Parlamentswahlen in Island
Linke wahrt die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung und mehr Zulauf in einer fragmentierten Parteienlandschaft
- NordForsk / Kim Wendt
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Wähler*innen von links und rechts sind an diesem Wochenende zu den gemäßigten Parteien abgewandert – doch die linke Premierministerin Katrín Jakobsdóttir findet nach wie vor breite Unterstützung und wird womöglich im Amt bleiben.
Entgegen allen Wahlprognosen ergab die Wahl am Samstag eine breite Unterstützung für die isländischen Regierungsparteien aus ökosozialistisch Links-Grüner Bewegung (Vinstri græn) von Premierministerin Katrín Jakobsdóttir, konservativer Unabhängigkeitspartei (Sjálfstæðisflokkurinn) und liberal-bäuerlicher Fortschrittspartei (Framsóknarflokkurinn).
Sollte die ideologisch sehr unterschiedliche Koalition fortgesetzt werden, hätte sie eine größere Mehrheit. Die Links-Grünen haben drei ihrer 11 Sitze von 2017 verloren. Gegenüber dem Zeitpunkt der Wahlansetzung erhalten sie jedoch tatsächlich nur einen Sitz weniger, da zwei Abgeordnete bereits vorher zur Opposition gewechselt hatten. Die Fraktion der Fortschrittspartei umfasst nunmehr 13 statt vorher 8 Sitze, während die Unabhängigskeitspartei ihre 16 Sitze halten konnte. Die Koalitionsparteien bleiben zwar die drei stärksten Kräfte im Land, doch haben die Links-Grünen und die Fortschrittspartei ihre Positionen vertauscht. Die Koalition kommt auf insgesamt 37 Sitze (2017: 35, Wahlansetzung: 33).
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht noch nicht fest, ob die Koalition erneut eine Regierung in der bisherigen Zusammensetzung bilden wird. Eventuell streben die größeren Koalitionspartner nach einem ihrer Kandidaten als Premierminister. Andererseits wissen die Links-Grünen aber auch, dass ihre Parteichefin bei den Wähler*innen besonders beliebt ist. Zudem möchten sie womöglich nicht die Juniorpartnerin einer künftig anders und stärker nach rechts orientierten Koalition sein. Vor genauerer Betrachtung der Möglichkeiten einer Regierungsbildung und der Zukunft der Linken, lohnt sich ein Blick auf Islands frühere Regierungen und die Turbulenzen während der jüngsten Wahl.
Vielfältige Koalitionen und Mitte-Rechts-Dominanz: Island als nordischer Ausreißer
Obwohl Island generell als nordische und soziale Demokratie angesehen wird, unterscheidet sich die Wahlpolitik des Landes stark von der der anderen nordischen Länder. Während Dänemark, Norwegen und (wohl in besonderer Weise) auch Schweden seit dem Zweiten Weltkrieg sehr oft Mitte-Links-Regierungen hatten, wurde Island zumeist von einer Mitte-Rechts-Regierung geführt. Die Unabhängigkeitspartei stellt traditionell die ‚natürliche Regierungspartei‘ des Landes dar. Seit Gründung der Republik im Jahre 1944 war sie insgesamt 52 Jahre lang an der Regierung und hat in der Zeit über 42 Jahre lang den Premierminister gestellt. Ihr Hauptkonkurrent war mit 19 Regierungsbeteiligungen und neun Premierministern immer die Fortschrittspartei.
Einschließlich der aktuellen Amtsinhaberin hatte Island demgegenüber lediglich fünf als mitte-links einzustufende Premierminister*innen. Die nächstfrühere linke Premierministerin war Jóhanna Sigurðardóttir von der Sozialdemokratischen Allianz (Samfylkingin). Ihre breit links aufgestellte Koalition von 2009 war seit fast dreißig Jahren die erste nicht gemäßigt oder mitte-rechts geführte Regierung. Die anderen drei sozialdemokratischen Premierminister waren Stefán Jóhann Stefánsson (Amtszeit Februar 1947– Dezember 1949), Emil Jónsson (Amtszeit Dezember 1958 – November 1959) und Benedikt Sigurðsson Gröndal (Amtszeit Oktober 1979 – Februar 1980). Nur Jóhanna Sigurðardóttir und Katrín Jakobsdóttir sind bisher als einzige linke Premierministerinnen über eine gesamte Wahlperiode im Amt geblieben.
