Die französischen Linken zwischen permanenter Neukomposition und Überlebenskampf

07.04.2022
Fabien Escalona

Seit etwa zwei Wochen durchleben die französischen Linken eine Zeit spektakulärer Neukompositionen. Seit dem Zusammenbruch der Sozialdemokratie hat es jedoch keine Kraft geschafft, sich dauerhaft als neuer dominierender Akteur zu etablieren. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2022 werden aus zwei Gründen von entscheidender Bedeutung sein: Alle Parteien sind auf der Suche nach einem besseren Kräfteverhältnis und viele von ihnen kämpfen um ihre Existenz.

Kurz vor den französischen Präsidentschaftswahlen im April 2022 kämpfen sechs linke Kandidat*innen um die Wählerstimmen. Seit fünf Jahren liegt das politische Gesamtgewicht des linken Spektrums, ungeachtet seiner internen Spaltungen, auf einem historisch niedrigen Niveau. Gleichzeitig ist festzustellen, dass dieses politische Spektrum anhaltend von einem radikaleren Zweig als die Sozialdemokratie dominiert wird, deren Dominanz definitiv der Vergangenheit angehören zu scheint.

Philippe Poutou und Nathalie Arthaud, die der „Nouveau parti anticapitaliste“ (NPA, Neue antikapitalistische Partei) bzw. der „Lutte ouvrière“ (LO, Arbeiterpartei) angehören, sind Vertreter einer extremen trotzkistischen Linken, die eine sehr kleine Minderheit darstellt. Fabien Roussel vertritt die „Parti communiste français“ (PCF, Französische kommunistische Partei), die fünfzehn Jahre lang keinen Kandidat*innen für diese Wahl gestellt hatte. Jean-Luc Mélenchon ist ein radikaler Linker, der vor fünf Jahren „La France insoumise“ (LFI, Das unbeugsame Frankreich) gegründet hat, aber lieber das Banner der „Union populaire“ (Volksunion) trägt. Er vereint die meisten prognostizierten Wählerstimmen im Vergleich zu allen anderen vorherigen Kandidat*innen, aber auch im Vergleich zu den beiden Mitte-Links-Vertretern: Yannick Jadot für „Europe Écologie-Les Verts“ (EELV, Europa Ökologie-Die Grünen) und Anne Hidalgo für die „Parti socialiste“ (PS, Sozialistische Partei).

Um diese Parteienlandschaft und die Herausforderungen der Wahl zu verstehen, muss man mindestens bis 2009 zurückgehen. In diesem Jahr ergriffen große Bewegungen das Spektrum der radikalen Linken und veränderten es nachhaltig. Das Jahrzehnt davor war von einer großen Fragmentierung der Linken geprägt gewesen. 2002 wurde der kommunistische Kandidat erstmals von zwei trotzkistischen Präsidentschaftskandidaten überholt (siehe Tabelle 1.1). Ohne Regierungserfahrung boten sie den Wählern, die von der Regierungspolitik des Sozialisten Lionel Jospin enttäuscht waren und der im ersten Wahlgang ausschied, eine Alternative. Aber es gab viele Kandidaturen, die weiter links als Jospin angesiedelt waren, ohne dass sich eine von den anderen abgehoben hätte.

2005 kam es zwar zu einer einheitlichen Dynamik durch die Mobilisierung gegen den Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE). Kommunisten, Trotzkisten, Globalisierungsgegner, aber auch sozialistische und grüne Dissidenten hatten eine erfolgreiche Kampagne für ein „Nein“ bei der von Präsident Jacques Chirac einberufenen Volksabstimmung durchgeführt. Diese Dynamik schlug sich jedoch nicht in den Wahlen nieder. Bei den Präsidentschaftswahlen 2007 blieb das Angebot der radikalen Linken zu groß und hatte keine Auswirkungen auf den politischen Kurs des Landes.

