Rotes Kopenhagen

Analyse der dänischen Kommunalwahlen

24.11.2021
Reinout Bosch

Riesiger Erfolg für die Linke in Dänemark: Die Rot-Grüne Einheitsliste holt in Kopenhagen ein Viertel der Stimmen. Im Rest des Landes haben die Kommunalwahlen leichte Zugewinne für die Linke ergeben, während die regierende sozialdemokratische Partei in den vier größten Städten schwere Verluste hinnehmen musste. Im Kampf um die rechtsextremen Wählerstimmen zwischen der Dänischen Volkspartei und der neueren Partei der Neuen Rechten verzeichnete die erstere größere Verluste als die letztere Gewinne. Insgesamt zog die Konservative Volkspartei den längsten Strohhalm und ging aus den Wahlen als stärkste Partei hervor. Dies zementiert die sich abzeichnende Position der Partei als führende Partei der Rechten.

Im Vorfeld der am 16. November abgehaltenen Kommunal- und Regionalwahlen in Dänemark stand für die sozialdemokratische Regierung viel auf dem Spiel. Wie immer bei Wahlen ist es mitunter schwierig, zwischen lokalen und nationalen Themen zu unterscheiden. Als sich die dänische Bevölkerung zum Urnengang anschickte, sah sie sich mit einer Situation konfrontiert, in der genauso gut vorgezogene nationale Neuwahlen hätten stattfinden können. Dies erscheint angesichts des Ergebnisses nun unwahrscheinlich.

Zu Sommerbeginn stand die sozialdemokratische Regierung von Ministerpräsidentin Mette Frederiksens gut da, da sie den Corona-Lockdown besser bewältigt hatte als die meisten ihrer europäischen Amtskolleg*innen. Eine harte Haltung zur Immigration in Verbindung mit einer Rückkehr zur keynesianischen Wirtschaftslehre hielt die rechte Opposition in Schach. Die mit internen Querelen beschäftigten größten Parteien des Blocks, die Mitte-Rechts-Partei der Liberalen (Venstre) und die rechtsextreme Dänische Volkspartei, hatten beide in der Öffentlichkeit mit Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen. An ihrer Stelle ist die Konservative Volkspartei, die im letzten Vierteljahrhundert ein Juniorpartner war, emporgestiegen, während die noch weiter rechts stehende Neue Rechte sich allmählich zur führenden Stimme des fremdenfeindlichen Nationalismus im Königreich entwickelt.

Während der Pandemie gewannen die linken Parteien – die Sozialistische Volkspartei und die Rot-Grüne Einheitsliste – langsam an Boden, was sowohl auf den Zusammenbruch der grünen Partei Die Alternative als auch auf Fehltritte der Regierung zurückzuführen war. Die Sozialdemokraten waren durch den ungeschickten Umgang mit internen Angelegenheiten, die mit der Zwangsschließung der Nerzpelzindustrie während der Pandemie zusammenhingen, beschädigt. Infolgedessen begann die Unterstützung für die Regierung zu bröckeln. 

Pflegepersonal und Lehrkräfte

Es wurde erwartet, dass diese politischen Veränderungen auf nationaler Ebene sich in den Kommunalwahlen niederschlagen würden, auch wenn lokale Themen die Gesamtsituation natürlich relativieren würden. Mit der Übernahme der Kritik der Rechtsextremen an Migrant*innen ist es den Sozialdemokraten gelungen, das Einwanderungsthema von der beherrschenden Position zu verdrängen, die es in allen Debatten der letzten Jahrzehnte einnahm. Angesichts der großzügigen Subventionen während der Lockdowns wandte sich das öffentliche Interesse bei dieser Wahl wieder anderen sozialpolitischen Fragen zu. Dabei standen sowohl der Zustand des Gesundheitssystems als auch die Regelung der Kinderbetreuung im Mittelpunkt. Beide Themen stehen im Zusammenhang mit Personalbeschaffungsproblemen und damit verbundenen Konflikten um die niedrige Bezahlung von Pflege- und Lehrkräften. Diese Fragen waren in den letzten Jahren auf nationaler Ebene Streitpunkte, aber bei den Wahlen am 16. November erhielten beide einen herausragenden Stellenwert, da die Kinderbetreuung in die Zuständigkeit der Gemeinden und das Gesundheitswesen in die Zuständigkeit der Regionen fällt.

Das Endergebnis

Als klare Verlierer gingen die Sozialdemokraten aus der Wahl hervor, die in vielen Gemeinden Verluste einfuhren. Vor allem in den vier größten Städten wurde die Partei hart getroffen und musste einen Stimmenrückgang von etwa 10 Prozent hinnehmen.

Der Positionstausch zwischen den wichtigsten bürgerlichen Parteien auf nationaler Ebene war bei dieser Wahl deutlich zu erkennen. Die Liberale Partei erzielte dank der Stimmenverluste bei den Sozialdemokraten ein akzeptables Wahlergebnis. Die großen Gewinner waren jedoch eindeutig die Konservativen, die in fast allen Teilen des Landes neue Stimmen hinzugewannen.

