„Durch Militarisierung wird der Frieden nicht gesichert“

Anna Schröder im Gespräch mit MdEP Özlem Demirel

21.03.2022

Der russische Überfall auf die Ukraine stellt viele politische Gewissheiten in Frage, auch für die europäische Linke. Kann man angesichts dieses völkerrechtswidrigen Krieges weiterhin für Abrüstung plädieren? Braucht Europa vielleicht doch eine eigene Armee? Und wie soll es zukünftig Frieden mit Russland geben? Über diese und andere brennende Fragen sprach Anna Schröder, Büroleiterin der RLS in Brüssel, mit Özlem Demirel, die seit 2019 im Europaparlament für die Linke sitzt.

Anna Schröder: Die europäische Staats- und Regierungschefs haben sich Mitte März auf einem Gipfel in Versailles getroffen und über die geplante Militärstrategie der EU, den „strategischen Kompass“, gesprochen. Wie beurteilst du die Ergebnisse des Gipfels?

Özlem Demirel: Die Verhandlungen um den sogenannten strategischen Kompass sind älter als der Krieg in der Ukraine. Es geht darum, wie EU-„Interessen“ strategisch autonom in der Außenpolitik umgesetzt werden können. Bereits 2016 wurde festgehalten, dass die EU in der Lage sein muss, wichtige Handelsrouten und Seewege im eigenen Interesse zu sichern – zur Not auch militärisch. Nach der Ankündigung, dass Großbritannien aus der EU austritt, wurde mit Pesco (Anmerkung der Red. „Permanent Structured Cooperation“) – das Herzstück für die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik – eine entscheidende Weiche gestellt. Der strategische Kompass bettet die Zielsetzung, die bereits geschaffenen Instrumente und weiterhin noch „benötigter“ militärischer Kapazitäten in eine Gesamtstrategie für die EU ein. Das zu Grunde liegende Bekenntnis ist deutlich: Die EU ist gut gerüstet und eine eigenständige Macht in einer Zeit der großen Rivalität unter den Weltmächten.

Auf dem Gipfeltreffen wollte man sich jetzt eher nochmal gegenseitig versichern, dass alle geschlossen hinter dieser neuen militärischen Sicherheitsstrategie stehen. Denn tatsächlich ist mit dem Ukraine-Krieg nochmals die Diskussion darüber aufgekommen, welche Rolle die NATO in dieser Konstellation spielen soll. Während ganz besonders Frankreich darauf drängt, unabhängig von der NATO – also den USA – eigene militärische Fähigkeiten auszubauen und strategische Interessen zu definieren, bestehen insbesondere die osteuropäischen Staaten auf Kontinuität und damit eine engere Anbindung an die USA.

Deutschland wiederum will die eigene Rüstungsindustrie mit der strategischen Autonomie stärken und da es nur über die USA Zugang zu Atomwaffen hat, anders als Frankreich, nicht den allzu offenen Bruch mit der NATO. Hinter den Kulissen gab es lange Verhandlungen darüber, inwiefern französische Atomwaffen auch Deutschland zur Verfügung gestellt werden können. Man muss dazu sagen, dass Deutschland mit Abstand die stärkste ökonomische Macht in der EU ist und sich nicht in eine allzu große Abhängigkeit zu Frankreich bringen möchte.

Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine haben bekanntermaßen die NATO und auch die transatlantischen Kräfte in der EU und in Deutschland Oberwasser bekommen. Daher sind entsprechende Passagen in dem Dokument angepasst worden, so dass Gesamtstrategie und Instrumente nun im Einklang mit der NATO, deren Kapazitäten ergänzend, ausgebaut werden sollen. Durch den Krieg wird der Abstimmungsprozess unter den EU-Mitgliedsstaaten, der zunächst schwierig schien, beschleunigt.

Anna Schröder: Wird der Überfall auf die Ukraine als Vorwand genutzt, eine Militarisierung der EU unter deutsch-französischem Vorzeichen voranzutreiben?

Özlem Demirel: Ja, weil hier massiv aufgerüstet wird und der Krieg und das Leid der Ukrainer*innen nun dafür genutzt werden, in schnelleres, intelligenteres, kampfkräftigeres Kriegsgerät der neuesten Generation zu investieren.

