„Das Recht auf Mobilität – wie kann Mobilitätsarmut überwunden werden?“

12.05.2022
Manuela Kropp, Projektmanagerin Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel

Workshop am 26. April 2022 im Rahmen der Konferenz „Global Green New Deal“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel

Mobilitätsarmut ist ein wachsendes Problem in der EU. Steigende Kraftstoffpreise, die Diskussion um ein Ölembargo aufgrund des Ukrainekrieges, steigende Lebensmittelpreise, steigende Fahrkartenpreise für öffentliche Verkehrsmittel und die Bahn sowie das Fehlen öffentlicher Verkehrsmittel (vor allem in ländlichen Gebieten) bringen immer mehr Haushalte in finanzielle Notlagen und Mobilitätsarmut. Derzeit verhandelt das Europaparlament die Ausdehnung des europäischen CO2-Preises auf die Bereiche Verkehr und Gebäude (das sog. ETS 2) – dies wird zu weiteren Preissteigerungen bei Verkehr und Heizen führen. Auch wenn ein europäischer Klimasozialfonds (European social climate fund) eingeführt werden soll, ist fraglich, ob dies genug Entlastung bringt. Ein CO2-Preis auf Benzin und Diesel benachteiligt vor allem Haushalte mit mittlerem und niedrigem Einkommen, insbesondere wenn diese Haushalte keine Wahl haben und auf ein Auto angewiesen sind. Andererseits zeigt der jüngste IPCC-Bericht, wie dringend wir umsteuern und die Treibhausgase aus dem Verkehrssektor senken müssen. Vor diesem Hintergrund haben wir diskutiert, wie das Recht auf Mobilität für Alle gewährleistet werden kann, denn Mobilität bedeutet gesellschaftliche Teilhabe.

Folgende Referent*innen haben mit uns diskutiert:

  • Cornelia Ernst, Mitglied des Europaparlaments, Linke Fraktion THE LEFT, Deutschland
  • Sabrina Iannazzone, European Anti-Poverty Network EAPN
  • Yamina Saheb, Wissenschaftlerin, Openexp
  • Bela Galgoczi, European Trade Union Institute
  • Sabine Trier, European Transport Workers’ Federation
  • Thomas Eberhard-Koester, Attac Deutschland
  • Pierre Eyben, Stadtrat (local councilor), Liège (Lüttich), Belgien

Cornelia Ernst (MdEP, linke Fraktion THE LEFT) legte in ihrem Beitrag dar, dass das Thema „Mobilitätsarmut“ im europäischen Parlament fast gar nicht diskutiert werde, ganz besonders auch die besonderen Bedarfe von behinderten Menschen, von Frauen und von Menschen im ländlichen Raum würden ignoriert. Dabei sei es klar, dass wir den gesamten Individualverkehr umbauen müssten – mit weniger Autos, dass wir ein Auslaufen des Benziners und Diesels bräuchten, aber eben auch einen umfassenden Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Dazu gehöre natürlich auch der Ausbau der Infrastruktur, wie z.B. der Schiene, wo allein in Deutschland seit 1990 6.000 Kilometer Schiene abgebaut worden sind. Die von der europäischen Kommission vorgeschlagene Ausweitung des ETS 2 (europäischer CO2-Preis) auf Verkehr und Wohnen sei abzulehnen, denn dies sei schlicht sozial ungerecht und belaste vor allen Dingen untere und mittlere Einkommen, und Pendler*innen auf dem Land. Damit steige die Gefahr von Mobilitätsarmut und Energiearmut weiter an, und das in der derzeitigen Situation von sowieso schon steigenden Preisen. Auch zeigten die bisherigen Erfahrungen mit dem klassischen Emissionshandel (ETS), dass die marktbasierten Lösungen nur geringe Lenkungswirkung entfalten und viel zu langsam zu einer Senkung der Treibhausgase führen. Hier müssten stattdessen regulatorische Maßnahmen eingeführt werden. Gut sei der Vorschlag, einen europäischen Klima- und Sozialfonds (European social climate fund) einzuführen, aber er dürfe eben nicht aus einem europäischen CO2-Preis für Verkehr und Gebäude (ETS 2) gespeist werden. Auch die finanzielle Ausstattung dieses Fonds mit 72 Milliarden Euro für die Periode von 2025 – 2032 für die gesamte EU sei viel zu gering. Der Vorschlag der Fraktion EPP, S&D und Renew, diesen Fonds auch noch für andere Zwecke wie die Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen zu nutzen, schmälert weiter die verfügbaren Finanzen zum Kampf gegen Mobilitätsarmut und Energiearmut. Dies werde deshalb von der linken Fraktion THE LEFT abgelehnt. THE LEFT fordere daher, diesen Fonds vom CO2-Preis abzukoppeln, mit mehr Mitteln auszustatten und aus dem allgemeinen Haushalt zu finanzieren. Diese Gelder sollten z.B. für die energetische Sanierung von Gebäuden eingesetzt werden und würden so Energiearmut bekämpfen. Auch könnten genossenschaftliche Car-Sharing-Angebote damit unterstützt werden. Projekte hingegen, die mit fossilen Brennstoffen arbeiten oder wo die Rechte von Beschäftigten missachtet werden, sollten keine Förderung erhalten. Insgesamt müsse der Hype um Wasserstoff und Elektroautos kritisch gesehen werden, denn wir brauchen schlicht weniger Autos auf unseren Straßen. Um die Bürger*innen für Klimaschutz und den Umbau unserer Wirtschaft zu gewinnen, müssen Vorschläge wie ein europäischer CO2-Preis für den Verkehr und für Gebäude abgelehnt werden. Und die 100 Milliarden Euro, die in Deutschland zusätzlich fürs Militär vorgesehen sind, wären im Aufbau einer klimafreundlichen Infrastruktur viel besser aufgehoben.