Ein weiteres Kennzeichen der isländischen Regierungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine gewisse ‚Promiskuität‘ der Koalitionen. Während die Parteien in den anderen nordischen Ländern ideologisch geschlossene ‚rote und blaue Blöcke‘ bilden und nur selten mit Parteien vom anderen Ende des politischen Spektrums koalieren, gestaltet sich die politische Zusammenarbeit in Island etwas fließender. In den ersten fünf Jahren nach seiner Gründung wurde das Land von einer Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Sozialisten regiert. Die Vorgängerinnen aller aktuellen Parteien haben zu irgendeinem Zeitpunkt miteinander die Regierung gebildet.
Trotz der wahlbeherrschenden Stellung der Unabhängigkeitspartei, hat diese ideologieübergreifende Zusammenarbeit in der Vergangenheit mit zu einer politischen Kultur der Mäßigung und Kompromissbereitschaft beigetragen. In jüngerer Zeit hat die Unabhängigkeitspartei ihre dominante Position in einer zunehmend fragmentierten Parteienlandschaft jedoch ein Stück weit eingebüßt. In den letzten etwa zehn Jahren seit 2009 hat die Partei keinen Premierminister mehr gestellt (mit Ausnahme von Bjarni Benediktsson, der nach der Wahl von 2016 weniger als ein Jahr lang im Amt war).
Wahlen in Island im 21. Jahrhundert: zunehmende Fragmentierung
Untersuchungen zur Parteienfragmentierung stützen sich besonders häufig auf die von den Politikwissenschaftlern Markku Laakso und Rein Taagepera (1979) veröffentlichten Ansätze, deren Methoden auch wir zur Ermittlung der ‚effektiven Parteienanzahl‘ einer Parteienlandschaft verwenden. Einfach alle Parteien zu zählen, würde eine Partei mit nur einem oder einer Abgeordneten gleich gewichten wie eine Partei mit hundert Abgeordneten. Demgegenüber berücksichtigt die ‚effektive‘ Anzahl auch die Größe der jeweiligen Partei. Um die Gliederung der Wählerschaft besser verstehen zu können, zählen wir die effektive Anzahl der sich zur Wahl stellenden Parteien (Effective Number of Electoral Parties – ENEP). Die Zusammensetzung eines Parlaments ermitteln wir dagegen anhand der effektiven Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien (Effective Number of Parliamentary Parties – ENPP).
Auf der Seite des irischen Politikwissenschaftlers Professor Michael Gallagher findet sich ein äußerst nützliches Online-Dokument, das diese effektive Anzahl für nahezu alle weltweit durchgeführten Wahlen einschließlich der in Island seit 1946 abgehaltenen fortschreibt. Abbildung 1 zeigt Gallaghers Zahlen für 2003–2017 sowie die von mir zur Verdeutlichung der Fragmentierungstendenzen selbst berechneten ENEP- und ENPP-Zahlen zur Wahl von 2021.
Vor der Wahl am letzten Samstag sind die ENEP- und ENPP-Zahlen in Island in den letzten 20 Jahren bei jeder Wahl größer geworden. Der stärkste Anstieg war bei der Parlamentswahl von 2013 (sprunghafter Anstieg der zur Wahl angetretenen und zu berücksichtigenden Parteien) und 2017 (bis dahin größte Anzahl an Parteien im Althing bei ausgeglichenerer Sitzverteilung) zu beobachten. Das lässt sich als Fragmentierung der Parteienlandschaft charakterisieren, indem die Wähler*innen weniger für die traditionell großen oder ‚Volksparteien‘, sondern für eine Vielzahl von Alternativen stimmten.