Das begann sich zwei Jahre später zu ändern, parallel zur Langen Depression, von der die Weltwirtschaft erfasst wurde. Dieser historische Zufall darf jedoch nicht als kausaler Zusammenhang gesehen werden. Die damaligen politischen Initiativen wurden aus strategischen Gründen ergriffen, die wenig mit der Wirtschaftskrise selbst zu tun hatten.

2009-2017: die Neukomposition der radikalen Linken zugunsten von Jean-Luc Mélenchon

Im Februar 2009 beschlossen die trotzkistischen Führer der „Ligue communiste révolutionnaire“ (LCR, Revolutionäre kommunistischen Liga) sie in die „Nouveau parti anticapitaliste“ (NPA, Neue antikapitalistische Partei) umzuwandeln. Sie begannen diesen Wandel, indem sie sich auf die Popularität von Olivier Besancenot stützten, der 2007 als einziger Kandidat der radikalen Linken ein ehrenwertes Ergebnis erzielt hatte. Ihrer Meinung nach stand infolge des Niedergangs der PCF und der rechtsgerichteten Entwicklung der PS nun ein breites politisches Spektrum zur Verfügung. Das Ziel der neuen Partei bestand darin, sich an „alle Unterdrückten“ zu wenden und sie in einer „lebendigen Organisation“ zu vereinen, die einen „revolutionären Bruch mit der etablierten Ordnung“ verteidigte.

Das Projekt scheiterte jedoch. Die Zusammenarbeit der Aktivisten unterschiedlicher Herkunft erwies sich als heikel und die NPA wurde wegen ihres Alleingangs bei den Wahlen kritisiert. Besancenots Entscheidung, die Partei bei den Präsidentschaftswahlen 2012 nicht zu vertreten, hat die Partei ebenfalls geschwächt. Parallel dazu hat die andere linksextreme Partei, „Lutte ouvrière“, einen Weg ohne jegliche dogmatische oder organisatorische Neuerung verfolgt und sich mit einer Wahlbasis von höchstens 200 000 Stimmen begnügt. Letztlich war das Jahrzehnt 2010 also von einer Marginalisierung der trotzkistischen Parteien geprägt, denen im vorangegangenen Jahrzehnt der Durchbruch gelungen war. A priori wird die Wahl 2022 diesen eindeutigen Trend bestätigen.

Des einen Leid, des anderen Freude: Die negative Entwicklung der extremen Linken wirkte sich auf eine andere Gruppierung positiv aus, die Anfang 2010 erfolgreicher war: die „Front de gauche“ (Linksfront). Dieses Bündnis brachte ab 2009 die PCF und die gerade vom ehemaligen Sozialisten Jean-Luc Mélenchon ins Leben gerufene „Parti de gauche“ (Linkspartei) zusammen. Sie ermöglichte es Mélenchon, sich als zentrale Figur nicht nur der radikalen, sondern der gesamten Linken zu etablieren. Dieser Politiker kommt aus der PS, in der er lange Zeit der Anführer einer im linken Flügel der Partei verankerten Fraktion war. Zusammen mit den sozialistischen Dissidenten, die ihm 2008 folgten, um die PG zu gründen, war er 2005 an der „Nein“-Kampagne zum VVE beteiligt. Dieses Ereignis war für seine weitere Entwicklung von großer Bedeutung. Intellektuell und kulturell hat dieser gemeinsame Kampf die Spaltung tatsächlich denkbar und damit auch möglich gemacht.