Sabrina Iannazzonne (European Anti-Poverty Network EAPN) betonte, wie wichtig es sei, Mobilitätsarmut zu bekämpfen, denn die soziale Gerechtigkeit müsse während der Transformation gesichert werden. Bei der Analyse von Mobilitätsarmut gehe es um den Zugang zum öffentlichen, CO2-armen Verkehr, der gleichzeitig günstig und qualitativ hochwertig sein müsse. Bei der Frage der Mobilitätsarmut zeige sich ein starker Unterschied zwischen osteuropäischen und westeuropäischen Mitgliedstaaten – in Osteuropa leiden die Menschen besonders stark unter den gestiegenen Preisen für fossile Brennstoffe. Transport bzw. Verkehr betrachtet EAPN als Dienstleistung von allgemeinem öffentlichen Interesse und im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte wird dies als wesentliche Dienstleistung (essential services) angesehen. Daraus ergebe sich nach Meinung von EAPN ein spezifischer Regulierungsbedarf: die öffentlichen Behörden müssen Sicherheit, Qualität und günstige Preise garantieren und dürfen dies nicht dem Markt überlassen. Auch wenn der ÖPNV bspw. über private Anbieter abgewickelt werde, müsse der Staat dafür sorgen, dass bestimmte Normen eingehalten werden. Hier sei auf den Bericht des europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss von 2019 (European Economic and Social Committee) verwiesen, der feststellte, dass grundlegende Dienste (essential services) wichtig für die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte seien. Der ÖPNV gelte als gemeinwirtschaftliche Aufgabe, so dass er nicht den Marktregeln des europäischen Binnenmarktes unterworfen werden müsse. Die jüngsten Kürzungen im Schienenverkehr und im ÖPNV hätten jedoch die Versorgung mit Transportangeboten gerade im ländlichen Raum weiter verschlechtert und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gemeinden noch anwachsen lassen. Gerade Haushalte mit niedrigen Einkommen seien dann gezwungen, weiterhin auf Transportlösungen mit fossilen Brennstoffen zurückzugreifen, denn sie hätten aufgrund der Anschaffungskosten weniger Zugang zu Elektroautos. Höhere CO2-Preise (z.B. durch die Ausdehnung des ETS) würden die Ungleichheit für diese Haushalte weiter steigern. Dies könne sogar Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben, wenn die Menschen bestimmte Jobs aufgrund von Mobilitätsarmut gar nicht antreten könnten. Daher sei ein integrierter politischer Ansatz notwendig: eine progressive Besteuerung, die Geringverdiener begünstige. Auch der Strommarkt müsse so umgestaltet werden, dass faire Preise gewährleistet werden könnten.

