben für die Mitgliedsstaaten abgesichert. Im Kern werden vor allem die Kohlenstoffbepreisung weiterentwickelt und das Emissionshandelssystem (EHS) erweitert.

Bei diesem marktwirtschaftlichen Ansatz wird einerseits ein Preis pro Tonne freigesetzten Kohlenstoffs festgesetzt, andererseits der maximal zulässige Ausstoß einzelner Branchen gedeckelt. Die bisher vom EHS erfassten ca. 22 % aller Emissionen und 11.000 Fabrikanlagen in der EU sollen auf etwa zwei Drittel aller Emissionen ausgeweitet werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Anhebung des Preises für CO2-Emissionen auf durchschnittlich etwa 50 Euro pro Tonne. Der niedrige CO2-Preis wurde von grünen NGOs und Analysten oft als Grund für das Versagen des EHS angegeben und dieses seit seiner Einführung im Jahre 2013 als nahezu leere Hülle bezeichnet, während viele für Klimagerechtigkeit kämpfende Gruppen diese markwirtschaftlichen Lösungen insgesamt als „falsche Lösungen“ kritisierten.

Die am häufigsten kritisierte Maßnahme des Gesamtpakets war wahrscheinlich die Entscheidung, das EHS auf den Transport-[5] und Bausektor auszudehnen, weil sie besonders bei einkommensschwachen Haushalten direkt zu steigenden Betriebs- und Heizkosten führt. Mieter*innen in schlecht isolierten Gebäuden werden dadurch mit deutlich[6] steigenden Energiekosten rechnen müssen. Gleiches gilt für alle, die nicht auf ein Elektrofahrzeug umsteigen können oder in einer Gegend mit unzureichendem ÖPNV-Angebot leben.

Es wird unmittelbar deutlich, dass die durch ihre Lebensweise ohnehin am wenigsten zur Klimakrise beitragenden unteren Bevölkerungsschichten den vergleichsweise größten Beitrag werden leisten müssen, nachdem die Pandemie Ungleichheiten bereits verschärft und die verletzlichsten Teile unserer Gesellschaft besonders hart getroffen hat.

Kehren wir noch einmal zu den Ereignissen dieses Sommers zurück, ist kaum nachzuvollziehen, dass all die Menschen, die jetzt ihr Haus und ihre gesamte Habe verloren haben, auch noch die Hauptlast der Dekarbonisierungsvorhaben der EU tragen sollen. Während alle Beteiligten selbst auf allerhöchster Ebene angeben, ein Gelbwesten-Szenario unbedingt vermeiden zu wollen, wurden die Lehren anscheinend nicht recht gezogen.

Die innerhalb der EU geltende Kohlenstoffbepreisung wird durch ihr externes Gegenstück, das CO2-Grenzausgleichssystem (CBAM) flankiert. Dessen Unstimmigkeiten zeigen erneut, worin das wahre Wesen der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Transformation besteht.

Das CBAM verlangt von Importeuren industrieller Produkte den Erwerb von Emissionszertifikaten für die bei der Herstellung der eingeführten Produkte in etwa generierten CO2-Emissionen, wobei der CO2-Preis dem auf dem europäischen Kohlenstoffmarkt[7] zu zahlenden Preis entspricht.

Tatsächlich soll damit erreicht werden, dass in der EU ansässige Hersteller*innen gegenüber Hersteller*innen aus anderen Weltregionen nicht benachteiligt werden, in denen mit der Dekarbonisierung noch nicht begonnen wurde. Das CBAM weist jedoch zahlreiche Einschränkungen auf:

  1. Es gilt nur für fünf eingeführte Werkstoffe: Stahl, Aluminium, Eisen, Zement, synthetischer Stickstoffdünger.
  2. Es schafft die für Hersteller aus der EU steuerfrei gewährten Kontingente von Produkten nicht ab, die bei Einführung in das Gebiet der EU besteuert werden. Zwar folgt diese Abschaffung, jedoch erst 2030!

Bei diesem Verfahren müssen nicht in der EU ansässige Branchen für ihr Verschmutzungsrecht bezahlen, während keine Anreize für eine Begrenzung dieser Emissionen innerhalb der EU geschaffen werden. Verglichen mit der bereits dargelegten Erweiterung des EHS macht es dieses Manko schwer glaubhaft, wenn Franz Timmermans versichert, dass „Fairness“ tatsächlich ein Hauptanliegen[8] der EU-Kommission ist.

Die durch das CBAM generierten Steuereinnahmen sind relativ gering und dienen der Refinanzierung des europäischen Aufbauplans „NextGenEU“ (und zeigen an dieser Stelle zudem das Fehlen wirklich innovativer monetärer Ideen), fördern aber keine direkte Dekarbonisierung der EU bzw. wirtschaftlich schwacher bis mittelstarker Länder, die von der Einführung des CBAM womöglich hart getroffen werden.

