Die Musik spielt woanders: Verkehrswende in Europa

02.05.2022
Timo Daum

Teil 1: Die Musik spielt woanders: Verkehrswende in Europa

Deutsche Städte als Vorreiter der Verkehrswende? Das war einmal. Heute sind es andere, die das Auto schrittweise herausbefördern. Welche Maßnahmen sind erfolgreich, in welchem Kontext werden sie unternommen, wer sind die entscheidenden Akteure? Ein Überblick.

Freiburg oder Münster sind europaweit als Beispiele erfolgreicher kommunaler Verkehrspolitik bekannt. Ramón Linaza, spanischer Verkehrsaktivist der ersten Stunde, erinnert sich: "Freiburg haben wir immer als Referenz betrachtet."

Jedoch gründet Freiburgs Ruf als Fahrradstadt (verewigt im Tocotronic-Song "Freiburg") auf einer Politik, die in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt hatte.

Außerdem gelang es weder in Freiburg noch in Münster, den Anteil des Autos am Modal Split – der Aufteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel – zu verringern. Sowohl Straßen als auch Parkplätze wurden munter weitergebaut.

Allmählich hat sich in der Verkehrswissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass Fördermaßnahmen für alternative Verkehrsmittel – sogenannte "Pull-Maßnahmen" – oft wirkungslos bleiben, wenn nicht gleichzeitig die Attraktivität des privaten Pkw durch "Push-Maßnahmen" eingeschränkt wird.

Von Verkehrswende können wir dann sprechen, wenn sie "den privaten Autoverkehr durch andere Modi reduziert respektive ersetzt", ist die Soziologin Katharina Manderscheid überzeugt.

Auch das International Transport Forum empfiehlt eine radikale Reduzierung von privaten Automobilen als Schlüsselinstrument der Verkehrswende. Legt man diesen Maßstab an, ist hierzulande "keine nennenswerte Verkehrswende zu verzeichnen", stellt die Mobilitätsforscherin Lisa Ruhrort ernüchtert fest.

Kopenhagen, Wien, Tallinn, Luxemburg, London, Stockholm: Die Verkehrswende findet woanders statt

Auf der Suche nach jüngeren Beispielen für erfolgreiche Verkehrswendemaßnahmen wird man eher im Ausland fündig. In Kopenhagen werden zwei Drittel aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt.

Auch die österreichische Hauptstadt Wien verfügt über ein gutes Netz an Radwegen, zusätzlich über einen guten Nahverkehr. Mit dem 365-Euro-Jahresticket ist sie Vorbild für viele Kommunen. In Österreich gilt gar seit Oktober 2021 eine 1.095-Euro-Flatrate für das ganze Land.

In Tallinn wiederum entschied sich die Bevölkerung bereits 2012 in einem Referendum für einen kostenlosen Nahverkehr, seit 2013 ist die ÖPNV-Nutzung für Einwohner:innen kostenfrei und wird über die Einkommensteuer finanziert.

In Luxemburg sind seit März 2020 alle öffentlichen Verkehrsmittel landesweit kostenlos, die Regelung gilt für Einwohner:innen, Pendler:innen aus dem Ausland und Tourist:innen gleichermaßen.

London und Stockholm wiederum verzeichnen Erfolge bei der Eindämmung des privaten motorisierten Verkehrs durch die Einführung einer City-Maut. Die Innenstadt von Oslo soll bald gänzlich für den Autoverkehr gesperrt sein – gleichzeitig wird allerdings eine neue Autobahn zwischen der Hauptstadt und Trondheim im Norden gebaut.

London hat allein im Jahr 2020 72 sogenannte Low-Density Neighborhoods eingerichtet, vor allem in den Außenbezirken. Das sind kleine Bereiche, in denen nach niederländischem Vorbild die Fahrradinfrastruktur verbessert und Wohnstraßen für den Autoverkehr gesperrt werden, im Volksmund auch "Mini-Hollands" genannt, wie Rachel Aldred, Expertin für aktive Mobilität von der Universität Westminster, erläutert.