Zu dieser Spaltung kam es 2008, als zu dem Bruch, der auf dem Gebiet der Ideen und Affekte bereits vollzogen war, noch strategische Gründe hinzukamen. Einerseits stellten Jean-Luc Mélenchon und seine Freunde ihre Isolation innerhalb des linken Flügels der PS fest, die ihrerseits beim Kongress nach der von Ségolène Royal verlorenen Präsidentschaftswahl ein bescheidenes Ergebnis erzielt hatte. Zum anderen kamen positive Signale von der PCF, die sich für „linke Fronten mit Persönlichkeiten und Organisationen“ aussprach. Und schließlich war die Aussicht auf die Europawahlen verlockend: Die Wahl war gut geeignet, den 2005 geschmiedeten „Arc du non“ (Bogen des Neins) wiederherzustellen. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass in Deutschland im Jahr 2007 Die Linke gegründet wurde und Sozialdemokraten zusammenbrachte, die sich von der SPD und den Neokommunisten der PDS abgespalten hatten. Jean-Luc Mélenchon hatte diesen Präzedenzfall im Auge, als er sich in das Abenteuer der PG und „Front de gauche“ (Linksfront) stürzte, auch wenn letztere Gruppierung, die 2009 offiziell bestätigt wurde, von Anfang an nur ein Parteienkartell war. In diesem Fall brachte er die PG, die PCF und einen dritten Pol mit dem Namen „Ensemble“, der durch eine freiheitlichere Identität gekennzeichnet war, zusammen.

Bereits 2009 ging die Rechnung der „Front de gauche“ auf. Die Koalition hat die NPA bei den Europawahlen tatsächlich überholt. Dieser Erfolg trug dazu bei, das Vertrauen zwischen seinen Mitgliedern zu wahren und führte dazu, dass Jean-Luc Mélenchon 2012 zum Präsidentschaftskandidaten gewählt wurde. Mit 11,1 % der Wählerstimmen im Anschluss an eine bemerkenswerte Kampagne erreichte Mélenchon ein Ergebnis, das kein radikaler Linker seit den 1980er Jahren erreicht hatte. Dieser Erfolg war jedoch nicht nachhaltig. Trotz der Unbeliebtheit der sozialistischen Regierung erwies sich die „Front de gauche“ als unfähig, die demobilisierten PS-Wähler für die Zwischenwahlen zu gewinnen. Mehrere Faktoren haben zu diesem Scheitern beigetragen. Im Gegensatz zu anderen Ländern, die unter der Staatsschuldenkrise litten, insbesondere in Südeuropa, hat Frankreich eine moderate Sparpolitik durchgemacht und keine soziale Massenbewegung erlebt. Darüber hinaus waren die Mitglieder der „Front de gauche“ durch unterschwellige Meinungsverschiedenheiten über die Strategie bei den Kommunalwahlen gespalten, ohne dass einer der Beteiligten genug Gewicht hatte, den anderen seinen Willen aufzuzwingen.

Das Wahlbeben 2017

Ab Ende 2015 gab es gravierende Änderungen, was den Weg für eine tiefgreifende – und dauerhafte – Umstrukturierung der internen Machtverhältnisse der französischen Linken bereitete. Die regierenden Sozialisten starteten zwei Projekte, die vom treuesten Kern ihrer Wählerbasis als Provokationen empfunden wurden. Das erste Projekt, der letztlich nicht erfolgreich war, zielte darauf ab, den Grundsatz des Entzugs der Staatsangehörigkeit auszuweiten und in die Verfassung aufzunehmen. Der kulturelle Liberalismus, der die linken Wähler trotz ihrer Verschiedenheit vereint, wurde brutal von einem Projekt angegriffen, das eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Kategorien von Franzosen in sich barg. Das zweite Projekt, das umgesetzt wurde, bestand in einer Reform des Arbeitsrechts, die den Schutz der Arbeitnehmer einschränkte. Während sich die neoliberalen Zugeständnisse der PS zuvor eher auf die Budgetpolitik, Finanzmärkte und Privatisierungen beschränkten, erstreckten sie sich nun auch auf das Arbeitsverhältnis. Das „loi travail“ (Arbeitsgesetz) löste starken gewerkschaftlichen Widerstand aus, war aber auch der Ursprung einer originellen sozialen Bewegung. Die Teilnehmer von „Nuit Debout“ (Die Nacht über wach) besetzten mehrere Wochen lang die Plätze der großen Städte (insbesondere in Paris), um das „Arbeitsgesetz und seine Welt“ anzuprangern.