Weiter rechts zeigte sich das gegenteilige Szenario. Die krisengebeutelte Dänische Volkspartei verlor die Hälfte ihrer Sitze und verzeichnete in allen 98 Gemeinden Verluste. Dies war zum Teil auf die Konkurrenz der noch weiter rechts stehenden Neuen Rechten zurückzuführen, für die dies die erste ernsthafte kommunale Wahlherausforderung war. Der Neuen Rechten ist es nicht gelungen, alle abgewanderten Stimmen auf sich zu vereinen: Sie konnte ihre lokalen Mandate um 63 erhöhen, während die Dänische Volkspartei 133 Sitze abgeben musste.

Aus rot wird röter

In der Hauptstadt war ein deutlicher Linksruck zu beobachten. Kurioserweise besteht die Stadt aus zwei Gemeinden. Die Stadt Kopenhagen, deren 800.000 Einwohner*innen die Bürgermeisterkette seit einem Jahrhundert an die Sozialdemokraten vergeben haben, und eingeschlossen in ihrer Mitte die viel reichere Gemeinde Frederiksberg, in der die Konservative Volkspartei die gleiche Vormachtstellung genießt. Am Vorabend der Wahl waren beide Hochburgen in Gefahr.

Im eigentlichen Kopenhagen stellte die Rot-Grüne Einheitsliste die größte Herausforderung dar. Da sie bereits die zweitgrößte Partei der Stadt war und bei den Parlamentswahlen 2019 die meisten Stimmen erhielt, war sie zuversichtlich, dass dies ihre Chance war, in der Stadt die Mehrheit zu erlangen.

Die Partei hatte Line Barfod, eine angesehene ehemalige Abgeordnete, zur zentralen Figur ihres Wahlkampfs gemacht. Die Sozialdemokraten hingegen mussten auf die weniger bekannte Sofie Hæstorp setzen, die als Hauptkandidatin aufgestellt wurde, als der ehemalige Oberbürgermeister Frank Jensen aufgrund eines MeToo-Skandals zurücktreten musste. Seine ungeschickte Art, sich zu entschuldigen - “Nachdem ich Teil des Problems war, möchte ich Teil der Lösung werden” (TV2 Lorry, 17. Oktober 2020) - wurde zum Sinnbild für den allgemeinen Umgang der Partei mit Fehlern.

Es ist schwer einzuschätzen, wie viel der Rücktritt des Oberbürgermeisters und des stellvertretenden Parteivorsitzenden die Sozialdemokraten gekostet hat, aber es ist klar, dass dies nur ein weiteres Beispiel für den Machtmissbrauch war, für den die Ministerpräsidentin bis zu den Wahlen in der Kritik stand.

In Frederiksberg kandidierte der ehemalige Abgeordnete der Partei und Schattenkanzler, Pelle Dragsted, für einen Sitz. Die Wähler und Wählerinnen belohnten diesen Schritt mit einem Anstieg der für die Partei abgegebenen Stimmen auf 17,5 Prozent (um 5,4 Prozentpunkte). Dieser massive Zuwachs, der die Partei zur zweitstärksten in der Gemeinde machte, sorgte zusammen mit gutem politischem Geschick dafür, dass das Bürgermeisteramt in der bis dahin als konservatives Kronjuwel bekannten Gemeinde an die Sozialdemokraten ging.

Erschwinglicher Wohnraum und eine grünere Stadt

In Kopenhagen stand die die räumliche und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt im Mittelpunkt der politischen Debatte. Eine allgemeine Wohnungskrise hat die Mietpreise in die Höhe getrieben, wofür das amerikanische Kapital durch das Verhalten der Blackstone-Entwicklungsgesellschaft [1] (im Besitz von Goldman Sachs) in der Öffentlichkeit als der Hauptübeltäter wahrgenommen wird. Seit einem Jahrzehnt versuchen die Sozialdemokraten, eine Lösung zu finden, die jedoch jedes Mal entweder am Widerstand der Öffentlichkeit scheiterte oder unbrauchbar war, da ihre Strategie auf den Markt setzt.

Dann zauberten Oberbürgermeister Frank Jensen und der damalige Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen (Venstre) im Herbst 2018 eine Lösung aus dem Hut: Eine riesige Insel im Hafen, auf der Wohnraum für 35.000 Menschen entstehen soll. Die Finanzierung dieses Vorhabens soll über dieselbe Schiene laufen, auf der die Entwicklung der Stadt seit Jahren vorangetrieben wird: Aufnahme von Krediten für große Infrastrukturprojekte und Rückzahlung der Kredite durch den Verkauf städtischer Grundstücke an den Meistbietenden. Kritikern zufolge war es genau diese Politik, die Kopenhagen überhaupt erst in diese Immobilienschieflage gebracht hatte.