Welche Maßnahmen die besten sind, liegt wohl an den konkreten Gegebenheiten und kann von Stadt zu Stadt stark differieren. "Keine Stadt hat alles richtig gemacht", betont Giulio Mattioli von der TU Dortmund.

Pontevedra: Langer Atem für die autofreie Stadt

Ein Städtchen, das vieles richtig gemacht hat, ist die kleine Hafenstadt Pontevedra in Galicien. Vor über zwanzig Jahren begann hier ein beispielloser Kulturwandel.

Noch 1999 war Pontevedra eine gewöhnliche spanische Stadt, von Autos, Lärm und Abgasen geprägt. "Hier fuhren täglich bis zu 14.000 Autos. Die Altstadt war ein einziges Chaos", erinnert sich Miguel Fernández Lores, Bürgermeister von Pontevedra.

In den folgenden zwei Jahrzehnten gelang es, den motorisierten Privatverkehr nach und nach aus der Innenstadt zu verdrängen. Die größte Fußgängerzone Spaniens entstand in großen Teilen der Innenstadt.

Seit Beginn des Jahrtausends hat die Stadt die Zahl der Fahrzeuge, die täglich in der Innenstadt unterwegs sind, von 80.000 auf 7.300 (2018) reduziert – das ist ein Rückgang um mehr als 90 Prozent. Heute werden beeindruckende 65 Prozent der Wege in der Innenstadt zu Fuß zurückgelegt.

Die urbane Transformation von Pontevedra und die Maßnahmen zur Reduzierung des motorisierten Verkehrs in der Innenstadt haben dort die verkehrsbedingten CO2-Emissionen seit 2003 um zwei Drittel reduziert. Pontevedras Bevölkerung lebt nicht nur gesünder, sie ist auch weniger gefährdet: Seit 2009 wurden keine Verkehrstoten mehr registriert.

Schlüsselfigur der Verkehrswende in Pontevedra ist zweifellos der bereits vielfach wiedergewählte Bürgermeister des Städtchens. Schon früh machte er sich für eine Kehrtwende in der Verkehrspolitik stark und plädierte für die Vision einer Fußgängerstadt.

Miguel Álvarez vom Mobility Institute in Madrid meint: "Pontevedra hat einen wahren Champion, eine hochrangige politische Persönlichkeit. Der Bürgermeister ist schon ewig im Amt, er konnte in einem Umfeld hoher politischer Stabilität agieren, er hatte eine Basis und hatte eine klare Vorstellung, auf die er gesetzt hat, und er hat sich bestätigt gesehen, hat das weiterverfolgt, das ist ganz wichtig."

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Teil 2: Verkehrswende in Europa: Spielt die Musik weiter woanders?

Deutsche Städte als Vorreiter der Verkehrswende? Das war einmal. Heute sind es andere, die das Auto schrittweise herausbefördern. Welche Maßnahmen sind erfolgreich, in welchem Kontext werden sie unternommen, wer sind die entscheidenden Akteure? Ein Überblick – Teil 2 und Schlussfolgerungen.

Auch Vitoria-Gasteiz, eine mittelgroße Stadt im Norden Spaniens, ist ein hidden champion der Verkehrswende. Sie erlebte ab den 1950er Jahren einen rasanten Industrialisierungsprozess, in dessen Verlauf sich die Bevölkerung vervielfachte.

Im Jahr 1998 beschloss der Stadtrat die Agenda 21, die ein ganzes Bündel an Maßnahmen zugunsten von Umweltschutz und Nachhaltigkeit umfasste, unter anderem die Anlage des "Grünen Rings", einer zusammenhängenden Kette von Grünanlagen.

Auch Fahrrad-Infrastrukturen wurden massiv ausgebaut. Es stellte sich jedoch der "Freiburg-Effekt" ein: Das eigentliche Ziel einer Reduktion des privaten Autoverkehrs wurde verfehlt. Der Autoverkehr hatte sogar noch zugenommen, sein Anteil am Modal Split stieg zwischen 1996 und 2006 von 29 auf 37 Prozent.

Vitoria: Im zweiten Anlauf ...