Yamina Saheb (Wissenschaftlerin, Openexp) begrüßte, dass das Thema Mobilitätsarmut (in Verbindung mit Energiearmut) endlich auf der politischen Agenda angekommen sei. Es brauche einen Indikator für die verschiedenen Mitgliedstaaten, der Mobilitätsarmut und Energiearmut verbinde und gemeinsam darstelle. Auf europäischer Ebene gebe es zwar Instrumente zur Bekämpfung von Energiearmut, allerdings keinerlei Instrumente gegen Mobilitätsarmut. Zum ersten Mal tauchte der Begriff Mobilitätsarmut im Paket EUFitfor55 auf – aber leider aus den falschen Gründen: im Zusammenhang mit der Ausdehnung des ETS auf Verkehr und Gebäude. Yamina Saheb schlägt eine europäische Definition für Mobilitätsarmut vor, um die Problematik entsprechend erfassen zu können. In der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Mobilitätsarmut werde die Abhängigkeit vom Auto stark thematisiert, aber leider nicht die mangelnde Versorgung mit Angeboten des ÖPNV. Gerade für den Bereich des ÖPNV würden schlicht Daten fehlen, wohingegen für die Erschwinglichkeit des motorisierten Individualverkehrs alle zwei Jahre Daten in den verschiedenen Mitgliedstaaten erhoben würden. Ein Indikator, der das Wohlbefinden (well-being) der Menschen erfasse, müsse auch Daten zu Mobilitätsarmut und Energiearmut enthalten. Yamina Saheb wies ebenfalls auf den Zusammenhang von Mobilitätsarmut und fehlgeleiteter Stadtplanung hin: in den letzten 30, 40 Jahren seien unsere Städte flächenmäßig immer mehr gewachsen (urban sprawl), allerdings habe das ÖPNV-Angebot damit nicht mehr Schritt gehalten. Ein längst bekanntes Konzept müsse wiederbelebt werden: als das moderne Paris entstand, gab es schon einmal die Vorschrift, dass eine Haltestelle des ÖPNV nicht mehr als eine bestimmte Distanz vom Wohnort entfernt sein dürfe. Diese Vorschrift habe man nur vergessen, aber sie sei heute wichtiger denn je. Beim Thema Mobilitätsarmut schneiden Deutschland und Frankreich gleich schlecht ab, aber aus unterschiedlichen Gründen: in Frankreich sind die Distanzen bis zum nächsten ÖPNV-Angebot zu lang, in Deutschland hingegen fehle in vielen Regionen schlicht das ÖPNV-Angebot. Die Ausdehnung des ETS auf die Bereiche Verkehr und Gebäude könnte eine neue Gelbwestenbewegung auslösen. Daran zeige sich, wie sehr die Menschen unter Energie- und Mobilitätsarmut litten. Die europäische Säule sozialer Rechte erkenne immerhin den Anspruch auf Mobilität an, so dass klar sei: Mobilitätsarmut müsse nicht nur gemildert, sondern abgeschafft werden.

Bela Galgoczi (European Trade Union Institute) stellte klar, dass Mobilitätsarmut im Zusammenhang mit Energiearmut eine komplexe Herausforderung sei, und angegangen werden müsse, denn die Bekämpfung des Klimawandels müsse mit sozialer Sicherheit einhergehen. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land werde beim Thema Mobilitätsarmut besonders deutlich: in der Innenstadt sei das Angebot des ÖPNV gut, aber gleichzeitig hohe Mieten zu zahlen. Für Menschen aus ländlichen Regionen gebe es dann andererseits oft die Pendlerpauschale. Die Ausdehnung des ETS auf den Bereich Verkehr und Gebäude sei der „Elefant im Raum“, da der CO2-Preis diesmal direkt auf die Haushalte bezogen wird. Einerseits müsse die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen (jetzt besonders aus Russland) enden, andererseits müsse die soziale Frage berücksichtigt werden. Energiearmut betreffe v.a. Dingen Geringverdienende, wohingegen Mobilitätsarmut vorwiegend die mittleren Einkommen treffe – denn das unterste Zehntel der Haushalte auf der Einkommensskala könne sich bspw. gar kein Auto mehr leisten. Der europäische Klimasozialfonds dient vor Allem dazu, die sozialen "Nebenwirkungen" des ETS2 auszugleichen (also sei kein zusätzliches Instrument) könne aber trotzdem ein geeignetes Instrument zur Bekämpfung der Mobilitätsarmut sein, wenn mindestens 50 Prozent der Einnahmen zurückgeführt werden. Neben marktbasierten Instrumenten, brauche man auch Steuerpolitik, Regulierung und Normen im notwendigen Instrumentenmix der Klimapolitik.