Was bedeutet das für die isländischen Linken? Anscheinend haben die linken Parteien durch die Fragmentierung der links orientierten Wähler*innen Stimmen verloren, von der Fragmentierung der mitte-rechts orientierten parlamentarischen Parteien zugleich aber auch profitiert. Abbildung 2 zeigt die Stimmenanteile aller Mitte-Links-Parteien (durchgezogene schwarze Linie) sowie jeweils der beiden größeren Mitte-Links-Parteien, also der Sozialdemokratischen Allianz (SDA, rot gepunktete Linie) und der Links-Grünen Bewegung (VG, grün gepunktete Linie) seit 2003. Die Form der einzelnen Punkte auf der schwarzen Linie weist zudem die Ausrichtung des bzw. der jeweiligen Premierminister*in aus (Dreieck = mitte-links, Raute = gemäßigt, Quadrat = mitte-rechts).
Fragmentierung der Linken: die Wahl von 2013
2009 erzielten die linken Parteien zu Beginn der Finanzkrise in Island deutliche Stimmenzuwächse, nämlich über die Hälfte der abgegebenen Stimmen. Außerdem wurde die Unabhängigkeitspartei von ihrem ehemaligen Koalitionspartner der Sozialdemokratischen Allianz in ihrer früheren Vorrangstellung abgelöst. Dieser nie dagewesene Stimmungsumschwung führte zur ersten ausschließlich aus eher linken Parteien bestehenden Mehrheitsregierung in der Geschichte Islands, nachdem die Sozialdemokratische Allianz und die Links-Grüne Bewegung eine Koalition mit 34 der 63 Sitze gebildet hatten.
Schon bei der nächsten Wahl im Jahr 2013 halbierten sich ihre gemeinsamen Stimmenanteile jedoch. Beide Parteien verließen die Regierung und machten Platz für ein neues Mitte-Rechts-Bündnis. Aus Abbildung 1 geht hervor, dass diese Wahlniederlage der Linken mit der ersten Phase der Parteienfragmentierung in Island, ersichtlich aus der deutlichen ENEP-Zahlen zusammenfiel. An der Wahl 2013 nahmen insgesamt 11 neue Parteien teil, von denen aber nur zwei (die sozialliberale Strahlende Zukunft (Björt framtíð) sowie die synkretistische und systemkritische Piratenpartei (Píratar) tatsächlich im Althing vertreten waren. Die ENEP-Zahlen nahmen also deutlich stärker zu als der ENPP-Wert.
Obwohl erhebliche Stimmenverluste für linke Parteien nach einer Amtszeit in Regierungsverantwortung nicht ungewöhnlich sind, waren die Wahlrückschläge wohl doch größer als erwartet. Vieles spricht dafür, dass die erheblichen Verluste der Amtsinhaberin durch das Übergewicht neuer Parteien begründet ist, die mit ihrer Klientel in einem linksliberalen Wählerbündnis die breit links aufgestellte Koalition erst ermöglicht hatte.
Fragmentierung der Mitte-Rechts-Parteien: Die Wahlen von 2016 und 2017
Die rechten Parteien waren von der nächsten Phase der Fragmentierung sehr viel stärker betroffen. Sie trat in einer besonders turbulenten Zeit innerhalb der Geschichte der isländischen Wahlen auf, als innerhalb eines Jahres gleich zweimal gewählt wurde (was seit Gründung der Republik vorher erst einmal vorgekommen war).
Nach der deutlichen Niederlage der 2013 abgewählten Linksregierung bildete sich aus Unabhängigkeits- und Fortschrittspartei ein neues Mitte-Rechts-Bündnis, in dem die Fortschrittspartei mit Sigmundur Davið Gunnlaugsson den Premierminister stellte. Im April 2016 führten Enthüllungen zu seinen Finanzgeschäften zu massiven öffentlichem Protesten und Rücktrittsforderungen, so dass die Neuwahlen schließlich um fast ein Jahr vorgezogen wurden. Auch aus den Wahlen von 2016 ging eine Mitte-Rechts-Koalition hervor, die nunmehr jedoch von der Unabhängigkeitspartei geführt wurde. Nur ein knappes Jahr später zerbrach diese Regierung an einem weiteren politischen Skandal, so dass für Oktober 2017 vorgezogene Neuwahlen angesetzt wurden.
