Noch nicht über den Berg

Kommentar zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich

12.04.2022
Nessim Achouche

Am 10. April um 20:00 Uhr erschienen Emmanuel Macron und Marine Le Pen auf den französischen Fernsehbildschirmen und verkündeten ihren Einzug in die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahlen. Der amtierende Präsident lag mit 27,8 Prozent der Stimmen knapp vor der rechtsextremen Le Pen, die ein Rekordergebnis von 23,1 Prozent erzielte. Unabhängig davon, was bis zum 24. April passieren wird – eine*r der beiden Kandidat*innen wird Ende des Monats Präsident*in Frankreichs sein.

Für ein vollständiges Bild der Lage müssen wir jedoch auch Jean-Luc Mélenchon und die von ihm geführte Union Populaire miteinbeziehen, die nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Marine Le Pen auf dem dritten Platz landete und mit 22 Prozent ebenfalls einen Rekord erzielte. Tatsächlich markiert Mélenchons Ergebnis das beste Wahlergebnis für die radikale Linke in der Geschichte der Fünften Französischen Republik. Nach Auszählung aller Stimmen fehlten ihm weniger als 500.000 Stimmen zum Einzug in die zweite Runde.

Der katastrophale Niedergang der Sozialdemokratie

Das Trio ließ den Rest der Kandidat*innen weit hinter sich. Der rechtsextreme Provokateur Éric Zemmour landete schließlich bei 7,1 Prozent und ist damit der einzige andere Kandidat, dessen Wahlkampfkosten vom Staat getragen werden – ein Umstand, der sich auf die bevorstehenden Parlamentswahlen im Juni auswirken könnte.

Yannick Jadot, der Kandidat der Grünen (EELV), erzielte ein überraschend niedriges Ergebnis von 4,6 Prozent, und das obwohl der Klimawandel laut Umfragen zu den wichtigsten Themen der französischen Wähler*innen gehört. Die Sozialistische Partei (PS) fiel mit nur 1,5 Prozent der Stimmen weiter in die Bedeutungslosigkeit, übertroffen von Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei (PCF), der 2,4 Prozent erreichte.

Dieses polarisierte Ergebnis unterstreicht die kontinuierliche und beschleunigte Dynamik, die vor fünf Jahren mit dem Zerfall der historischen französischen Parteienlandschaft parallel zu Macrons Aufstieg zu beobachten war.

Diesmal ist es die traditionelle Rechte mit Valérie Pécresse von den Republikanern (LR) und ihren 4,8 Prozent, die fast vollständig zu Gunsten von Macron und der von Zemmour und Le Pen verkörperten extremen Rechten zerschlagen worden ist. Beide halten nun einen rechtsextremen Block, der insgesamt mehr als 30 Prozent der Wähler*innen umfasst. Entgegen aller Widerstände stellte sich die Mehrheit der linken Wählerschaft hinter Mélenchon und seine Volksunion, die von der Forderung nach einer „nützlichen Stimme“ (vote utile) für die Linke und einem Programm profitierte, das den Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit und die ökologische Transformation der französischen Gesellschaft legte.

Die Tatsache, dass sich Repräsentant*innen der sozialen Bewegungen und der Umweltbewegung hinter Mélenchon gestellt haben, zusammen mit der starken Unterstützung durch einen großen Teil der feministischen Bewegung, hat vermutlich dazu beigetragen, dass Jean-Luc Mélenchon bei den Wähler*innen zwischen 18 und 34 Jahren an erster Stelle steht.

Nichtsdestotrotz verhinderten die anhaltenden Spaltungen unter den linken und progressiven Kräften, Le Pen zu übertrumpfen und im zweiten Wahlgang gegen Macron und sein neoliberales Projekt antreten zu können.

Eine ungewisse Wende

Ob der zweite Wahlgang genauso verlaufen wird wie 2017, scheint jedoch sehr viel unsicherer zu sein. Denn Macrons Reserven an Wähler*innen für die zweite Runde scheinen viel geringer zu sein als beim letzten Mal.

Jadot, Roussel und die Sozialistin Anne Hidalgo haben ihre Anhänger*innen zwar dazu aufgerufen, im zweiten Wahlgang für Macron zu stimmen, ihr kumulierter Stimmenanteil liegt jedoch unter 9 Prozent. Wie schon 2017 richtete Mélenchon einen klaren Appell an seine Anhänger*innen und erklärte lediglich, dass „keine einzige Stimme“ an die Rechtsextremen gehen sollte.

Wie viele der 7 Millionen Menschen, die für Jean-Luc Mélenchon gestimmt haben, werden ihre Stimme Emmanuel Macron geben, der vermutlich versuchen wird, sie mit verschiedenen sozialen und ökologischen Wahlversprechen zu ködern? Das ist schwer vorherzusagen, vor allem angesichts der starken Opposition, die Macrons fünf Jahre als Präsident in weiten Teilen der Bevölkerung hervorgerufen haben.

Auf der anderen Seite des Spektrums hat Zemmour seine Wähler*innen aufgerufen, Marine Le Pen zu unterstützen, die wahrscheinlich auch einen großen Teil der Anhänger von Pécresse und Dupont Aignant anziehen wird.

Eskalationsschraube oder Gegenwind?

So viel scheint klar zu sein: Die Strategie von Macrons Regierung, fünf Jahre lang auf rechtsextreme Argumente und Politiken einzugehen und sich gleichzeitig als letzte Bastion der republikanischen Verteidigung gegen eben diese rechtsextreme Bedrohung zu stilisieren, hat nun ihre gefährlichen Grenzen offenbart.

Dadurch könnte sogar die berüchtigte „gläserne Decke“ über der extremen Rechten in Frankreich zu durchbrechen drohen, wodurch die Aussicht auf Marine Le Pen als nächste Präsidentin Frankreichs zu einer sehr greifbaren Möglichkeit wird.

Ihre Chancen werden durch die Tatsache begünstigt, dass es ihr gelungen ist, sich als Kandidatin mit einer soliden „sozialen“ Agenda darzustellen, die im Gegensatz zu Macrons neoliberaler Zerstörung dessen steht, was vom Wohlfahrtsstaat noch übrig ist. Dieses fingierte und völlig falsche Image könnte ihr dabei helfen, einen Teil der Wähler*innen von Mélenchon anzuziehen – trotz eines Anstiegs von Mélenchons Stimmenanteil ist Marine le Pen immer noch die erste Kandidatin bei den Wähler*innen aus der Arbeiterklasse.

Schließlich ist die Tatsache, dass etwas mehr als jede*r vierte potenzielle Wähler*in nicht zur Wahl gegangen ist, ein weiteres Zeichen für die anhaltende Unzufriedenheit eines großen Teils der Bevölkerung mit der etablierten Politik. Ihre Stimmenthaltung bildet gewissermaßen eine unbestimmte „vierte Gewalt“, die in Zukunft das Schicksal der französischen Politik bestimmen könnte.

Sollte die Enttäuschung der potenziellen Wähler*innen über die Aussicht, die gleiche Wahl wie vor fünf Jahren noch einmal zu erleben, zu einem Anstieg der Wahlenthaltung führen, dann könnte dies der Riss in der gläsernen Decke sein, der die extreme Rechte schließlich an die Macht bringt.