Sabine Trier (European Transport Workers‘ Federation) betonte, dass die Problematik der Mobilitätsarmut das erste Mal in der smart mobility strategy der europäischen Kommission erwähnt wurde, aber leider aus den falschen Gründen. So, wie Sabrina Iannazzonne bereits erklärt habe, gehöre Mobilität zur Daseinsvorsorge, und daraus ergebe sich das Recht der Bürger*innen auf eine entsprechende Versorgung mit Angeboten des ÖPNV, der eine öffentliche Dienstleistung sein müsse. Mobilität sichere gesellschaftliche Teilhabe, wie z.B. das Wahrnehmen von Bildungsangeboten, das Fahren zum Arbeitsplatz oder zu kulturellen Veranstaltungen. Mobilitätsarmut müsse daher über die Förderung des öffentlichen Verkehrs bekämpft werden, und dieser müsse erschwinglich, zugänglich und hochwertig sein. Denn es dürfe nicht dazu kommen, dass der öffentliche Verkehr nur eine Notoption für Haushalte mit geringen Einkommen werde. Vielmehr müsse er so attraktiv und hochwertig gestaltet sein, dass alle gerne auf den öffentlichen Verkehr umstiegen – anders sei die ökologische Transformation auch gar nicht zu bewältigen. In den bisher auf EU-Ebene veröffentlichten Dokumenten zu „ökologischerem Verkehr“ fehle der öffentliche Verkehr, denn er werde bisher nicht als entscheidend für die Verkehrswende anerkannt. Der Ausbau des ÖPNV sei zwar Sache der Mitgliedstaaten, aber es brauche eben auch politische Vorgaben auf europäischer Ebene, bspw. zur Sicherung der Finanzierung über geeignete Instrumente. Die EU-Verordnung zu gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen setze bisher zu stark auf Wettbewerb und sorge dafür, dass nur der billigste Anbieter zum Zuge komme. Dadurch entstünden Probleme bei der Qualität des ÖPNV, und auch die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten gerieten unter Druck. Wichtig sei vielmehr, beim ÖPNV und beim Schienenverkehr durch die Direktvergabe die Daseinsvorsorge und das öffentliche Interesse zu sichern. Die Ausschreibungspflicht im öffentlichen Verkehr begünstige die „Spirale nach unten“ – daher sollten die Leitlinien zu gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen anders, und nicht im Sinne der Wettbewerbslogik, interpretiert werden. Weiterhin erklärte Sabine Trier, dass sog. nachfragebasierte, on-demand-Angebote über Mobilitätsplattformen durchaus ein attraktives Angebot für den ländlichen Raum darstellen könnten, aber hier eine große Gefahr von prekären Arbeitsbedingungen lauere. Hier müsse es ganz klare Regeln für die Sicherung der Arbeitsbedingungen geben, ansonsten schreite die Prekarisierung von Arbeit weiter fort. Dies betreffe natürlich auch städtische Lieferdienste – es könne bspw. nicht sein, dass Amazon mit dem Slogan „Null Lieferkosten“ Werbung mache. Abschließend beschrieb Sabine Trier, dass bei der Einführung eines kostenlosen ÖPNV natürlich auch Jobs wegfallen könnten (z.B. bei Kontrolleur*innen oder Fahrscheinverkäufer*innen). Hier sei aber Luxemburg ein gutes Beispiel, wo die Gewerkschaften bei der Einführung des kostenlosen ÖPNV durchsetzen konnten, dass neue Jobs in anderen Bereichen des ÖPNV geschaffen wurden. Und es fehlten in fast allen Mitgliedstaaten Lokomotivführer*innen und Busfahrer*innen. Abschließend bemerkte sie, dass ihre Gewerkschaft ETF natürlich auch die Ausdehnung des ETS auf den Verkehrsbereich problematisch finde, denn dies verschärfe die soziale Schieflage.