Schließlich wäre es auch falsch zu behaupten das „Fit for 55“-Paket enthielte keine soziale Komponente. Die letzte „Überraschung“ dieses Pakets war die Schaffung eines sozialen Klimafonds, über den die Auswirkungen des EHS auf einzelne Haushalte ausgeglichen werden sollen.

Während dieser Fonds jedoch direkt aus den EHS-Einnahmen aus dem Transport- und Bausektor der Mitgliedsstaaten finanziert wird, sind zwischen 2025 und 2032 lediglich 25 % dieser Einnahmen plus weitere 25 % aus Beiträgen der Mitgliedsstaaten vorgesehen, insgesamt also ca. 140 Milliarden Euro. Von den 72 Milliarden Euro aus den EHS-Einnahmen soll nur die Hälfte für direkte soziale Unterstützungsleistungen bereitgestellt werden, während der Rest als finanzieller Anreiz für den Kauf oder die Entwicklung emissionsarmer Waren und Einrichtungen gedacht ist. Für den Schutz besonders einkommensschwacher Haushalte ist das vollkommen unzureichend. So müssen allein in den Bau und die Erneuerung von Sozialwohnungen jährlich 13 Millionen Euro[9] investiert werden.

Ungeeignet für das Klima und die Gerechtigkeit

Wird die Senkung der THG-Emissionen allein dem Markt überlassen, fällt es schwer zu glauben, die EU-Kommission strebe eine gerechte und faire Dekarbonisierung mit eingeforderter Unterstützung durch die Mehrheit der europäischen Bevölkerung an, wenn Niedrigverdiener dabei auch noch einen beängstigend großen Anteil übernehmen, große Unternehmen und Industriegruppen aber vor zusätzlichen Steuern geschützt werden sollen.

Bis zur vollständigen Umsetzung des Pakets ist es ein langer und schwer vorhersagbarer Weg. Es sieht so aus, als stünde Europa an der Schwelle eines historischen Augenblicks, indem sich der europäische Green Deal an die Zeit nach der Depression in den Vereinigten Staaten anlehnt. Im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie und die Wirtschaftskrise erinnert die Situation auch an die Lage in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, als alles neu aufgebaut, neu gedacht und neu austariert werden musste. Im Rahmen dieser wahrhaft gigantischen Aufgabe gelang sozial ausgerichteten Demokratien der Aufbau von Wohlfahrtssystemen, die sozialen und Arbeitsfragen einen prominenten Platz innerhalb dieser Systeme garantierten.

Eine gleichartig prominente Stellung des Sozial- und Arbeitsrechts ist in einem System kaum vorstellbar, das fossile Brennstoffe einerseits zu langsam aufgibt, andererseits aber seinen neoliberalen Charakter beibehält. In den letzten drei oder vier Jahren hat die Klimabewegung die Klimakrise unbestreitbar zunächst ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit gerückt und anschließend auf die Agenda der europäischen Politik gesetzt.

Das fehlende Element sind gut organisierte Arbeiter- und politische Bewegungen, die stark genug sind, das Streben der Klimabewegung nach einem echten und wirklich gerechten Systemwandel zu unterstützen und zu verstärken. Ist der Green Deal eine neoliberale Ergänzung neuer Green Deals, bedeutet das an sich schon die Anerkennung des erheblichen Drucks, den diese Forderungen und Pläne auf die Tagespolitik ausgeübt haben. Was bleibt, ist die einzelnen politischen und sozialen Enden zu verknüpfen, um unsere Pflicht gegenüber unserem Jahrhundert zu erfüllen.

Links:

  1. https://www.euractiv.com/section/climate-environment/news/merkel-sees-surreal-wreckage-as-europe
  2. https://www.dw.com/en/climate-refugees-migration-displacement/a-57585752
  3. https://www.bbc.com/news/world-europe-57862894
  4. https://www.mediapart.fr/journal/international/220721/belgique-les-quartiers-populaires-en-premiere-ligne-du-chaos-climatique
  5. https://www.rosalux.eu/en/article/1999.the-european-fit-for-55-climate-package-inadequate-and-socially-unbalanced.html
  6. https://www.feantsa.org/en/press-release/2021/07/16/fit-for-55-package-a-unique-opportunity-to-achieve-climate-goals-while-tackling-energy-poverty-and-unfit-housing
  7. https://www.alternatives-economiques.fr/taxe-carbone-aux-frontieres-jeu-risque-de-leurope/00099933
  8. https://multimedia.europarl.europa.eu/de/european-green-deal-package--exchange-of-views-on-the-fit-for-2030-package-opening-statements-by-the-chair-and-by-frans-timmermans--executive-vice-president-of-the-european-commission---envi-committee_I209105-V_v
  9. https://www.euractiv.com/section/climate-environment/opinion/fit-for-55-will-penalise-poor-europeans/