Recht auf Mobilität diesseits und jenseits des Atlantik: Brasilien vor den Präsidentschaftswahlen
In Deutschland ist gerade die Diskussion über das 9-Euro-Ticket, das eine Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) überall in Deutschland für 9 Euro im Monat erlaubt, in aller Munde. Denn trotz seines durchschlagenden Erfolgs präsentiert die deutsche Bundesregierung bisher kein Folgeprojekt, so dass das 9-Euro-Ticket Ende August dieses Jahres auslaufen wird. Über 30 Millionen Menschen (ca. 40 Prozent der Bevölkerung) in Deutschland haben von diesem Angebot Gebrauch gemacht und dies zeigt, wie groß das Bedürfnis nach Mobilität und wie wichtig das Recht auf Mobilität ist, gerade auch angesichts der Krise der steigenden Lebenshaltungskosten. Zwar ist durch das 9-Euro-Ticket der Autoverkehr nur in geringem Maße zurückgegangen, doch eröffnete dieses Ticket ein Möglichkeitsfenster, über den Zusammenhang von Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit zu diskutieren: Ein erschwingliches Ticket für den öffentlichen Verkehr ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe für Alle und leistet einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz und zur Bekämpfung von Armut. In der Kampagne „9-Euro-Ticket weiterfahren“ fordern u.a. Attac Deutschland, Changing Cities und das Konzeptwerk Neue Ökonomie, das 9-Euro-Ticket weiterzuführen, den ÖPNV auszubauen und dort bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten sicherzustellen. Auch die Partei DIE LINKE. fordert eine Anschlusslösung für das 9-Euro-Ticket und schlägt als Gegenfinanzierung die Abschaffung der steuerlichen Förderung von Dienstwagen vor (Dienstwagenprivileg). Damit ließen sich pro Jahr zwei Milliarden Euro dieser klimaschädlichen und sozial ungerechten Subvention einsparen und für klimafreundliche Mobilität verwenden. Das Bundesumweltamt beziffert die umweltschädlichen Subventionen im Verkehrsbereich für Deutschland auf ca. 30 Milliarden Euro pro Jahr. Das 9-Euro-Ticket würde in einem Jahr 10 Milliarden Euro kosten, und wäre dagegen regelrecht günstig. Der Deutsche Gewerkschaftsbund Baden-Württemberg fordert einen öffentlichen Fonds auf Bundesebene, um eine Nachfolgelösung für das 9-Euro-Ticket zu schaffen.
Movimento Passe Livre und Tarifa Zero in Brasilien
Die Diskussion um bezahlbaren oder sogar entgeltfreien ÖPNV spielt nicht nur in Deutschland bzw. der EU eine wichtige Rolle, sondern auch in Brasilien. Am 2. Oktober 2022 finden dort die nächsten Präsidentschaftswahlen statt, wobei sich momentan ein enges Rennen zwischen dem amtierenden rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro und dem Kandidaten der Arbeiterpartei, Luiz Inacio Lula da Silva, abzeichnet. 2013 wuchs die Bewegung für einen kostenlosen ÖPNV in Brasilien (Movimento Passe Livre und Tarifa Zero) zu einer beeindruckenden Bewegung an, als Tausende gegen die Erhöhung der Buspreise auf die Straße gingen. Die brasilianische Polizei ging gewaltsam und massiv gegen die Demonstrant*innen vor, doch dies schreckte die Menschen nicht ab, sondern mobilisierte Arbeiter*innen und Familien, sich ebenfalls den Protesten anzuschließen.[1] Momentan kann der Nulltarif in Brasilien nur von kommunaler Ebene finanziert werden, so dass immer wieder die berechtigte Forderung erhoben wird, auch die Bundesebene mit einzubeziehen, um die Finanzierung zu sichern. Mittlerweile verfügen über 45 Kommunen in Brasilien über einen ÖPNV zum Nulltarif und angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten wird dessen Ausweitung immer dringender. 10 Prozent des verfügbaren Einkommens müssten Durchschnittsfamilien in Brasilien für Mobilität ausgeben, wie der Senator Paulo Paim (Arbeiterpartei PT) auf der jüngsten Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brasilien erklärte. Ein Verfassungszusatz in der brasilianischen Verfassung stelle zwar klar, dass Verkehr bzw. Mobilität ein soziales Recht seien, aber in den meisten Regionen Brasiliens sei der ÖPNV für Normalverdiener*innen schlicht nicht erschwinglich. Ganz im Gegenteil: werde man ohne Fahrschein erwischt, drohten 90 Tage Gefängnis, wie Lucio Gregori, ehemaliger Gemeindesekretär für Verkehr in Sao Paulo (PT) erklärte. In einer Stadt wie Sao Paulo mit ca. 20 Millionen Einwohner*innen seien 70 Prozent des öffentlichen Raums für Autos reserviert – ein krasses Missverhältnis, das durch Verteuerung der Parkplätze und ‚Verteuerung der Stadt‘ für große und schwere Autos dringend korrigiert werden müsse. Würde in Sao Paulo der Nulltarif eingeführt, könnten sich die Passagierzahlen im ÖPNV verdreifachen – so könnte das Recht auf Stadt für Alle in Sao Paulo sichergestellt werden. Lucio Gregori forderte, dass die Bundesebene sich an den regionalen Verkehrskosten beteiligt, um die Kosten für einen Nulltarif besser zu verteilen – bspw. könne die Bundesebene eine Besteuerung auf PKW einführen.