Die Fortschrittspartei verlor bei beiden Wahlen zusammen insgesamt 13,7 Prozentpunkte der Stimmen sowie 11 Sitze, die Unabhängigkeitspartei netto 1,5 Prozentpunkte und drei Sitze. Beide Parteien erlebten in dieser Zeit Spaltungen.
Von der Unabhängigkeitspartei spaltete sich 2016 die Reformpartei (Viðreisn) ab. Mit sozialliberalen Grundsätzen und einer mitte-rechts orientierten Wirtschaftspolitik war die neue Partei gut aufgestellt, um von der Fortschrittspartei abwandernde Wähler*innen für sich zu gewinnen und sich als Alternative zur Unabhängigkeitspartei zu präsentieren. 2016 erhielt sie 10,5% der Stimmen, zog mit sieben Sitzen ins Althing ein und beteiligte sich an der kurzlebigen nächsten Regierung. Schon 2017 fielen ihre Anteile auf 6,7% und vier Parlamentssitze.
Die Zentrumspartei (Miðflokkurinn) spaltete sich bereits vor der Wahl von 2017 von der Fortschrittspartei ab. Unter Führung des früheren Premierministers Sigmundur Davið Gunnlaugsson, dessen Rücktritt die voraufgegangene Wahl von 2016 ausgelöst hatte, positionierte sie sich (trotz des Namens) als populistische Rechtspartei. Sie errang fast 11% der Stimmen und zog mit sieben Sitzen ins Althing ein.
Die dritte in dieser Zeit entstandene bedeutendere Partei ist die Partei des Volkes (Flokkur Fólksins), eine populistische Partei, die für Nativismus, eine konservative Sozialpolitik und einen starken Staat eintritt. 2016 konnte sie 3,54% der Stimmen aus sich vereinen, errang aber keinen Sitz im Parlament. 2017 konnte sie ihre Stimmenanteile mit 6,9% nahezu verdoppeln und mit vier Sitzen ins Althing einziehen.
Mit dem Aufkommen dieser drei Parteien sowie der 2017 faktisch verschwundenen „Strahlenden Zukunft“ waren nach der Wahl 2017 acht Parteien gegenüber den sechs nach der Wahl 2016 im Althing vertreten. Zwar wurde die Unabhängigkeitspartei stärkste Kraft, errang aber nur 16 Sitze (ihr insgesamt schlechtestes Ergebnis seit der Umwandlung des Althing in ein Einkammerparlament 1995) und fand bei den anderen Parteien nicht genügend Rückhalt, um eine Koalition anzuführen. Katrín Jakobsdóttir von der Links-Grünen Bewegung war die für die Position der Premierministerin aussichtsreichste Kandidatin aller Parteivorsitzenden und galt zudem als die Politikerin, der man im Land am meisten vertraute. Indem sie ihre Beliebtheit innerhalb und außerhalb des Parlaments nutzte, konnte sie von der gespaltenen Rechten profitieren und sich bei den Koalitionsverhandlungen als die bevorzugte Regierungschefin positionieren.
Im Ergebnis bildete sich ein neues Regierungsbündnis unter Beteiligung der Unabhängigkeitspartei, der Links-Grünen Bewegung sowie der Fortschrittspartei und Katrín Jakobsdóttir als erster Links-Grüner Premierministerin. Die Sozialdemokratische Allianz konnte ihre Anteile 2017 mit 12,1% der Stimmen mehr als verdoppeln. Mit dann sieben Sitzen wurde sie als größte Partei zur Oppositionsführerin.
