En perspectiva

Das öffentliche Gesundheitswesen im spanischen Staat vor, während und nach Corona

Das öffentliche Gesundheitswesen im spanischen Staat: Merkmale, Besonderheiten und chronische Probleme

06.07.2021
Javier Padilla Bernáldez

Immer wieder zeigt sich, dass jedes Gesundheitssystem mehr ein Kulturgut als ein parteipolitisches Produkt ist (auch wenn es zwischen beiden Bereichen durchaus Überschneidungen gibt). Insofern lässt es sich weniger auf kurzfristige politische Veränderungen in der Regierung zurückführen als vielmehr auf langfristige Tendenzen und ergibt sich aus der Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen Behörden und Bürger*innen aufgefasst werden. Vor diesem Hintergrund ist das spanische Gesundheitswesen das Ergebnis langwieriger Prozesse, die in enger Verbindung mit anderen Schutzsystemen stehen und kaum in der Lage sind, sich von einem Tag auf den anderen signifikant zu verändern.

Die Finanzierung des Nationalen Gesundheitssystems

Das spanische Gesundheitswesen zeichnet sich dadurch aus, dass es sich um ein Nationales Gesundheitssystem[1] handelt. Damit geht einher, dass es vorrangig über Steuern finanziert wird, die medizinische Versorgung vorgeblich allgemein abgedeckt ist und die grundlegende Versorgung über die Primärversorgung stattfindet, über die rund 90 Prozent der Gesundheitsprobleme der Bevölkerung gelöst werden. Gegebenenfalls findet dort eine Überweisung in ein Krankenhaus statt. Zudem wird über die Primärversorgung ein beständiger und enger Kontakt zur Bevölkerung und zur Gemeinschaft gepflegt. Mit Ausnahme einiger konkreter Bevölkerungsgruppen (illegale Migrant*innen, die sich weniger als 90 Tage in Spanien aufhalten, oder Menschen, die über ein Verfahren zur Familienzusammenführung eingereist sind) haben alle Menschen, die ihren Wohnsitz in Spanien haben, das Recht, die Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen. Die gesamte Gesundheitsversorgung findet über die Primärversorgung statt, wobei praktisch keine Eigenbeteiligung an den Kosten anfällt. Allerdings muss für Medikamente je nach Alter und Einkommensniveau ein bestimmter Betrag zugezahlt werden.

Von den Gesundheitsausgaben, die insgesamt im spanischen Staat getätigt werden, sind 30 Prozent Privatausgaben. Sie stammen unmittelbar von den Nutzer*innen und werden vor allem für Leistungen, die das öffentliche Gesundheitswesen nicht abdeckt (zahnärztliche Versorgung, Brillen …), sowie für Medikamentenzuzahlungen aufgebracht. Ein kleiner, wenn auch wachsender Anteil der privaten Ausgaben entfällt zudem auf private Krankenversicherungen (6 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben) und auf direkte Zahlungen für medizinische Versorgungsleistungen. Die verbleibenden 70 Prozent der Ausgaben sind die sogenannten öffentlichen Gesundheitsausgaben. Sie stammen in erster Linie aus Steuergeldern und zu einem geringeren Teil aus Sozialversicherungsbeiträgen.

Kriterien für die Gesundheitsversorgung

Im spanischen Gesundheitssystem steht das Recht auf Versorgung in keinerlei Verbindung mit einer entsprechenden Bezahlung und den eigenen Sozialversicherungsbeiträgen. Stattdessen ist es an das Kriterium des Wohnsitzes geknüpft, obwohl auch hierfür einige Ausnahmen bestehen. Unter dem Mandat von Mariano Rajoy (Partido Popular) wurde 2012 mit dem Königlichen Gesetzesdekret 16/2012 die Gesetzgebung dahingehend verändert, dass Migrant*innen ohne Papiere aus dem Gesundheitswesen ausgeschlossen wurden. Auf diese Weise wurde das Konzept von „Versicherten“ wiederhergestellt, das über ein Jahrzehnt aus der spanischen Gesetzgebung verbannt gewesen war. Die Zivilgesellschaft reagierte auf diese Ausschlüsse mit Initiativen wie beispielsweise Yo Sí Sanidad Universal, einem gesellschaftlichen Zusammenschluss, der infolge dieser Gesetzesänderung von 2012 entstand und seither die Interessen betroffener Menschen vertritt, sie berät und Begleitungen im Gesundheitswesen anbietet. Trotz jüngster Versuche, das genannte Gesetz zu reformieren, bleibt die Gesundheitsversorgung in Spanien auch weiterhin nur teilweise universell. Für Migrant*innen, die sich weniger als 90 Tage im Land aufhalten, und Menschen, die sich in einem Verfahren zur Familienzusammenführung befinden, ist die Situation besonders schwierig.

