„Die wichtigste Folge in Finnland ist die Frage der NATO-Mitgliedschaft“
Duroyan Fertl im Interview mit Pinja Vuorinen über den Krieg in der Ukraine
Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine führt zu neuen Diskussionen über den Umgang mit Russland. So sind Finnland und Schweden näher denn je an einem NATO-Beitritt. Würde Finnland der NATO beitreten, würde sich die Landgrenze des westlichen Militärbündnisses zu Russland verdoppeln. Die wichtigste Konsequenz aus dem Russland-Ukraine-Krieg sei in Finnland die Frage der NATO-Mitgliedschaft, sagt Pinja Vuorinen, Vorsitzende der Linksjugend Finnlands. Duroyan Fertl befragte sie zu Finnlands Haltung zum Krieg und den zu erwarteten Folgen für Finnland.
Wie reagiert die finnische Regierung auf den Krieg in der Ukraine? Hat er einen wesentlichen Einfluss auf die Haltung? Welche Maßnahmen plant die Regierung, um den Frieden in der Ukraine herzustellen?
Die finnische Regierung hat auf den Krieg in der Ukraine gemeinschaftlich reagiert, alle Parteien in der Mitte-Links-Koalitionsregierung verurteilen den Angriff Russlands auf die Ukraine. Die ersten und wichtigsten von der Regierung eingeleiteten Schritte in Bezug auf die Situation waren Sanktionen gegen Russland, sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene. Die generelle Einstellung war die Mitverfolgung der Situation, da die Schwere der Angriffe weiterhin schwankt.
Alles in allem war der Angriff für Finnland sowie für ganz Europa ein ziemlicher Schock, wobei die Reaktionen von der Forderung nach überlegten Erwiderungen bis hin zu heftigen Forderungen nach Militäraktionen reichten. Es ist klar, dass als Nachbar Russlands die Sorge über mögliche Sicherheitsrisiken, denen Finnland ausgesetzt sein könnte, zunimmt.
Bis jetzt bestand die Position der Regierung darin, die Ukraine sowie ihre Bevölkerung materiell zu unterstützen, indem sie den Menschen wie andere EU-Länder vorübergehende Zuflucht gewährt. Sie hat auch zu Friedensverhandlungen aufgerufen, und der Präsident Finnlands hat sowohl mit US-Präsidenten Biden als auch mit dem russischen Präsidenten Putin Kontakt aufgenommen.
Wie ist der aktuelle Stand der Debatte rund um die NATO in Finnland nach dem Angriff auf die Ukraine?
Die wichtigste Konsequenz in Finnland war sicherlich die Frage der NATO-Mitgliedschaft als zentrales politisches Thema. Finnland ist kein NATO-Mitgliedstaat und lange Zeit hat die Mehrheit der Bevölkerung die NATO-Mitgliedschaft nicht unterstützt. Der Krieg in der Ukraine hat das geändert. In wenigen Wochen hat sich die Mehrheit der Bevölkerung für eine NATO-Mitgliedschaft ausgesprochen, obwohl es natürlich eine Frage ist, ob dies eine langfristige Position oder eine Schockreaktion auf den Krieg ist.
Es liegt auf der Hand, dass einige Akteure als rechte Koalitionspartei dies als Chance sehen, die seit Jahrzehnten bestehende Pro-NATO-Agenda voranzutreiben. Aber auch viele Parlamentsparteien haben sich zu ihren Positionen geäußert. Die Grünen etwa, die sich traditionell nicht zu Fragen der Sicherheit, vor allem militärischer Politik, geäußert haben, unterstützen die NATO lautstark.
Von der aktuellen Koalitionsregierung hat nur die schwedische Volkspartei die NATO-Mitgliedschaft offen unterstützt, bevor sie in die Regierung eingetreten ist. Die Grünen haben ihre Position eindeutig geändert und sich deutlich für die NATO ausgesprochen. Es bleiben nur noch die Sozialdemokraten, die Zentrumspartei und das Linksbündnis.
All diese Stakeholder haben innerhalb der Partei einen Diskussionsprozess in Bezug auf ihren Standpunkt nach der russischen Invasion in der Ukraine eingeleitet. Die Ergebnisse dieser Gespräche sind noch nicht abzusehen, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass einige Parteien ihren Standpunkt ändern werden.
Finnland wird seine Parlamentswahlen im April 2023 abhalten, wobei auch Sicherheitsfragen angesprochen werden. Es bleibt abzuwarten, ob ein Referendum über die NATO-Mitgliedschaft abgehalten wird oder ob die nächsten Wahlen so genannte NATO-Wahlen werden. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Finnland einen Antrag auf Beitritt zur NATO vor den Wahlen stellt, obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass dies bis nach Durchführung der Parteitage der Zentrumspartei – sowie des Linksbündnisses – im Juni ausgestellt wird.
Liefert das Land Waffen an die Ukraine oder hat es eine Lieferung angekündigt? Wie ist seine Position auf EU-Ebene und gegenüber der NATO?
Finnland hat der Ukraine neben anderen materiellen Hilfen auch Waffen geliefert. Es schafft einen historischen Präzedenzfall, da Finnland bisher Krieg führenden Ländern noch kein Rüstungsmaterial geliefert hat.
