„Die Regierung hat sich unserer Meinung nach zu sehr auf die EU verlassen.“
Interview mit Tobias Lund, Abgeordneter der norwegischen Linkspartei Rødt („Rot“)
Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine wurden in den nordischen Ländern vor allem mit Blick auf Finnland und Schweden und deren möglichen Beitritt zur NATO betrachtet. Doch wie haben andere nordische Länder auf den russischen Angriffskrieg reagiert, was sind ihre wichtigsten Forderungen, und welche Rolle spielen linke Parteien bei dieser Reaktion? Tobias Drevland Lund, Abgeordneter der norwegischen Linkspartei Rødt, erläutert die Erfahrungen in Norwegen und die Aussichten für eine progressive und nachhaltige Sicherheitsinfrastruktur in Europa.
Wie hat die norwegische Regierung auf den Krieg in der Ukraine reagiert? Liefert das Land Waffen an die Ukraine oder hat es eine Lieferung angekündigt? Gab es irgendwelche wesentlichen Änderungen in der Regierungshaltung?
Zunächst waren sich die sozialdemokratisch geführte Regierung und alle anderen Parteien im Parlament einig, dass wir Putins Aggression mit seinem illegalen, imperialistischen Angriff auf die Ukraine verurteilten. Unter den Parteien bestand auch ein breiter Konsens darüber, der Ukraine mit medizinischer und humanitärer Hilfe zu helfen und die ukrainischen Flüchtlinge aufzunehmen.
Der erste große Haltungswechsel der Regierung war, als sie sich dafür aussprach, Waffen in die Ukraine zu schicken. Zunächst einigten sich alle Parteien darauf, den Ukrainern mit Helmen und Schutzwesten zu helfen, weil die Ukraine dies ausdrücklich gefordert hatte. Wenig später wurde aber beschlossen, dass Norwegen auch mit militärischen Waffen einen Beitrag leisten sollte.
Damit wurde ein Gesetz aus dem Jahr 1959 verletzt, wonach Norwegen keine Waffen in ein Kriegsland exportieren darf. Damals hatte Norwegen eine gemeinsame Grenze zur Sowjetunion und das Land hatte Angst, nach internationalem Recht als Mitkämpfer gegen die Sowjets angesehen zu werden.
Die norwegische Regierung und alle Parteien im Parlament mit Ausnahme der Roten Partei unterstützten diesen neuen Haltungswechsel. Die Rote Partei ist der Meinung, dass das an Russland angrenzende Norwegen immer noch vorsichtig sein sollte, der Ukraine Waffen zu liefern, da es uns zu einem Mitkämpfer machen könnte. Wir sollten lieber alles tun, was wir können, um den Ukrainern mit anderen Mitteln zu helfen.
Welche Maßnahmen plant die Regierung, um dazu beizutragen, den Frieden in der Ukraine herzustellen? Wie ist ihre Position auf EU-Ebene und gegenüber der NATO?
Die Regierung hat sich unserer Meinung nach zu sehr auf die EU verlassen. Obwohl Sanktionen und Beschränkungen mehr Wirkung haben, wenn sich mehr Länder einigen, glaubt die Rote Partei, dass die Regierung nur zögerlich mit verschiedenen Maßnahmen auf die Krise reagiert hat. So haben wir beispielsweise schon früh die Umsetzung eines Gesetzes vorgeschlagen, das eine Untersuchung einleiten und einen internationalen Haftbefehl gegen Putin wegen Verstoßes gegen das Verbot von Angriffskriegen gemäß dem Römischen Statut erlassen würde.
Die Regierung und die Mehrheit im Parlament haben diesen Vorschlag abgelehnt. Die Rote Partei schlug auch harte Sanktionen gegen die russischen Oligarchen vor und wir forderten den Ausschluss aller russischen Oligarchen aus unserer Öl- und Gasindustrie. Letzteres hat tatsächlich stattgefunden – nicht aufgrund unserer Regierung, sondern aufgrund von Maßnahmen der Briten.
Wir haben die Regierung auch aufgefordert, aktiver die ukrainischen Flüchtlinge nach Norwegen zu transportieren und Aktivisten, Künstlern und russischen Deserteuren, die sich weigern, in Putins Krieg zu kämpfen, Unterschlupf zu gewähren.
Gab es in Norwegen Proteste? Was sind die wichtigsten Forderungen? Welche Rolle spielen Friedensorganisationen bei den Protesten? Welche Rolle spielen Gewerkschaften?