Verteilte Zuständigkeiten

Ein weiteres wesentliches strukturelles Merkmal ist die Übertragung der gesundheitspolitischen Zuständigkeiten auf die Autonomen Gemeinschaften. Das bedeutet, dass sämtliche Aspekte in Verbindung mit den allgemeinen Vorschriften zum Gesundheitswesen und dem Erwerb des Rechts auf Gesundheitsversorgung vom Staat abhängen, aber alles, was mit Gesundheitsleistungen verbunden ist, vollständig der Zuständigkeit der einzelnen Autonomen Gemeinschaften unterliegt. Dieses Maß an Dezentralisierung hat die Etablierung von Innovationen unterschiedlichster Art in vielen Bereichen ermöglicht (zum Beispiel Umgang mit Patient*innen mit chronischen Erkrankungen, Strategien der öffentlichen Gesundheit, Entwicklung fortschrittlicher Pflegepraktiken). Da es jedoch keine Kriterien zur Vereinheitlichung der öffentlichen Gesundheitsausgaben in den verschiedenen Gemeinschaften gibt, können die Ausgaben pro Einwohner*in bis zu 50 Prozent auseinanderliegen. So kommt es, dass den Menschen je nach Region, in der sie leben, unterschiedliche Leistungen zur Verfügung stehen.

Neben der Art der Finanzierung, der Form, wie das Recht auf Gesundheitsversorgung erworben wird, und der Dezentralisierung von Gesundheitsleistungen gibt es noch zwei weitere Aspekte, die für einen ersten Einblick in das spanische Gesundheitssystem wichtig sind: die Rolle der Primärversorgung und die Rolle privater Initiativen bei der Verwaltung der öffentlichen Gesundheit.

Die Rolle der Primärversorgung

Das öffentliche Gesundheitssystem im spanischen Staat baut zumindest in organisatorischer Hinsicht auf die Primärversorgung auf, die in Koordination mit den weiteren Akteur*innen des Gesundheitswesens Aufgaben in den Bereichen Versorgung, Prävention, Förderung und Rehabilitation übernimmt. Diese Aufgaben sind sowohl individuell als auch gemeinschaftlich ausgerichtet und langfristig ausgelegt. Sie beruhen darauf, dass jeder Person eine Ärztin/ein Arzt und ein/e Krankenpfleger*in zugeteilt ist. Trotz dieser Organisation ist die Primärversorgung in den meisten Autonomen Gemeinschaften stark angeschlagen. Die nächsten Jahre werden für diese Versorgungsebene kritisch, da die entsprechenden Ausgaben nur einen Anteil von etwa 10 bis 17 Prozent der gesamten öffentlichen Gesundheitsausgaben ausmachen (laut Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation sollten die Ausgaben für die Primärversorgung bei rund 25 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben liegen) und zudem in der demografischen Pyramide der Fachkräfte besonders die Altersgruppe dominiert, die bald in Rente geht.

Die Privatisierung

Was die Rolle privater Initiativen im öffentlichen Gesundheitswesen seit 1997 angeht, dominieren seit der Verabschiedung von Gesetz 15/1997 zwei Modelle: Einerseits das Modell, das seinerzeit als „neue Verwaltungsformen“ bezeichnet wurde und darauf basiert, dass eine Unternehmensgruppe vertraglich mit der teilweisen oder vollständigen Verwaltung eines Krankenhauses betraut wird. Dafür darf sie das Gesundheitszentrum aufbauen und erhält jährlich eine bestimmte Summe für jede Person, die diesem Zentrum zugewiesen wird (Pro-Kopf-Finanzierung). Dieses Modell wurde zunächst in der Region Valencia getestet und fand besonders, wenn auch nicht ausschließlich, in den Autonomen Gemeinschaften Valencia und Madrid Verbreitung. Zudem gibt es auch ein Konzertierungsmodell, bei dem konkrete Leistungen gegen eine Bezahlung für diese Leistung vertraglich vereinbart werden.