Wahl 2021: Weitere Fragmentierung an der Wahlurne, aber Konsolidierung im Parlament
Im Vergleich zu 2017 deuten die Ergebnisse auf eine stärker fragmentierte Wählerschaft (ENEP = 7,05 gegenüber 6,76), aber ein weniger fragmentiertes Parlament (ENPP = 6,29 gegenüber 6,54) hin. Alle Wahlumfragen hatten zu der sicheren Vermutung geführt, dass die Sozialistische Partei Islands (Sósíalistaflokkur Íslands) als neunte Partei ins Althing einziehen würde. Die Partei konnte jedoch keine Sitze erringen, blieb im Ringen um Direktmandate weit hinter der Konkurrenz zurück und wurde wegen des Scheiterns an der 5%-Hürde auch bei den Ausgleichsmandaten nicht berücksichtigt. Ihr Stimmenanteil lag jedoch bei 4,1% – was fast exakt den Verlusten der Links-Grünen Bewegung seit 2017 entspricht.
Nach schwierigen vier Jahren in der Regierung ist die Links-Grüne Bewegung mit ihrem Ergebnis wahrscheinlich zufrieden. Obwohl sie gegenüber 2017 ein Viertel ihrer Stimmenanteile (12,6% statt vorher 16,9%) und drei Sitze verloren hat, liegt dieses Ergebnis immer noch deutlich über den Prognosen in den letzten Wochen vor der Wahl. Zudem sind die Parteivorsitzenden – besonders Katrín Jakobsdóttir und Gesundheitsministerin Svandís Svavarsdóttir – in der Öffentlichkeit nach wie vor beliebt und haben viel Lob für ihren Umgang mit der Corona-Krise geerntet. Die Sozialdemokratische Allianz hat bei dieser Wahl gegenüber 2017 2,2 Prozentpunkte und einen Sitz verloren, was nach vier Jahren Opposition unter einer vom linken Erzrivalen geführten Regierung besonders enttäuschend ist. Insgesamt sind die linken Stimmenanteile leicht auf 26,6% und damit weit unter das Spitzenergebnis von 2009 gefallen, liegen aber immer noch erkennbar über den Zahlen von 2013 bzw. 2016.
Am anderen Ende des Spektrums haben auch die rechten Parteien insgesamt Stimmen eingebüßt. Dies ist hauptsächlich in den starken Verlusten der Zentrumspartei begründet, deren Anteil auf 5,5% zusammengeschmolzen ist. Nicht nur hat die Partei damit vier Sitze verloren, sondern es sieht so aus, als seien die Wählerstimmen auch nicht zu einer der anderen Mitte-Rechts-Parteien abgewandert. Während die Unabhängigkeitspartei leichte Verluste hinnehmen musste, hat die Reformpartei leicht um 1,6 Prozentpunkte auf 8,3% zugelegt, womit sie die Anzahl ihrer Vertreter*innen im Parlament um eine*n weiteren auf jetzt insgesamt fünf Sitze ausbauen konnte.
Die beiden neuen rechten Parteien versuchten im Wahlkampf bei Gegner*innen der Corona-Maßnahmen zu punkten. Jedoch fand weder die Liberaldemokratische Partei (Frjálslyndi lýðræðisflokkurinn) noch die Partei Verantwortliche Zukunft (Ábyrg framtíð) mit ca. 0,4% bzw. 0,1% der Stimmen wenig Unterstützung. Das scheint darauf hinzudeuten, dass sich die Stimmenanteile wie bei den linken Parteien nicht nur innerhalb des rechten Spektrums verschoben, sondern insgesamt auch mehr in die Mitte rückten.
Die Parteien der politischen Mitte waren bei dieser Wahl die großen Gewinner, und die Fortschrittspartei erzielte mit deutlich höheren Stimmanteilen (von 10,7% auf 17,3%) und jetzt 13 statt vorher 8 Sitzen für eine Regierungspartei einen beachtlichen Erfolg. Die Partei des Volkes stabilisierte sich bei dieser Wahl auf eindeutig bescheidenerem Niveau. Sie vergab im Wahlkampf Positionen an in Island weithin bekannte Persönlichkeiten, befüllte ihre Kandidat*innenlisten mit älteren und benachteiligten Menschen und überdeckte die nativistische Rhetorik mit breiter angelegten Absichten zum Ausbau des Sozialstaats.