2006 folgte ein neuer Versuch. Neben der Einrichtung von Superblocks, die Autos von Wohnquartieren fernhalten, und dem Bau zweier Straßenbahnlinien sticht vor allem eine Maßnahme aus dieser zweiten Phase hervor: die Umgestaltung der Avenida Gasteiz, der breitesten Straße und wichtigen Ausfallstraße in Richtung der größten baskischen Stadt Bilbao. Die ehemals nach Spaniens Diktator Franco benannte Magistrale sollte ihr in den 1960er Jahren geprägtes Design mit damals zehn Spuren für den ruhenden und fahrenden Autoverkehr hinter sich lassen.

2015 wurde die Umgestaltung der Avenida Gasteiz abgeschlossen. Die Zahl der Fahrspuren für den motorisierten Verkehr wurde von fünf auf vier reduziert, die Parkspuren von fünf auf eine. Die Presse sprach seinerzeit von einer Revolution und einem "beispiellosen Eingriff" mit durchaus hoher symbolischer Bedeutung.

Und diesmal gelang es, das Ruder herumzureißen. Der Anteil des Autoverkehrs am Modal Split verringerte sich von 37 auf 26 Prozent, innerhalb der Superblocks noch deutlicher. Als Ergebnis der Maßnahmen stieg zum Beispiel die Fahrradmobilität zwischen 2006 und 2019 von drei auf knapp neun Prozent.

Schlüssel für den Erfolg der Verkehrspolitik in Vitoria-Gasteiz ist ein stabiler und dauerhafter Konsens quer durch alle Parteien. "In Vitoria ist es gelungen, das Thema Mobilität aus dem politischen Kampf herauszuhalten", betont die Verkehrswissenschaftlerin Floridea Di Ciommo.

Paris: Adieu "ruhender Verkehr"!

Einschränkungen für den beweglichen Verkehr wie die Fußgängerzonen in Pontevedra (siehe Teil 1), die Verringerung von Fahrspuren und die Einrichtung von Superblocks sind das eine. In den letzten Jahren richten sowohl die Verkehrswissenschaft als auch die in der Verkehrswende aktiven Gruppen ihr Augenmerk verstärkt auf den "ruhenden Verkehr", sprich das Parken.

Seit Jahrzehnten macht Donald Shoup, Professor für Stadtplanung an der University of California in Los Angeles, auf eine der größten Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten der autozentrierten Gesellschaft aufmerksam: das kostenlose Parken auf öffentlichem Grund. Seine drei goldenen Regeln lauten:

  • Keine neuen öffentlichen Parkplätze errichten.
  • Flächendeckend Parkgebühren einführen, deren Höhe nach Angebot und Nachfrage variiert.
  • Die Einnahmen der unmittelbaren Nachbarschaft zugutekommen lassen.

Anwohner, Fußgänger und Radfahrer müssten direkt von der Bewirtschaftung profitieren. "Jedes Parken ist politisch", betont Shoup.

Immer mehr Städte nehmen die Aufgabe an. Beeindruckende Zahlen erreichen uns aus Paris. Die Seine-Metropole plant, 72 Prozent ihrer Straßenparkplätze zu "vernichten". Paris verfügt über 622.000 Parkplätze sowohl auf als auch abseits der Straßen, was 96 Hektar Stadtgebiet ausmacht, die für stehende Autos reserviert sind. Die Stadt hat 463.000 registrierte private Fahrzeuge. Eine Zahl, die jedes Jahr sinkt – wie auch die Autonutzung der Pariser:innen.

Anne Hidalgo, die Pariser Bürgermeisterin und französische Präsidentschaftskandidatin, kennen viele. Sie hat viel vorangebracht in der französischen Hauptstadt und gilt als weltweites role model für eine Politikerin, die die Verkehrswende beherzt und konsequent angeht.

Bürgermeisterin Hidalgo will bis 2024 alle Pariser Straßen fahrradfreundlich umgestalten. Ihr Ziel: "Wir wollen eine neue Organisation der Straße erreichen." Ein entscheidendes Mittel dazu ist eben der Abbau der Straßenparkplätze, um Platz für Radfahrer:innen zu schaffen.