Das andere Modell besteht in der Schaffung öffentlicher Unternehmen, die mit der Verwaltung des Gesundheitswesens beauftragt werden. Mittels dieser Unternehmen, die dem Privatrecht unterliegen, wurden die Auftragsvergabeverfahren mit denen von Privatunternehmen gleichgestellt und die Beschäftigten verloren ihren Status als Beamt*innen. Diese Verwaltungsform hat insbesondere in Andalusien eine starke Dynamik entwickelt und zeigt sowohl Licht- als auch Schattenseiten.

Es stimmt zwar, dass auf diese Weise an einigen Orten eine bedeutende Anzahl von Fachkräften mit einer gewissen Beschäftigungsstabilität integriert werden konnte – vor einem Hintergrund, in dem öffentliche Beschäftigungsangebote sich langsam entwickelten und selten waren. Doch hat diese Lösung auch die Herausbildung von Infrastrukturen im Gesundheitswesen mit wenig Planung befördert und die Gesundheitsversorgung so fragmentiert, dass zwischen einzelnen Mechanismen keine Koordination mehr besteht. Die Auswertungen über diese Art der öffentlichen Verwaltung durch öffentliche Unternehmen geben kaum Aufschluss darüber, wie damit zur Verbesserung der Gesundheit in der Bevölkerung oder zur Stabilität und Transparenz bei der Eingliederung neuer Beschäftigter beigetragen wurde.

2010-2020: Ein verlorenes Jahrzehnt für das öffentliche Gesundheitswesen

Wenn wir über das spanische öffentliche Gesundheitssystem sprechen, müssen wir auch explizit die Geschehnisse im vergangenen Jahrzehnt im Anschluss an den Höhepunkt der Wirtschaftskrise von 2008 betrachten, als die öffentlichen Gesundheitsausgaben im Zeitraum von 2009 bis 2013 um insgesamt 8,8 Milliarden Euro zurückgingen (12,6 Prozent der Gesamtausgaben).

Dieser Einbruch der öffentlichen Gesundheitsausgaben betraf insbesondere zwei Bereiche: die Primärversorgung und die Öffentliche Gesundheit[2], die zwischen 2009 und 2014 einen Rückgang von 16 bzw. 22 Prozent verzeichneten. Zur gleichen Zeit waren die Krankenhausausgaben in den meisten Autonomen Gemeinschaften hingegen kaum betroffen oder verzeichneten sogar einen leichten Anstieg. Der Grund dafür war allerdings nicht, dass in den Krankenhäusern keine Budgetkürzungen vorgenommen worden wären, sondern dass in erster Linie das Humankapital von den Kürzungen betroffen war.

Sowohl in der Primärversorgung als auch in der Öffentlichen Gesundheit gab es große Einschnitte, vor allem was die Anzahl und Bezahlung der Fachkräfte anging. Auch auf der Ebene der Krankenhäuser wurde weniger in Personal investiert, während jedoch die Ausgaben für technische Ausstattung und Medikamente unvermindert anstiegen. (So entsprachen die pharmazeutischen Krankenhausausgaben laut einem Bericht der Unabhängigen Behörde für spanische Steuerverantwortung [Autoridad Independiente de Responsabilidad Fiscal, AIReF] im Jahr 2003 einem Anteil von 21 Prozent, der bis 2018 auf 39 Prozent anstieg. Darin zeigt sich ein langfristiger Anstieg der Arzneimittelausgaben innerhalb der Krankenhausausgaben. Für die kommenden Jahre wird ein weiterer Anstieg prognostiziert.) Wir können also festhalten, dass während der Wirtschaftskrise, die Ende der 2000er-Jahre ihren Anfang nahm, vor allem das pharmazeutische und technologische Kapital gestärkt wurde, während die Sparpolitik insbesondere auf Kürzungen bei Gesundheitsfachkräften ausgerichtet war.