Der Partei des Volkes gelang denn auch die größte Überraschung des Wahlabends: Alle Prognosen hatten ein Scheitern an der 5%-Hürde und den Verlust aller Parlamentssitze als wahrscheinlich angenommen. Stattdessen konnte die Partei 8,9% der Stimmen und sechs Sitze im Parlament gewinnen. Obwohl ihr gemeinsamer Stimmenanteil nach wie vor etwas kleiner ist, haben die Parteien der politischen Mitte jetzt genauso viele Sitze wie die linken Parteien. Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, sich eine Regierung ohne die Unterstützung der Fortschrittspartei und/oder der Partei des Volkes vorzustellen.
Welche Möglichkeiten hat die Linke jetzt?
2017 die Premierministerin zu stellen war nicht einfach nur ein Wahlerfolg der Links-Grünen Bewegung, sondern ergab sich auch aus der Beliebtheit ihrer Führungsriege und einem geschickten Navigieren in einem fragmentierten Althing. Zwar bleibt das Ziel das gleiche – Bildung einer stabilen Koalition in einer instabilen Umgebung ohne allzu viele Kompromisse –, doch ist die Herausforderung größer geworden: Es sitzen weniger links-grüne Delegierte im Parlament und die Fortschrittspartei meldet womöglich Ansprüche auf eine führende Rolle in der nächsten Regierung an. Gleichwohl kann Katrín Jakobsdóttir historisch betrachtet einen klaren Pluspunkt für sich verbuchen: Während vier der Parteichefs und -chefinnen im jetzigen Althing bereits Premierminister*innen waren, ist sie die einzige mit einer kompletten Amtszeit.
Das aktuell wahrscheinlichste – aber durchaus nicht sichere – Ergebnis ist, dass das vorherige Regierungsbündnis seine Arbeit in der einen oder anderen Zusammensetzung fortsetzt. Dafür könnten die Links-Grünen zur Bedingung machen, dass sie weiterhin die Premierministerin stellen. Vorläufige Daten der Icelandic National Election Study legen eine breite Zustimmung für Katrín Jakobsdóttir als neue Premierministerin auch unter denen nahe, die für eine der anderen Parteien gestimmt haben. Umso wichtiger ist es, dass dies auch für große Teile der Wählerschaft von Unabhängigkeits- und Fortschrittspartei gilt. Kann die Koalition unter ihrer Führung erneuert werden, ist sie die erste linke Politikerin in Island, die aus zwei aufeinanderfolgenden Wahlen als Premierministerin hervorgegangen ist. Womöglich muss die den anderen Partei dafür jedoch Zugeständnisse bei den politischen Themen oder der Kabinettszusammensetzung machen.
Die Verhandlungen werden auf allen Seiten von der fehlenden praktischen Alternative mitbestimmt. Eine Regierungsbildung ohne die Fortschrittspartei scheint kaum möglich, so wie eine Mitte- oder Mitte-Rechts-Partei die Links-Grünen wohl nicht wird ersetzen können. Theoretisch ist auch eine Mitte-Links-Regierung nach wie vor möglich, würde aber einer Koalition aus Fortschrittspartei und Links-Grünen sowie mindestens zwei weiteren Parteien erforderlich machen – ein solches Bündnis hat die Fortschrittspartei 2017 abgelehnt.
Über die Frage der Regierungsbildung hinaus wird die isländische Linke das aktuelle Wahlergebnis womöglich sehr eingehend analysieren müssen. Die Links-Grünen müssen überlegen, ob die in der Teilnahme an einer Koalition mit der Unabhängigkeitspartei begründeten Verluste jetzt ihren Tiefststand erreicht haben, oder ob sich der Abwärtstrend in einer weiteren Amtszeit fortsetzen würde. Trotz der geringeren Stimmenanteile liegt das jetzige Ergebnis in etwa bei der durchschnittlichen Leistung seit der ersten Wahl 1999 und daher nahe am historischen Mittelwert.