Der Vorstoß der Bundesregierung ist uns allen bekannt. Aber auch woanders wird massiv aufgerüstet. Das vermeintlich neutrale Österreich will die Militärausgaben um etwa 40 Prozent und Polen um 30 Prozent erhöhen. Beides liegt deutlich über dem 2 %-Ziel der NATO. Dazu ist Dänemark nun offiziell Teil der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Lettland und Litauen haben schon Anfang März eine Erhöhung ihrer Verteidigungshaushalte auf mindestens 2,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts beschlossen. Frankreich kündigt unterdessen „historische Entscheidungen“ an – insbesondere im Hinblick auf „die Verstärkung von Investitionen in die Verteidigung“ im Rahmen seines Militärprogrammierungsgesetzes an.

Die Geschwindigkeit, mit der all dies jetzt geschehen konnte, zeigt deutlich, dass hier nichts ad-hoc ausgedacht und beschlossen wurde. Es geht um Aufrüstungsprogramme, die lange vorbereitet in den Schubladen lagen und für die man nun die Gunst der Stunde nutzt. Ohne den Krieg in der Ukraine wäre ihre Durchsetzung sehr viel schwerer gefallen. Aus der Geschichte von zwei Weltkriegen heraus gibt es starke Vorbehalte in der Bevölkerung gegen Militarisierungstendenzen in Europa und Deutschland.

Der Ukraine-Krieg hat nun viele Menschen verunsichert und das ist die Gelegenheit, die man nutzt. Dem Sicherheitsbedürfnis der Völker in Europa erweist man damit aber einen schlechten Dienst. Durch Militarisierung wird der Frieden nicht gesichert, sondern es werden kommende Kriege vorbereitet. Abgesehen davon, dass Milliarden Euro fehlen werden bei sozialen Projekten. Die gewaltigen Kosten werden die arbeitenden Menschen erwirtschaften müssen, diese Hochrüstung wird auf dem Rücken der Arbeiter*innen finanziert werden.

Die EU-Mitgliedstaaten haben bereits vor dem Ukraine-Krieg und ganz ohne die USA rund viermal so viel für die eigenen militärischen Fähigkeiten ausgegeben als Russland. Deutschland macht sich jetzt auf den Weg, den weltweit drittgrößten Militäretat zu verabschieden, hinter den USA und China.

Anna Schröder: Der ukrainische Präsident Selenskyj fordert eine sofortige Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union. Auch Moldawien und Georgien haben inzwischen Beitrittsanträge gestellt. Wie glaubwürdig sind diese Anträge und die Reaktionen darauf? Was würde ein Beitrittsprozess bedeuten und was könnte sich dadurch ändern?

Özlem Demirel: Dass diese Anträge gestellt wurden, ist eine Tatsache und sie sind sicher ernst gemeint. Ganz offensichtlich ist aber auch, dass die EU zwei sich widersprechende Narrative verbreitet: Einerseits heißt es, die Ukrainer*innen kämpften in diesem Krieg auch für „unsere“ Werte. Andererseits betont die EU, dass der Beitritt der Ukraine ein langer Weg werden wird. Die Selenskyj-Regierung wird also hochgepriesen, damit sie motiviert weiterkämpft. Gleichzeitig dämpft man schon mal vorsorglich die Erwartungen. Selenskyj hat mehrmals durch die Blume deutlich gemacht, dass er sich auf die militärische Neutralität – also den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft – einlassen könnte, dafür aber gerne die Aufnahme der Ukraine in die EU hätte.

Die EU aber ziert sich, insbesondere Deutschland und Frankreich. Die osteuropäischen Staaten sind stark verbunden mit und abhängig von den USA. Die Ukraine wäre in dieser Hinsicht eine weitere Baustelle für die führenden Länder Deutschland und Frankreich. Hinzu kommt, dass die Ukraine nach dem Krieg ein zerstörtes Land sein wird, das wiederaufgebaut werden muss. Zudem hat das Land ein politisches System, das sehr direkt von mächtigen Oligarchen dominiert ist. Immer wieder gab es Stellungnahmen aus der EU, die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Korruption gerügt haben.