Die Situation am Ende eines verlorenen Jahrzehnts für die spanische öffentliche Gesundheit war zugleich die Ausgangslage, mit der sich das Land der Coronapandemie stellen musste: unzureichende Gesundheitsausgaben, eine Bevölkerungspyramide mit vielen Fachkräften vor dem Ruhestand, eine Primärversorgung mit einem hohen Haushaltsdefizit und öffentliche Gesundheitsdienste mit sehr wenig Personal und ohne die notwendigen Haushaltsmittel zur Modernisierung ihrer Praxis in verschiedenen Bereichen wie der epidemiologischen Überwachung und der Ausarbeitung von Reaktionen auf mögliche öffentliche Gesundheitskrisen. All dies hat eine wachsende soziale Ungleichheit zur Folge, da genau jene Instanzen, die mit ihrer Arbeit die sozialen Ungleichheiten im Gesundheitsbereich reduzieren (Öffentliche Gesundheit und Primärversorgung), diejenigen sind, deren Mittel am meisten gekürzt wurden.

Die Coronapandemie: Besonderheiten und gemeinsame Probleme

Zu Beginn der Pandemie wagten zahlreiche Kommentator*innen, Journalist*innen und politische Analyst*innen den Versuch, die Merkmale der Entscheidungen konkreter Länder herauszuarbeiten, die zur Erklärung der guten oder schlechten Ergebnisse in der Pandemiebekämpfung herangezogen werden könnten. Für Spanien ließe sich die Antwort wahrscheinlich zu einem großen Teil nicht mit konkreten Entscheidungen erklären, sondern mit dem Zustand des Systems im Moment des Pandemieausbruchs – was das Gesundheitswesen generell als auch seine Verwaltung betrifft.

Wenn es um die Frage geht, wie der spanische Staat insgesamt auf die Pandemie reagiert hat, müssen wir drei zentrale Elemente berücksichtigen (abgesehen von den positiven und negativen Besonderheiten einiger Regionen):

  • Die zentrale Rolle von Krankenhäusern bei der Reaktion des Gesundheitswesens: Das spanische Gesundheitssystem hat mit anderen Gesundheitssystemen seiner Art die Gemeinsamkeit, dass im Verhältnis zur Größe seiner Bevölkerung nur eine geringe Anzahl von Krankenhausbetten zur Verfügung steht. Das führte dazu, dass die Krankenhäuser schnell überfüllt waren und eine auf die Primärversorgung konzentrierte Reaktion nicht möglich war, sodass die Behandlung der meisten Fälle zwar sehr wohl über die Primärversorgung lief, jedoch unter höchst prekären Bedingungen. Es kam sogar dazu, dass Fachpersonal in andere Bereiche versetzt oder in den größten Gesundheitszentren einzelner Stadtviertel oder Gemeinden konzentriert wurde, weil das Personal fehlte, um von einem anderen Ort als dem Krankenhaus aus angemessen zu reagieren.
  • Die fehlende sozio-sanitäre Koordination: Es ist unbestritten, dass die höchste Sterblichkeit in Verbindung mit Covid-19 in den Senioren- und Pflegeheimen auftrat. Dies ist eine Folge der fehlenden Koordination zwischen Mechanismen aus dem sozialen Bereich und dem Bereich der Gesundheitsversorgung. Dieser Aspekt hat sich durch eine jahrzehntelange Fragmentierung der Betreuung der Menschen in Senioren- und Pflegeheimen verschärft und ihr Recht auf Gesundheit beeinträchtigt. In den Heimen kamen mehrere Faktoren zusammen, die letztlich zu einer katastrophalen Situation führten: I) Da den Bewohner*innen verboten wurde, die Heime zu verlassen, ging man von einem geschlossenen Raum aus, während allerdings das Pflegepersonal ein- und ausging, sodass die Heime zwar geschlossen, aber nicht isoliert waren; II) großer Personalmangel und äußerst prekäre Arbeitsbedingungen; III) das Fehlen einer guten Koordination mit den Gesundheitsdiensten, was dazu führte, dass das Recht der Bewohner*innen auf Gesundheitsversorgung verletzt wurde; und IV) ein demografisches Profil mit einer großen Gefährdung, schwer an Covid-19 zu erkranken.
  • Die Unsichtbarkeit der Öffentlichen Gesundheit: Die epidemiologische Überwachung übertragbarer Krankheiten ist nicht die einzige Aufgabe der Öffentlichen Gesundheitsdienste, auch wenn sie häufig vor allem deshalb in die Medien und das Zentrum der öffentlichen Meinung katapultiert werden (Schweinegrippe 2009, Ebola 2014, Corona 2020). Während der Pandemie beschränkte sich die Reaktion der Öffentlichen Gesundheit ausschließlich auf die epidemiologische Überwachung – und das in einer Situation, in der sowohl hinsichtlich der Anzahl der Fachkräfte, die mit diesen Aufgaben betraut sind, als auch der Informationssysteme der Öffentlichen Gesundheit ein großer Verbesserungsbedarf bestand. Ihr fehlten die notwendigen Mittel, um sich auf die hohen Anforderungen einer Situation wie dieser einzustellen.