In diesem entscheidenden Moment gelang es zwei politischen Kräften, die verschiedenen Teile der sozialistischen Wählerschaft zu mobilisieren, die sich von diesen Entwicklungen vor den Kopf gestoßen fühlten: zum einen der eigenständigen Mitte von Emmanuel Macron, dem ehemaligen Minister von François Hollande, der sich an die gemäßigsten Wähler wandte, und zum anderen Jean-Luc Mélenchon, der sich an die an die am weitesten links angesiedelten Wähler wandte. In der Zwischenzeit hatte Mélenchon eine strategische Wende in Richtung Linkspopulismus vollzogen. Mit der einseitigen Lancierung seiner Bewegung „La France insoumise“ (LFI) emanzipierte er sich von der PCF und der gesamten „Front de gauche“, die als veraltete und verbindliche Struktur galt.

Das Ziel der LFI bestand darin, „das Volk zu vereinen“, anstatt „die Linke zu vereinen“, weshalb die symbolischen Codes dieses historischen Lagers weitgehend aufgegeben wurden. Wenn dieser Populismus dennoch als links bezeichnet werden kann, dann deshalb, weil das Programm und die Reden des Kandidaten zwar Teil einer Rhetorik waren, die das souveräne Volk im Gegensatz zu den herrschenden Eliten, die in ihrer Aufgabe versagt haben, aufwerteten, aber dieses Volk als pluralistisch und durch die Forderungen nach sozialer Gleichheit und politischen Rechten vereint verstanden. Das Ziel, das nur zum Teil erreicht wurde, bestand darin, rund um diese Forderungen Bürger zusammenzubringen, die sich in der historischen Linken nicht unbedingt wiedererkennen konnten. Die Herausforderung Mélenchons ähnelte der Herausforderung der neuen Podemos-Partei aus dem Jahr 2014 in Spanien, die in den Inspirationsquellen von Mélenchon und seinen Freunden weitgehend die Linke ablöste. Der Diskurs war jedenfalls ganz anders als der der radikalen Rechte, die „einheimische“ Wähler gegen Gruppen mobilisieren will, die ethnisch oder kulturell nicht als „rein“ gelten.

Man kann 2017 von einem Wahlbeben sprechen, da keine der beiden großen Regierungsparteien der Fünften Republik im zweiten Wahlgang vertreten war. Emmanuel Macron, der in seinem zentristischen Unterfangen von einem ganzen Teil des rechten Flügels der PS unterstützt wurde, konfrontierte die extreme Rechte, die von Marine Le Pen vertreten wurde. Der sozialistische Kandidat Benoît Hamon erhielt ein demütigendes Ergebnis von 6 %. Das Ergebnis der PS bei den Parlamentswahlen bestätigte, dass es die Partei selbst war, die verlassen wurde, da sie nur 7,5 % der Stimmen erhielt, d. h. weniger als der niedrigste Wert in ihrer Geschichte (10 %) im Jahre 1906, als die junge sozialistische Organisation erst ein Jahr alt war. Anders ausgedrückt: Die Franzosen haben den seltenen Fall eines parteilichen Zusammenbruchs erlebt. In allen Regionen Europas befindet sich die Sozialdemokratie aus strukturellen Gründen in einer Krise, die mit der Destabilisierung der neoliberalen Kompromisse seit der großen Krise 2008 zusammenhängt. Aber nur wenige Parteien haben ihren Status verloren, den sie in ihrem nationalen politischen System erobert hatten, wie die griechische Pasok oder die niederländische Partei der Arbeit. Zu diesem wenig beneidenswerten Klub gesellte sich die PS.