Lynetteholmen, wie die Phantasie-Insel genannt wurde, stieß von Anfang an auf Kritik, sowohl aus demokratischer und wirtschaftlicher Sicht als auch seitens Umwelt- und Klima-NGO. Letztere befanden sich zugleich in einem weiteren Konflikt mit den Sozialdemokraten über eine andere wohnungspolitische Frage, nämlich den Vorschlag der Mehrheit im Stadtrat, im Amager Fælled, dem größten Park Kopenhagens, Wohnungen zu bauen. Beide Themen sind mit Diskussionen über Wohnen, Klima und Umwelt verknüpft, eine Kombination, die die Linke gestärkt hat.

Tektonische Verwerfungen

Die Veränderungen in der Hauptstadt sind die Folge eines demografischen Wandels, der schon seit einiger Zeit vonstattengeht. Infolge der steigenden Wohnungspreise wurden Arbeiterfamilien, die stark mit den Sozialdemokraten verbunden sind, aus der Stadt verdrängt und eine reichere demografische Gruppe mit Hochschulbildung nahm ihren Platz ein. Das eigentliche Bürgertum lebt in der Regel nicht in der Hauptstadt, sondern konzentriert sich in den angrenzenden Gemeinden, wo die Steuern niedriger sind. Dadurch entsteht Raum für die liberalen Stimmen, die sich auf die verschiedenen sozialistischen Parteien und die Sozialliberalen verteilen. In einem kalkulierten Versuch, mehr nationale Zustimmung zu erhalten, haben sich die Sozialdemokraten auf Landesebene für Fremdenfeindlichkeit geöffnet und den ländlichen Raum gegenüber der Hauptstadt begünstigt. Das kam ihnen bei diesem dominanten Teil der Wählerschaft teuer zu stehen.

Der Stern der Sozialdemokraten in Kopenhagen ist zwar im Sinken begriffen und ein viel roterer steigt auf, aber das hat keinen Einfluss auf das Oberbürgermeisteramt. Obwohl die Rot-Grüne Einheitsliste stärkste Partei geworden ist, genießt sie außerhalb ihrer eigenen Reihen nur wenig Unterstützung. So kam es zu einer Einigung zwischen den Sozialdemokraten und den rechtsgerichteten Parteien, dank der die Sozialdemokraten die Rathausschlüssel erhielten.

Beachtliche Ergebnisse

Auf der Insel Bornholm (40.000 Einwohner*innen) spielte sich eine ganz eigene Erfolgsgeschichte ab. Ein katastrophaler Gemeindehaushalt, der von den regierenden Sozialdemokraten und der Liberalen Partei durchgesetzt wurde, resultierte in Kürzungen bei den Sozialleistungen und gleichzeitig in Investitionen in ein neues Rathaus zum stolzen Preis von 150 Millionen DKK (20 Millionen Euro). Morten Riis, Mitglied der Rot-Grünen Einheitsliste und stellvertretender Bürgermeister der Insel, der mit diesen Abmachungen nichts zu tun hatte, wurde zum Gesicht der Opposition. Dass er einige Jahre lang dem Stadtrat angehörte, von der Insel stammt, einen Hintergrund in der Arbeiterklasse hat und dort Unterstützung genießt und eine Woche als Bürgermeister fungierte, all das trug zu seinem Popularitätsanstieg bei. In einem Umfeld mutmaßlich doppelzüngiger Politiker wurde er als vertrauenswürdiger Kandidat wahrgenommen. Die Wählerinnen und Wähler gaben der Rot-Grünen Einheitsliste 23,1 Prozent der Stimmen (plus 16,8 Prozentpunkte). Genau wie in Kopenhagen führte dies nicht zu einer direkten politischen Machtübernahme durch die Linke. Auf der Insel wie in der Hauptstadt erschien ein linker Kandidat zu beängstigend. Stattdessen gewannen die Konservativen ein weiteres Bürgermeisteramt

Während die Rot-Grüne Einheitsliste noch nie ein Bürgermeisteramt innehatte, besetzt die Sozialistische Volkspartei seit vielen Jahren wechselnde Positionen. Bei dieser Wahl behielten sie ihren einzigen Bürgermeister auf Langeland, wobei sie ein Drittel der Stimmen auf der 12.000 Bewohner*innen zählenden Insel gewannen.

Über den Autor

Reinout Bosch lebt als Sozialarbeiter in Kopenhagen. Er ist einer der Initiatoren des Institute for Marxist Analysis und Vorstandsmitglied im Kopenhagener Ortsverband der Rot-Grünen Einheitsliste. Vor kurzem hat er ein Buch über den historischen Materialismus im Zeitalter der Postmoderne auf Dänisch veröffentlicht.

[1] Inzwischen hat das Unternehmen seinen Namen in Dänemark in Kereby (“Care City”) geändert, in dem verzweifelten Versuch, das ihm anhaftende negative Stigma loszuwerden (www.dr.dk/nyheder/penge/blackstones-danske-afdeling-skifter-navn-ry-som-vaemmelig-boligspekulant-skal-pudses 25. November 2019).