All dies wurde dadurch erschwert, dass wirksame Maßnahmen fehlten, die soziale Gesundheitsfaktoren im Blick hatten. Die Steigerung der Einkommen für die am stärksten gefährdete Bevölkerung und die Sicherung ihrer Einnahmen bzw. ihrer Beschäftigung oder die Garantie des Zugangs zu einem würdevollen Wohnraum hätten das Gesundheitsniveau der Bevölkerung verbessert und den Menschen angesichts der Pandemie die bessere Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen ermöglicht (Lockdowns, Quarantäne, Isolation usw.). Dennoch spielten solche Maßnahmen im Handeln der Regierung kaum eine nennenswerte Rolle, sodass – mit sehr überschaubaren Ausnahmen und einer verbesserungswürdigen Reichweite wie bei der Einführung eines Minimaleinkommens oder der partiellen Aussetzung von Wohnungskündigungen während des Ausnahmezustands – nur minimale politische Eingriffe vorgenommen wurden, um die Auswirkungen der Coronakrise auf die sozialen Ungleichheiten im Gesundheitsbereich abzudämpfen. Die Pandemie hat die Ungleichheit nicht nur in finanzieller Hinsicht verschärft, sondern auch im Bereich der Gesundheit.

Wege zum Wiederaufbau: Die Herausforderungen für das spanische öffentliche Gesundheitswesen mit Blick auf 2030

Aus den genannten Punkten ergeben sich einige Herausforderungen, vor denen das öffentliche Gesundheitswesen mit Blick auf 2030 steht – wobei einige davon auch über den Gesundheitsbereich hinausreichen. Am wichtigsten ist dabei die Garantie eines angemessenen Budgets, was nur mit einer progressiven und ausreichenden Besteuerung möglich sein wird, um die öffentlichen Dienste zu finanzieren. Im Vergleich mit den umliegenden Ländern liegen die öffentlichen Gesundheitsausgaben (anteilig am BIP) in Spanien leicht über dem europäischen Durchschnitt (nach Daten von 2019 bei rund 6,2 Prozent des BIP). Das entspricht dem Niveau von Ländern wie Italien, liegt aber unter dem Schnitt anderer Länder mit einem vergleichbaren Gesundheitswesen wie beispielsweise Schweden, wo die öffentlichen Gesundheitsausgaben mehr als 8,5 Prozent des BIP betragen, oder Großbritannien, wo der Anteil bei 7,9 Prozent liegt.

Auf dieser Grundlage und weil es notwendig ist, eine Zukunft abzuwenden, die sich aktuell vor dem Hintergrund einer dreifachen Herausforderung abzeichnet – in demografischer, ökologischer und soziopolitischer Hinsicht, charakterisiert durch die Ungleichheit –, sollten drei Aspekte besondere Beachtung finden: die Stärkung der unsichtbaren Aspekte des Systems, die zentrale Bedeutung von Orten der Koordination und die Notwendigkeit flexibler Mechanismen für die Gesundheitsversorgung.