Mit fast 20 % der Wählerstimmen gelang Jean-Luc Mélenchon dagegen eine neue, beispiellose Leistung für die radikale Linke. Er verteidigte unermüdlich Verfassungsänderungen, eine ökologische Planung und eine Umverteilung des Reichtums und trieb eine „rot-grüne“ Kraft an die Spitze der französischen Linken. Die PCF unterstützte ihn mangels besserer Alternativen und nach zähen internen Debatten, schaffte es aber nicht, mit der LFI Bündnisse für die Legislative einzugehen. Die PCF hat ihre Fraktion in der Nationalversammlung mit Müh und Not bewahrt, während die LFI deutlich mehr Stimmen und etwas mehr Abgeordnete erhielt und gleichzeitig ihre Identität festigte. Die Besonderheit des französischen Falls liegt in der Tatsache, dass es einem Ex-Sozialisten gelungen ist, das Feld der radikalen Linken nach einer Zusammenarbeit mit der PCF, die auf halbem Wege aufgegeben wurde, zu seinen Gunsten umzugestalten.

Linke Kandidat*innen bei den französischen Präsidentschaftswahlen und ihre Ergebnisse (2002-17)

2017–2022: fünf Jahre Opposition, die nichts genutzt haben?

Während der fünfjährigen Präsidentschaft von Emmanuel Macron haben sich die internen Machtverhältnisse der französischen Linken wieder destabilisiert, ohne dass dies eine Rückkehr zur früheren Situation bedeutet. Dies hat zu einer sehr prekären strategischen Situation geführt, die für alle betroffenen politischen Kräfte beunruhigend ist.

Zunächst einmal gelang es Jean-Luc Mélenchon nicht, zusätzliche Unterstützung zu gewinnen und seine Hegemonie auf der linken Seite zu etablieren, obwohl er bei den Präsidentschaftswahlen sehr gut abgeschnitten hatte. Wir werden hier nicht näher erläutern, welche Vorfälle diese fünf Jahre geprägt haben. Doch das Bild von Mélenchon selbst hat sich verschlechtert, während sich die LFI nicht als eine ausreichend attraktive und einladende Bewegung etablieren konnte und keine nennenswerten Anstrengungen zur lokalen Verankerung geleistet hat. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Partei explizit als „Wischiwaschi“-Bewegung ohne Statuten und Strukturen konzipiert wurde, die interne Debatten ermöglichen und den regierenden Kern zur Rechenschaft ziehen würden. Ihre Ressourcen scheinen nur für den großen Moment der Präsidentschaftswahl gewahrt worden zu sein.

Die Grünen der EELV haben sich erholt und bei den Europawahlen und Kommunalwahlen deutlich besser abgeschnitten als die LFI. Vor allem lokale Wahlen haben gezeigt, dass sie an der Spitze der Linken stehen können, wenn sich diese in der Opposition befindet. Trotzdem blieb die EELV eine kleine Partei, die in den vierzig Jahren ihres Bestehens keine echte grüne „Gegengesellschaft“ aufbauen konnte. Die EELV scheint noch immer schlecht für Wahlen gerüstet zu sein, die für die Machtausübung auf nationaler Ebene entscheidend sind, obwohl ihre Mitglieder erklärten, dass es nun an ihnen liege, einen Machtwechsel herbeizuführen. Doch die PS akzeptierte diesen Hierarchiewechsel nie wirklich und ihre Illusionen einer Wiederherstellung der alten Hierarchie wurden durch die generelle Beibehaltung ihrer Positionen bei den Kommunalwahlen gestärkt, sodass ihre Führung behauptete, die Partei bleibe die „treibende Kraft“ der Linken (anders ausgedrückt, die einzige Kraft, die einen Machtwechsel herbeiführen könnte).