Thomas Eberhard-Koester (Attac Deutschland) schilderte aus Sicht der Verkehrswendebewegung, wie Druck von unten aufgebaut werden müsse, um die Mobilitätswende tatsächlich einzuleiten. In der aktuellen Attac-Kampagne „Einfach umsteigen! Klimagerechte Mobilität für Alle“ werden die soziale und die ökologische Frage zusammengebracht. In Deutschland gebe es das besondere Phänomen, dass soziale Fragen „übers Auto“ und „über den Spritpreis“ diskutiert und vermeintlich gelöst werden. Leider werde die soziale Frage aber kaum jenseits des Spritpreises diskutiert. Auch wenn es um die notwendige Streichung von Subventionen für den Flugverkehr gehe, werde oft mit dem „Flug in den Urlaub“ argumentiert, den sich der/die Normalverdiener*in dann nicht mehr leisten könne. Dies verkenne aber die Tatsache, dass die meisten Menschen nur wenig bis gar nicht fliegen. Und über 50 Prozent der Haushalte mit niedrigem Einkommen verfügen über gar kein Auto, schlicht, weil es schlicht zu teuer ist. Wohingegen Haushalte mit hohem Einkommen zwei oder sogar mehr Autos besäßen – hier zeige sich, wie die Subventionierung von Sprit eben auch soziale Schieflagen beibehält. Hinzu komme, dass Menschen mit geringerem Einkommen eher an großen, schmutzigen, lauten Straßen wohnten oder in der Nähe von Flughäfen und gesundheitlich viel stärker vom Verkehrsaufkommen belastet seien. Mobilitätsarmut hänge also nicht davon ab, wie stark die Preise subventioniert seien, sondern wie wir Mobilität als soziale Infrastruktur gestalten würden. Unter der aktuellen deutschen Bundesregierung komme die notwendige Mobilitätswende kaum voran: es würde zwar gesagt „mehr Bahn“ und „mehr ÖPNV“, aber die konkrete Planung der Finanzen fehle. Und über die notwendige Reduzierung des Autoverkehrs insgesamt werde überhaupt nicht gesprochen. Attac fordere daher, gemeinwirtschaftliche und klimafreundliche Verkehrssysteme für alle zu schaffen, die über Steuern finanziert werden. Auch Mobilitätsplattformen als soziale Infrastruktur gehören in öffentliche Hand – siehe dazu eine Studie von Attac und RLS von 2021.

Pierre Eyben (Stadtrat aus Liège, Belgien) beschrieb aus Sicht eines Kommunalpolitikers, wie die Interessen der Autobesitzer*innen den Ausbau des lokalen ÖPNV in der Stadt blockieren können. In der Stadt Liège leben ca. 200.000 Menschen, aber das Einzugsgebiet der Stadt umfasst ca. 600.000 Menschen. In dieser Stadt leben die Wohlhabenden außerhalb der Stadt und fahren jeden Tag mit ihrem Auto ins Stadtzentrum, wohingegen die ärmeren Menschen in der Stadt leben und unter dem fehlenden ÖPNV, Flächenverbrauch für Parkplätze, Luftverschmutzung und Lärmbelästigung leiden. Jeden Tag fahren ca. 150.000 Autos ins Stadtzentrum hinein, um vom kulturellen und infrastrukturellen Angebot der Stadt zu profitieren. In Belgien hängt die Finanzierung der Städte von den Einkommen derer ab, die in der Stadt leben, so dass für den Ausbau des ÖPNV nicht genügend Gelder zur Verfügung stünden. Es finde ein regelrechtes „Lobbying“ gegen den Ausbau des ÖPNV statt, denn es würde ein Ansteigen der Steuerlast befürchtet. Dies führt dazu, dass die ärmere Bevölkerung quasi „in der Stadt“ festsitze und aufgrund des fehlenden ÖPNV-Angebots unter Mobilitätsarmut leide. Wichtig sei daher der Ausbau des ÖPNV, der nicht notwendigerweise gratis sein müsse, aber erschwinglich, von guter Qualität und auch die leichte Mitnahme von Fahrrädern ermöglichen sollte. Sog. verkehrsberuhigte Zonen (low-emission zones), die nur für Elektroautos zugänglich seien, seien ebenfalls keine Lösung, denn viele Menschen könnten sich die Anschaffung eines Elektroautos schlicht nicht leisten. Viel besser sei es daher, Autos aber einer bestimmten Größe in der Innenstadt zu verbieten, und den Raum für Autos insgesamt zu begrenzen, um mehr Flächengerechtigkeit zu erreichen.

In der abschließenden Diskussion wurde betont, wie wichtig die demokratische Beteiligung der Bürger*innen ist, wie stark die Frage der Mobilität von unten, auf lokaler Ebene entwickelt werden muss, da sie im Alltag ständig erfahrbar für Menschen sei und wie sehr es darauf ankomme, eine Definition und Daten für das Vorliegen von Mobilitätsarmut zu erarbeiten.