In diesem Krieg ist der zerstrittene Westen – und damit meine ich insbesondere USA, Frankreich und Deutschland – zwar wieder näher zusammengerückt, aber die Widersprüche zwischen den USA auf der einen und Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite haben sich nicht in Luft aufgelöst. Im Gegenteil, so überraschend schnell man für den Augenblick die Reihen geschlossen hat, sind doch bereits kleine Risse in dieser neuen Eintracht zu sehen. Ein Beispiel: Während die USA China für seine Enthaltung in der UN-Vollversammlung isolieren wollten, haben Deutschland und Frankreich mit China vereinbart, gemeinsam einen Waffenstillstand zu vermitteln.

Alles in allem hängt also eine EU-Mitgliedschaft insbesondere auch davon ab, inwiefern die Ukraine und ihr Oligarchensystem sich den technischen und wirtschaftlichen, also den freien Marktregeln der EU anpasst. Andernfalls wäre ich nicht überrascht, wenn der Beitritt der Ukraine letztlich ähnlich gehandhabt würde wie der der Türkei – also mit Beitrittsverhandlungen, die sehr, sehr lang hingezogen werden. Aktuell sind sie sogar eingefroren, werden aber durch diverse Unterstützungsleistung der EU irgendwie am Leben gehalten. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass dies geopolitisch beidseitig von Vorteil ist.

Anna Schröder: Viele stellen sich gerade die Frage, wie die Linke auf den brutalen Krieg in der Ukraine reagieren und die ukrainische Zivilbevölkerung unterstützen kann. Welche konkreten Vorschläge kann die Linke machen, um die russische Regierung zu stoppen?

Özlem Demirel: Allen voran die eigene Bevölkerung kann die russische Regierung stoppen, nicht der Westen – es sei denn, der greift militärisch in den Konflikt ein. Das aber wäre ganz offiziell der Beginn eines Dritten Weltkriegs. Deshalb brauchen die Menschen in Russland jetzt unsere volle Solidarität. Die Verbannung russischer Kunst und Kultur im Westen ist schon aus diesem Grund der völlig falsche Weg. Viele Russ*innen begreifen die Ukrainer*innen als Brudervolk, gegen das Russland keinen Krieg führen sollte.

Man darf allerdings auch nicht verschweigen, dass dieser Krieg zwei Ebenen hat: zum einen der Angriffskrieg des Putin-Regimes, den ich ganz eindeutig verurteile. Russland muss seine Truppen unverzüglich aus der Ukraine zurückziehen. Und die zweite Ebene: der Machtkampf zwischen der NATO (USA und EU) auf der einen und Russland auf der anderen Seite.

Das heißt, eigentlich ist die Ukraine auch zum Kriegsschauplatz wegen des Machtkampfes dieser imperialen Kontrahenten geworden. Im Hinblick auf die Ukraine-Politik der NATO muss man darauf bestehen, dass der Krieg nicht angeheizt und verlängert werden darf. Was wir brauchen, ist ein sofortiger Waffenstillstand und dann eine politische Lösung des Konflikts. Wie auch immer die gefunden wird, darf sie nicht über die Köpfe der Ukrainer*innen hinweg verhandelt werden. Die Bevölkerung in der Ukraine muss selber mitbestimmen können. Eine Lösung muss natürlich auch den dauerhaften Frieden in der Ukraine selbst einschließen, denn dort findet seit Jahren ein Bürgerkrieg mit einem Teil des mehrheitlich russischsprachigen Donbass statt.

Die Linke muss hier deutlich machen, dass wir nicht wollen, dass auf dem Rücken der Völker blutige Kriege ausgetragen werden. Die Linke muss auch deutlich machen, dass der Machtkampf zwischen den Imperialisten – also Russland auf der einen und die NATO (EU, USA) auf der anderen Seite – nicht auf unserem Rücken ausgetragen werden darf.

Anna Schröder: Du hast die Waffenlieferungen der EU an die Ukraine, finanziert aus der Europäischen Friedensfazilität, als einen Tabubruch scharf kritisiert. Was bedeuten Waffenlieferungen an die Ukraine, weshalb lehnst du sie ab und was erhofft sich die EU von ihnen?