Was die Stärkung der unsichtbaren Aspekte des Systems angeht, hat die Coronakrise gezeigt, dass die Stärke der öffentlichen Gesundheitsdienste in Spanien etwas ist, das jederzeit einen Mehrwert schafft, jedoch erst angesichts einer großen Krise seine wahre Bedeutung offenbart. Daher ist es wichtig, diese Mechanismen sowohl in finanzieller als auch in politischer Hinsicht abzuschirmen und mit den erforderlichen Humanressourcen auszustatten, damit sie nicht nur auf Erwartetes, sondern auch auf Unerwartetes reagieren können.

Zweitens sei daran erinnert, dass die europäischen Mittelmeerländer zwar einerseits die Listen hinsichtlich der Lebenserwartung anführen, in den Listen in Bezug auf einen guten Gesundheitszustand über 65 Jahren allerdings eher im Mittelfeld liegen. In einer Welt, in der chronische Krankheiten die Norm sind und die Bevölkerung zwar immer älter wird, aber dementsprechend mehr Jahre mit einer Krankheit oder Behinderung lebt, präsentiert sich die Stärkung der Primärversorgung als zentrale Aufgabe des Systems, um auf Veränderungen im epidemiologischen Muster zu reagieren. Dabei sollte die Primärversorgung nicht nur eine Versorgungsstelle, sondern vor allem auch Referenzpunkt, Koordinationsort und leitende Instanz für die Betreuung sein, die eine Person im Laufe ihres Lebens erhält, und zwar in Verbindung mit dem Kontext ihrer Gemeinschaft und ohne dass Duplikate oder blinde Flecken bei den restlichen gesellschaftlichen Akteur*innen entstehen.

Und nicht zuletzt hat die Pandemie gezeigt, wie wichtig es ist, über resiliente Gesundheitssysteme zu verfügen, die handlungsfähig sind und nicht nur auf Gewohntes reagieren, sondern sich auch innerhalb kurzer Zeit so umstellen können, dass auch das Unerwartete gemeistert werden kann. Das muss sich auch in der Form niederschlagen, wie die Gesundheitsdienste aufgefasst, gestaltet und strukturiert werden. Nur so können sie sich zu Gesundheitszentren entwickeln, die sich strukturell an die Bedürfnisse anpassen. Beispielsweise kann die Verdreifachung der Intensivbetten, wie sie im März und April in einigen Autonomen Gemeinschaften stattgefunden hat, beim nächsten Mal nicht wieder ein improvisierter Plan sein.

Das öffentliche Gesundheitswesen in Spanien, einst das Juwel der Sozialschutzsysteme des Staates, hat eine schwere Krise erlitten, die zuvor verborgene Defizite verschärft hat, und musste in seinem schwierigsten Moment der Coronapandemie trotzen. Das nächste Jahrzehnt wird zeigen, ob es mit Diensten, die sich auf die Versorgung der am stärksten Benachteiligten konzentrieren, erneut zur sozialen Umverteilung beitragen kann – oder ob das Gegenteil der Fall ist und es weiter Ungleichheiten reproduziert und die Gunst der Mehrheit der Bevölkerung verliert.

[1] Grundsätzlich gibt es in Europa zwei Arten von Gesundheitssystemen: Nationale Gesundheitssysteme (zum Beispiel in Großbritannien, Spanien, der Schweiz) und Sozialversicherungssysteme (zum Beispiel in Deutschland, Frankreich). Jedes dieser beiden Systeme verfügt dabei über eigene charakteristische Eigenschaften, die allerdings auch bis zu einem gewissen Grad abweichen können.

[2] Mit „Öffentlicher Gesundheit“ meinen wir den Teil des Gesundheitswesens, der für Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge und -förderung sowie des Gesundheitsschutzes zuständig ist (unter anderem epidemiologische Überwachung, Ernährungssicherheit, Programme zur Gesundheitsförderung, Ausarbeitung von Maßnahmen gegen den Alkohol- und Tabakkonsum).