Im ganzen Land gab es mehrere Proteste und die Ukrainer selbst spielten eine sehr aktive Rolle bei deren Organisation. Fast wöchentlich gibt es Demonstrationen in den größten norwegischen Städten. Viele der Forderungen sind unterschiedlich, aber eines ist klar: Stoppt Putins Krieg gegen die Ukraine. Die Gewerkschaften haben ihre Genossen in der Ukraine lautstark und in Form von Spenden und anderen Formen unterstützt.
Auch die norwegische Friedensbewegung hat versucht, Menschen zu versammeln, und vor einigen Wochen fand in Oslo eine Friedenskonferenz statt, die von Schlüsselpersonen der Friedensbewegung organisiert wurde. Ich hoffe wirklich, dass die Friedensbewegung stärker wird, denn wir brauchen sie jetzt mehr denn je.
Wie haben die linken Parteien Norwegens sowohl auf den Krieg als auch auf die Reaktion der Regierung reagiert? Hat sich die Position wesentlich verändert? Welche Vorschläge gibt es von den linken Parteien für konkrete Maßnahmen zur Beendigung des Krieges und zur langfristigen Friedenssicherung in der Ukraine?
Erstens müssen wir natürlich alles in unserer Macht Stehende tun, um den Krieg zu beenden und Putin vor Gericht zu bringen. Ich denke auch, dass die linken Parteien bei der Entwicklung unserer Sicherheitspolitik zu passiv gewesen sein könnten.
Lange standen alle Kriege, die die USA und das NATO-Bündnis etwa in Libyen, in Afghanistan und im Irak führen, im Vordergrund. Diese Kriege waren katastrophal und wir haben das Richtige getan, sie abzulehnen, so wie wir alle imperialistischen Kriege ablehnen.
Die Politik und Forderungen sowohl der Roten Partei als auch der Sozialistischen Linkspartei bestanden darin, sich aus der NATO zurückzuziehen und ein nordisches Verteidigungsbündnis aufzubauen. Da der Fokus auf alle US-Kriege im Ausland so groß war, haben wir eine solche Alternative nicht richtig diskutiert oder entwickelt.
Russlands Angriff auf die Ukraine hat ein nordisches Verteidigungsbündnis leider nun zu einem noch weiter entfernten Traum gemacht, da sowohl Schweden als auch Finnland der NATO beitreten – es sei denn, Erdogan legt ein Veto gegen ihre Anträge ein. Meiner Meinung nach muss die nordische Linke mehr daran arbeiten, Strategien zu entwickeln und Glaubwürdigkeit sowohl hinsichtlich unserer Verteidigungspolitik als auch hinsichtlich unserer Alternativen zur NATO zu gewinnen.
Derzeit kämpft die Rote Partei – neben der Friedensbewegung – gegen einen Gesetzentwurf der Regierung, der eine dauerhafte US-Militärpräsenz auf Militärbasen in Norwegen ermöglichen würde. Dies würde die anhaltenden Streitigkeiten und schwierigen Beziehungen zu Russland noch verschlimmern und belasten. Wir würden lieber daran arbeiten, unsere eigene Verteidigung zu stärken, damit Norwegen nicht mehr wie heute auf US-Militärhilfe angewiesen ist.
Wie könnte nach Ansicht der Linkspartei eine fortschrittliche und nachhaltige Sicherheitsinfrastruktur in Europa (und/oder weltweit) aussehen? (Welchen Einfluss haben die linken Parteien auf die Diskussionen und die Politik als Reaktion auf die Situation?)
Sowohl die Rote Partei als auch die Sozialistische Linkspartei wurden von den großen Zeitungen und den anderen Parteien wegen unserer Haltung zur NATO nachhaltig angegriffen. Es war nicht einfach, aber in schwierigen Zeiten ist es wichtiger denn je, an seinen Überzeugungen festzuhalten.
Ich glaube nicht, dass die NATO ein Schlüssel zum Frieden in Europa und in der Welt sein wird. Im Gegenteil, ich denke, die Beziehungen zwischen der NATO/den USA und Russland werden sich weiter verschlechtern, und ich bin entsetzt, wenn ich daran denke, was zwei Atommächte einander antun können. Wenn also Schweden und Finnland der NATO beitreten, sollten sich die nordischen Länder auch innerhalb des Bündnisses zusammenschließen.
Es ist wichtiger denn je, dass sich die Linke in Europa und weltweit weiter für Frieden, nukleare Abrüstung und diplomatische statt militärischer Lösungen einsetzt.