Özlem Demirel: In einen asymmetrischen Krieg Waffen zu liefern, aber gleichzeitig zu erklären, man werde nicht militärisch eingreifen, klingt für mich perfide. Übrigens werden hier nur alte Waffenbestände abgebaut, während man selbst mit Kriegsgerät 5.0 aufrüstet.

Es liegt auf der Hand, dass weder diese Waffenlieferungen noch die Sanktionen, inklusive Swift-Ausschluss, das Kriegsgeschehen entscheidend beeinflussen werden. Den Treibstoff für seine Panzer muss Russland nicht im Ausland einkaufen und Russland ist eine Militärmacht. Es muss uns klar sein, dass es in diesem Krieg keine militärische Lösung gibt, sondern nur eine politische. Wir müssen politisch den Druck für einen Waffenstillstand erhöhen und eine Lösung am Verhandlungstisch fordern. Das forderten die Ukrainer*innen übrigens auch. Denn der Krieg wird keine Lösung bringen, sondern nur Tod und Leid vergrößern.

Der Tabubruch ist nicht erst jetzt geschehen. Die so genannte „Friedenfazilität“ ist als Kriegskasse konzipiert und im letzten Jahr offiziell angelaufen. Hieraus werden für eine Milliarde Euro Waffen gekauft und an die Ukraine exportiert werden. Auch diese Waffen werden an dem militärischen Kräfteverhältnis nichts ändern, aber jede Waffe wird den Krieg verlängern und den Blutzoll erhöhen. Je länger der Krieg dauert, umso mehr Menschen werden sterben oder aus ihrer Heimat vertrieben. Krieg ist immer eine Rechnung mit Blutzoll. Mir scheint das Kalkül hinter den Waffenlieferungen zu sein, dass sie die Kriegskosten für Russland in die Höhe treiben und dem Land ein zweites Afghanistan bescheren wollen.

Ich kann es sehr gut nachvollziehen, wenn auch in der Bevölkerung im Westen die Emotionen gegen das Putin-Regime hochkochen, aber niemandem darf es erlaubt sein, mit dem Blut der Ukrainer*innen den Machtkampf zwischen dem Westen und Russland zu betreiben.

Anna Schröder: Viele haben nicht so schnell mit einem Krieg gerechnet und wurden vom Angriff Putins überrannt. Die Linke in Europa scheint an einem Scheideweg. Die linken Abgeordneten im Europaparlament haben unterschiedlich zur Resolution zum Ukraine-Krieg Anfang des Monats abgestimmt, Du warst dagegen, die Mehrheit dafür. Was waren die entscheidenden Punkte?

Özlem Demirel: Den Passagen mit der Verurteilung des Angriffskriegs habe ich zugestimmt. Doch wie auch in Deutschland wird der Krieg in der Ukraine missbraucht, um die Militarisierung der EU voranzubringen. Gleichzeitig zeigt dies, dass wir gerade eine Zäsur erleben, nach der Krieg als Mittel der Politik Normalität werden soll. Das erhöht nicht unsere Sicherheit. Dem muss man sich entgegenstellen. Militarismus geht übrigens auch immer einher mit einem Abbau der liberalen Demokratie, auch darauf müssen wir uns vorbereiten.

Anna Schröder: Im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim hatte die Linke die Auflösung der NATO gefordert und stattdessen für ein gesamteuropäisches kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands votiert. Ist dieser Vorschlag heute noch tragbar?

Özlem Demirel: Die Forderung nach der Auflösung der NATO gehörte schon vor der Annexion der Krim zur Linken Programmatik. Mit der Implosion der Sowjetunion hat die NATO ihren eigenen Gründungsmythos verloren und hätte damit spätestens zu Beginn der 1990er Jahre aufgelöst werden sollen – und zwar zugunsten einer neuen Sicherheitsarchitektur, die das neue Russland miteinschließt.