Barcelona: Taktische Schritte für ein langfristiges Ziel

Einen langfristigen Plan zu haben ist nötig, wie Pontevedra und Vitoria zeigen. Aber es kommt auch darauf an, sich bietende Gelegenheiten zu ergreifen, Spielräume auszunutzen, spielerisch die Grenzen des Möglichen auszutesten. Unzweifelhaft ist Spaniens zweitgrößte Stadt Barcelona das Vorbild für diesen "taktischen Urbanismus".

Den Begriff prägte der New Yorker Stadtplaner Mike Lydon vor einigen Jahren für städtebauliche Veränderungen, die unter Umgehung der üblichen bürokratischen Wege erreicht werden. "Das Besondere an Barcelona ist, dass die Stadt zu einem Ort des Experimentierens geworden ist", stellen der Geograf Christoph Wenke und die Politikwissenschaftlerin Stefanie Kron in einer Untersuchung fest.

In Barcelona, der Hauptstadt der autonomen Region Katalonien, leben 1,6 Millionen Menschen, damit ist sie vergleichbar mit Hamburg oder München. Barcelona ist wie alle spanischen Städte traditionell stark vom Autoverkehr belastet und weist chronisch hohe Schadstoffkonzentrationen auf.

Während der Pandemie wurden in Barcelona und auch in vielen anderen Städten schnell und unbürokratisch Straßenbereiche, meist Parkplätze, für die Außengastronomie zur Verfügung gestellt. Mit einfachen baulichen Elementen abgetrennt, wurden Parkplätze so zu Sitzbereichen für Restaurants und Bars.

Taktisches Experimentieren bedeutet jedoch keinesfalls, dass dabei Ziele und langfristige Perspektiven aus dem Blick geraten würden, betont Mobilitätsexpertin Floridea Di Ciommo, die als Leiterin der gemeinnützigen Genossenschaft Cambiamo die Stadtregierung in Barcelona viele Jahre lang beraten hat.

Was können wir lernen?

Wie sieht es nun mit der Übertragbarkeit der Erfahrungen aus den genannten – und vielen weiteren – Städten aus? Lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, von denen deutsche Kommunen lernen können?

Zunächst: Verblüffenderweise überwiegen, trotz aller Unterschiede in der Größe (von Kleinstädten bis zu Megacitys), in Sprache, Kultur und Nationalität, die Gemeinsamkeiten. Das betrifft die Dominanz des Autos, aber auch sonst sind die Probleme, die Befürchtungen und Ängste und selbst die Debatten ähnlich.

Deshalb können auch Städte in Deutschland die Erfolgsrezepte und Erfahrungen der Vorreiterkommunen für sich nutzen, die sich in der Gesamtschau zeigen:

  • Erfolgreiche, anhaltende und einschneidende Veränderungen benötigen Zeit, viel mehr Zeit, als eine Legislaturperiode dauert. Erfolgreiche Städte verfolgen einen langfristigen Plan und können auf eine jahrzehntelange kontinuierliche Politik zurückblicken.
  • Wenn sich dann der Wind dreht – sei es durch Gerichtsentscheidungen oder Änderungen der politischen Großwetterlage –, muss der Plan fertig sein und in die Tat umgesetzt werden.
  • Wenn sich Möglichkeiten für Veränderungen auftun, muss schnell gehandelt werden. Erste substanzielle Verbesserungen müssen bereits vor den nächsten Wahlen spürbar und sichtbar werden.
  • Temporäre Maßnahmen haben den Vorteil, dass ihre Auswirkungen schnell sichtbar werden und sie überzeugende Argumente liefern können, wenn es um eine Verstetigung und Ausdehnung in Raum und Zeit geht.
  • Feedback ist wichtig. Mechanismen für die Aufnahme von Kritik und für Korrekturen müssen vorgesehen sein.
  • Engagierte Personen an Schlüsselpositionen in Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft können Kristallisationspunkte einer Verkehrswendedynamik sein. Sie können Plänen ein Gesicht und eine Stimme geben und helfen, Widerstände zu überwinden und Prozesse zu beschleunigen.
  • Die Beispiele zeigen, dass ehrliches, dauerhaftes Engagement für die Verkehrswende durchaus dazu führen kann, dass Mandatsträger mehrfach wiedergewählt werden.

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