Vor dem Hintergrund einer teilweisen Umkehr der 2017 erzielten Erholung muss die Sozialdemokratische Allianz ihre Strategie ernsthaft hinterfragen. Der Versuch, unzufriedene Links-Grün-Wähler*innen für sich zu gewinnen, erbrachte weniger Stimmenzuwächse als das auf Zusammenarbeit gerichtete Vorgehen bei der vorherigen Wahl, als die Aussicht auf eine gemeinsame Beteiligung an der Koalition insgesamt mehr Auftrieb erbrachte. Was die politischen Programme angeht, liegen die Parteien heute augenscheinlich näher beieinander denn je: Während sich die Sozialdemokratische Allianz stärker links und grün orientiert, haben die Links-Grünen Gefallen am Pragmatismus gefunden, was die Fragen einer EU- und NATO-Mitgliedschaft weniger dringlich macht.
Dann sind auch die ‚Herausforderer‘ zu betrachten. Nach dem Scheitern an der 5%-Hürde und damit ohne Ausgleichsmandate sieht sich die Sozialistische Partei existenziellen Fragestellungen gegenüber. Tatsächlich wurden hier 4,1% der Stimmen ‚verschwendet‘, während sie die Wahrscheinlichkeit einer Mitte-Links-Regierung erhöht hätten, wären sie gleich zu den Links-Grünen oder zur Sozialdemokratischen Allianz abgewandert. Obwohl diese ‚neue‘ Partei ein durchaus respektables Ergebnis erzielt hat, darf darüber nicht vergessen werden, dass die Sozialistische Partei 2017 mit dem Argument nicht an der Wahl teilnahm, der Partei mehr Zeit für den Aufbau eines stärkeren Rückhalts bei den Wähler*innen zu verschaffen. Umso mehr muss das jetzige Ergebnis enttäuschen, zumal nicht sicher ist, ob die Hürde bei der nächsten Wahl genommen werden kann.
Der Erfolg der Partei des Volkes stellt ein deutlich ernsteres Problem dar. Wie überall in Europa, steht eine populistische Partei mit zunehmender Anziehungskraft in direkter Konkurrenz zur isländischen Linken, da sie ihre Stimmen anscheinend in der Arbeiterschaft und bei Menschen generiert, die sonst eher sozialdemokratisch oder sozialistisch gestimmt hätten. Mit einem höheren Mindestlohn, einer Steigerung der Sozialausgaben sowie zurückgenommenem Nativismus ist die Partei des Volkes aus dieser Wahl deutlich erfolgreicher hervorgegangen als die populistischen Herausforderer der ökonomisch Rechten. Für die Mitte-Links-Parteien stellt sich nunmehr die Aufgabe, die Wähler*innen davon zu überzeugen, dass sich ein widerstandsfähiger Sozialstaat und sozialliberale Grundsätze nicht widersprechen und dass die ideologisch Linke deutlich mehr für gesellschaftlich Benachteiligte in Island bewirken kann als jede Form des Populismus.
Über den Autor
Dr. Luke Field ist Politikwissenschaftler am Social Science Research Institute und an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Island. Er beschäftigt sich vor allem mit der Politik von Wahlen, politischer Psychologie und demokratischen Innovationen. Er ist unter lukefield.ie im Internet und unter @LukePField bei Twitter zu finden.
Wissenschaftliche Literatur
Gallagher, M. (2021). Election indices dataset. [Online] http://www.tcd.ie/Political_Science/people/michael_gallagher/ElSystems/index.php.
Laakso, M. und Taagepera, R. (1979). ‘Effective’ Number of Parties: A Measure with Application to West Europe. Comparative Political Studies, 12(1), S. 3–27.