Am Vorabend der Präsidentschaftswahl 2022 gestaltet sich die Verteilung der Stärken und Schwächen so, dass von einem „Gleichgewicht der Ohnmacht“ gesprochen werden kann. Keine Kraft hat genug politische Ressourcen angehäuft, um die anderen zu zwingen, ihre Führung zu akzeptieren, aber alle Kräfte haben genug Ressourcen übrig, um zu behaupten, allein ins Rennen zu gehen, während sie darauf warten, dass sich die anderen hinter ihr Banner stellen. Programmdiskussionen und Wahlvereinbarungen, die die Präsidentschafts- mit den Parlamentswahlen verbinden, hätten dazu beitragen können, aus dieser Situation noch das Beste zu machen. Doch war das Misstrauen zwischen diesen Kräften, die an unterschiedliche Kulturen und politische Geschichten gebunden sind, zu groß. Vor allem wurden keine methodischen und ernsthaften Anstrengungen unternommen, um bestehende Streitigkeiten zu überwinden. Das Ergebnis ist eine Zersplitterung der linken Kräfte, während die Pandemie und der Ausbruch des Krieges in der Ukraine Emmanuel Macrons Anspruch auf Stabilität förderlich waren.

Für alle beteiligten Kräfte, die noch um ihre Existenz kämpfen, steht sehr viel auf dem Spiel. Die LFI muss bestätigen, dass sie ihre Konkurrenten bei weitem übertrifft, um nach 2022 an der Spitze einer pluralistischen Vereinigung zu stehen. Die EELV muss ein besseres Wahlergebnis erreichen als ihr Kandidat 2002, als die Grünen noch eine kleine Juniorpartei in der Linken waren. Andernfalls könnten die beiden Organisationen, die am meisten mit den Werten der linken Wählerschaft übereinstimmen, tödliche Spaltungen treffen. Die Schicksale der PS und PCF erscheinen ziemlich düster. Trotz ihrer lokalen Verankerung scheint diesen beiden historischen Parteien der Arbeiterbewegung, die seit mindestens 1945 die Linke in Frankreich strukturiert haben, ein Wahlergebnis von unter 5 % bestimmt zu sein, was zugleich die Schwelle für die Erstattung der Wahlkampfkosten durch die öffentliche Hand ist.

Die Lage der Linken ist also eine seit den 1980er Jahren noch nie dagewesene, aber sie ist auch beunruhigend und widersprüchlich. Sie ist einzigartig, denn es ist der „radikale“ Pol, der ehrgeizigste im Hinblick auf den sozialen Wandel, der nun den diesbezüglich vorsichtigeren Pol übertroffen hat. Auf der Seite der „Unbeugsamen“ sowie der Grünen wird deutlich signalisiert, dass sie bereit sind, mit den neoliberalen und/oder produktivistischen Grundlagen der Wirtschaftsordnung zu brechen. Die Situation ist jedoch besorgniserregend, denn das Stimmengewicht der gesamten Linken dürfte genauso niedrig bleiben wie vor fünf Jahren. Selbst wenn ein Kandidat aus diesem politischen Spektrum in die zweite Runde gelangen würde, würde er sicher geschlagen werden.

Die widersprüchliche Dimension des Zustands der französischen Linken rührt daher, dass die seriösesten Meinungsumfragen keinen eindeutigen Rechtsruck des französischen Volks verzeichnen. Das führt viele Politiker, darunter Vincent Tiberj und Rémi Lefebvre, zu der Ansicht, dass das Hauptproblem der Linken weniger in der Nachfrage der Bürger als vielmehr im politischen Angebot der bestehenden linken Organisationen liegt. Richtig ist, dass Widersprüche und Grenzen die „Nachfrage“ nach demokratischer, ökologischer und egalitärer Politik beeinflussen. Aber diese Widersprüche und Grenzen sind nicht die mechanische Folge soziologischer Entwicklungen der französischen Wählerschaft. Sie werden durch schwache Parteien verschärft, die sich übermäßig auf Wahlergebnisse konzentrieren und noch nicht herausgefunden haben, wie sie den im Land vorhandenen Hoffnungen auf eine andere Gesellschaft Ausdruck verleihen können.