Das genehmigte Programm der gegenwärtigen Regierung enthält eine Klausel in welcher ausgeführt wird, dass Finnland keine Waffen an Krieg führende Länder verkauft oder spendet. Allerdings hat die Regierung diese Klausel bereits mehrfach gebrochen, da sie den Verkauf von Waffen an die Vereinigten Arabischen Emirate betreut hat, um Truppen im Jemen mit Material zu versorgen. Außerdem erlaubte sie einer finnischen Firma, Rüstungsmaterial an die Türkei zu verkaufen, die vor allem in Nordsyrien Krieg gegen Kurden führt.
Aus diesem Grund war die öffentliche Diskussion über Waffenlieferungen an die Ukraine an den ersten Tagen durchwachsen. Dennoch einigten sich alle Koalitionsparteien auf die Spende verschiedener Materialien. Zunächst wurden Informationen über den Export von kugelsicheren Westen und Verbundhelmen veröffentlicht, einige Tage später wurde auch der Export von Gewehren und RPG bestätigt. Keine Regierung und keine parlamentarische Partei hat sich dagegen ausgesprochen.
Im Allgemeinen schließt Finnland sich hinsichtlich der Materialversorgung der Ukraine der Meinung der anderen EU-Länder an. Da Finnland nicht Mitglieder der NATO ist, gibt es keinen direkten Vergleich in dieser Hinsicht.
Wie hat die Linkspartei sowohl auf den Krieg als auch auf die Reaktion der Regierung reagiert? Hat sich die Position wesentlich verändert? Was ist der Vorschlag der Linkspartei für konkrete Maßnahmen zur Beendigung des Krieges und zur langfristigen Friedenssicherung in der Ukraine?
Da die Partei Linksbündnis Mitglied der Regierungskoalition ist, stimmen ihre Reaktionen weitgehend mit den Reaktionen der Regierung überein, beispielsweise wenn es um Sanktionen, die Spende von Verteidigungsmaterial sowie die Reaktion der EU geht. Die Linkspartei hat die Sanktionen gegen russische fossile Brennstoffe deutlich unterstützt. Da der größte Teil der fossilen Energie Finnlands aus Russland stammt, ist dies ein entscheidender Moment, um die Entkopplung unseres Energiesektors von fossilen Brennstoffen zu beschleunigen.
Was die Sicherheitspolitik betrifft, so drehen sich die Diskussionen in Finnland mehr um die eigene Sicherheit als um die Frage der Friedenssicherung in der Ukraine. In gewissem Maße ist dies verständlich, da wir eine 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland haben und als kleine Nation eine relativ kleine Rolle bei internationalen Friedensgesprächen spielen. Dennoch gab es einen ständigen Aufruf zu Friedensgesprächen und zum Abzug russischer Truppen aus der Ukraine sowie zur Einstellung der Invasion.
Wie könnte nach Ansicht der Linkspartei eine fortschrittliche und nachhaltige Sicherheitsinfrastruktur in Europa (und/oder weltweit) aussehen? (Welchen Einfluss hat die Linkspartei auf die Diskussionen und die Politik als Reaktion auf die Situation?)
Die sicherheitspolitische Position des Linksbündnisses im politischen Raum ist durchaus interessant und sicher nicht einfach. Während sich auch die Sozialdemokraten und die Zentrumspartei nicht zur NATO-Mitgliedschaft geäußert haben, wird die Linke Allianz im Medienbereich – insbesondere im rechten Medienbereich – als alleiniger Rückhalt für Finnlands NATO-Mitgliedschaft gesehen.
Obwohl die Partei derzeit gegen einen Beitritt ist, hat sie aufgrund ihrer Größe allein nicht ausreichend Einfluss, um Finnland vom Beitritt zur NATO abzuhalten – was möglicherweise zu bedauern ist. Daher war die Reaktion ziemlich absurd. Zudem gilt die Partei als russisch gesinnt, obwohl sie in Bezug auf die Unterstützung der russischen Opposition und der unterdrückten Minderheiten im Land eine der lautstärksten Parteien war.
Die Partei wird ihren Parteitag im Juni dieses Jahres abhalten, was höchstwahrscheinlich einen Einfluss auf die Sicherheitspolitik der Partei haben wird. Im Allgemeinen hat die Partei die nordische Sicherheitszusammenarbeit mit Schweden, aber auch mit anderen nordischen Ländern unterstützt. Es ist möglich, dass nach dem Krieg in der Ukraine zunehmend Forderungen nach einer Stärkung der EU-Sicherheitsinfrastruktur als Alternative zur NATO laut werden.
Gab es Proteste in Finnland? Was sind die wichtigsten Forderungen? Welche Rolle spielen Friedensorganisationen bei der Organisation der Proteste? Welche Rolle spielen Gewerkschaften?
In Finnland hat es im ganzen Land zahlreiche Proteste gegeben, vor allem in Helsinki. Im Allgemeinen wurde gefordert, dass Russland sich aus der Ukraine zurückzieht und es wurde insgesamt für Frieden demonstriert. Die Demonstrationen wurden hauptsächlich von lokalen ukrainischen Organisationen oder Friedensorganisationen organisiert. Am 26.2. gingen im Rahmen von Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine in Helsinki rund zehntausend Menschen auf die Straße.
Dabei waren nicht die Gewerkschaften die Organisatoren, wie sie es in Finnland normalerweise ohnehin nicht sind. Sie haben sich jedoch mit der Ukraine solidarisch gezeigt, indem sie z. B. Erklärungen veröffentlicht haben. Eine der Demonstrationen in Helsinki wurde von politischen Jugendorganisationen organisiert, darunter insbesondere die Jugendorganisationen aller parlamentarischen Parteien von rechts bis links.
Pinja Vuorinen ist Vorsitzende der Linken Jugend Finnlands