Dass die USA als die dominante Kraft in der NATO kein Interesse daran hat, erklärt sich von selbst. Die Frage, warum es Europa nicht geschafft hat, eine eigenständige Friedensordnung für den Kontinent zu schaffen, ist berechtigt. Gab es nicht sogar auch den Antrag Russlands, in die NATO integriert zu werden? Warum ist man darauf nicht eingegangen? Das sind interessante Fragen.

Die USA und die EU waren nämlich nicht bereit, auf wirtschaftliche und technische Forderungen Russlands einzugehen, die den Anteil westlichen Kapitals am russischen Markt beschränken und das eigene Kapital bedienen sollten. Es ging im Kern darum, dem sogenannten Westen den größten Anteil an den Strömen des globalen Kapitals zu sichern.

Linke müssen in dieser Situation die systemimmanenten ökonomischen Gründe für Krieg hinterfragen. Sie müssen gleichzeitig den Druck erhöhen, dass es nicht zu militärischen Eskalationen kommt, sondern politische und diplomatische Lösungen gefunden werden.

Wenn wir dem weiteren Aufrüsten ein Ende setzen wollen, dann wäre es sinnvoll, den Druck zu erhöhen, damit die europäischen Staaten – über die EU hinaus – sich um eben diese neue Sicherheitsarchitektur bemühen. Die OSZE stellt uns hierfür das Forum bereit.

Anna Schröder: In kürzester Zeit hat sich weltweit massiver Protest der Zivilgesellschaft gegen Putins Krieg formiert. Welche Aufgabe kommt der Friedensbewegung hier zu?

Özlem Demirel: Selbstverständlich sind die Menschen entsetzt über den Krieg und gehen deshalb auf die Straße. Und dennoch sind zu Beginn der Anti-Kriegs-Proteste auch ambivalente Forderungen zu hören gewesen. Während der Krieg verurteilt wurde, wurden nicht von allen die Aufrüstungsprogramme in Frage gestellt. Ich beobachte, dass sich dies langsam ändert und hoffe, dass hier eine klarere Linie gefunden wird.

An dieser Stelle sind die erfahrenen Menschen in der Friedensbewegung gefragt, klarzumachen, dass jegliche Militarisierung abzulehnen ist. Letztlich dient jede hergestellte Patrone dem Krieg und deshalb wird unsere Aufrüstung uns am Ende auch hierzulande treffen. Dies gilt es klarzumachen.

Anna Schröder: Welche Chancen bietet dieser Protest und welche Rolle sollten linke Parteien in Europa spielen?

Özlem Demirel: Wir, also linke Parteien in Europa und weltweit, müssen die Zäsur, von der ich gerade sprach, richtig lesen. Das heißt, dass wir unsere Analyse schärfen müssen. Dieser Krieg verdeutlicht, dass die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten größer geworden sind.

Übrigens gibt es noch weitere imperialistische Akteure und insbesondere der Machtkampf zwischen den USA und China um den Platz Eins als Weltmacht und die entscheidenden Absatzmärkte der Zukunft, die in Asien, sind hier noch gar nicht so vor Augen. Wir müssen klar kommunizieren, wo die tatsächlichen Interessen liegen. Und das heißt auch, zu benennen, dass die Freiheit der Ukraine, sowie Demokratie und Menschenrechte in der Argumentation und im Agieren der EU, lediglich als Feigenblätter herhalten müssen.

Es geht um nichts Anderes als Geopolitik – also Einfluss, um ökonomische und politische Macht. Wir müssen deutlich machen, dass wir innerimperiale Machtkämpfe auf unserem Rücken – also auf dem Rücken der armen und arbeitenden Menschen nicht dulden, wir müssen deutlich machen, dass wir Militarisierung und Kriege, die auf dem Blutzoll des einfachen Volkes aufgebaut sind, nicht akzeptieren. Wir müssen internationalistisches Verständnis und die herrschende internationale Politik aus der Klassenperspektive analysieren.

Özlem Demirel ist Mitglied des Europäischen Parlaments (DIE LINKE.). Sie ist unter anderem Vize-Präsidentin im Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europaparlaments. Webseite: https://oezlem-alev-demirel.de[1]

Anna Schröder ist Büroleiterin des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Links:

  1. https://oezlem-alev-demirel.de/