Auto und Motorrad als Überlebensfrage
Aber der Trend der letzten Jahre gehe in Brasilien leider in eine ganz andere Richtung: schon vor der Corona-Pandemie sind die Passagierzahlen im ÖPNV eingebrochen, wurden Buslinien zusammengestrichen, Stadtbezirke vom ÖPNV abgehängt und Taktungen ausgedünnt und damit unattraktiver. So wird der Kauf eines PKW bzw. Mopeds oder Motorrads zur Überlebensfrage, denn Millionen Menschen in Brasilien haben sonst keinerlei Möglichkeit, zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, geschweige denn, Familie und Freunde zu besuchen. Eine Aktivistin brachte es auf den Punkt: der Klassenkampf drücke sich in der Organisation und sozialräumlichen Teilung der Stadt aus, so dass eben die Käufer*innen von Motorrädern nicht privilegiert seien, sondern vielmehr gezwungen, auf dieses Transportmittel zurückzugreifen. Ein anderer Aktivist beschrieb, dass Schwarze in Brasilien ein Motorrad bräuchten, da die Busfahrer*innen oft nicht anhielten, wenn Schwarze bzw. people of colour an der Bushaltestelle warteten. Iza Lourenca, Stadträtin in Belo Horizonte, beschrieb, wie sich die Situation unter Bolsonaro verschlechtert habe: jahrelang hätte es für die Nutzung der Stadtbahn von Belo Horizonte einen günstigen Fahrpreis gegeben, so dass die Menschen in der Stadt mobil sein konnten. Doch durch die jüngsten Tariferhöhungen bei der Stadtbahn sei die Zahl der Passagiere um 400.000 gesunken, und durch die Privatisierung des Schienenverkehrs stehe der Kollaps des brasilianischen Verkehrssystems unmittelbar bevor.
Erfolge in Brasilien und Deutschland
Umso erfreulicher sind die Erfolge der Kommunen, die während der Konferenz diskutiert wurden: So erklärte der Stadtrat von Caeté (Provinz Minas Gerais), wie zwei Prozent des Stadtbudgets ausreichen, um acht Buslinien zum Nulltarif, in öffentlicher Hand zu betreiben und die Zahl der Passagiere von vorher 15.000 auf heute 78.000 zu steigern. In der Stadt Marica (Provinz Rio de Janeiro) wurden 2015 die berühmten und sehr beliebten roten, kostenlosen Busse eingeführt: Busse und Mitarbeiter*innen gehören der Stadt, seit der Konzessionsvertrag aufgelöst wurde. Die Zahl der Buslinien hat sich auf 21 erhöht, die Zahl der Mitarbeiter*innen erhöhte sich ebenfalls und heute kann das Busunternehmen drei Millionen Fahrten im Monat verzeichnen – ein außerordentlich positiver Effekt für die Menschen und die Stadt. Und natürlich sind die Busse komfortabel eingerichtet: Klimaanlage und WIFI sind Standard. Detlef Tabbert, Bürgermeister (DIE LINKE.) der deutschen Stadt Templin, berichtete ebenfalls, wie enorm die Resonanz auf die Jahreskarte für den ÖPNV ist, die nur 44 Euro im Jahr kostet: fünf Prozent des Stadtbudgets wurden für den ÖPNV bereitgestellt, um die Umweltbelastungen für die Einwohner*innen zu reduzieren, den Ort für Tourist*innen attraktiver zu machen und die Mobilität der Bevölkerung zu verbessern. Durch die Einführung der Jahreskarte für 44 Euro hat sich die Zahl der Passagiere im ÖPNV von 40.000 auf 400.000 verzehnfacht. Um die Bürger*innen vor Ort in die Verkehrsplanung einzubinden, findet einmal im Jahr eine Bürgerversammlung statt, wo Ideen eingebracht werden können – ein großer Zugewinn an Demokratie und Akzeptanz in der Bevölkerung.
Solidarische Mobilitätswende
Und so zeigt sich, dass eine solidarische Mobilitätswende diesseits und jenseits des Atlantik die Streichung von Subventionen für die Autoindustrie erfordert, die Finanzierung eines gut ausgebauten, erschwinglichen ÖPNV durch die Bundesebene, sowie dessen Ausbau in der Fläche. Außerdem ist eine demokratische Einbindung der Bürger*innen in den verschiedenen Stadtteilen bzw. Regionen und der Nutzer*innen des ÖPNV in die Verkehrsplanung notwendig, damit deren Anliegen Gehör finden. Denn um soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz zu erreichen, brauchen wir eine solidarische Mobilitätswende weg vom motorisierten Individualverkehr und hin zum ÖPNV in öffentlicher Hand. Die jüngste Studie von Attac (und anderen)[2] zeigt, wie stark die Autoindustrie diesseits und jenseits des Atlantik Einfluss auf den geplanten Text des EU-Mercosur-Handelsabkommens genommen hat, um Absatzmärkte und Lieferketten zu sichern. Hier müssen wir umsteuern: durch den Aufbau einer europäischen (siehe die Studie „Spurwechsel“) und brasilianischen Mobilitätsindustrie (siehe dazu „The Need for Transformation“) für die Produktion von Bussen und Schienenfahrzeugen und durch den Ausbau des ÖPNV, bezahlbar für Alle und gerne zum Nulltarif. Damit das Recht auf Stadt, das Recht auf Mobilität und ein Leben innerhalb der planetaren Grenzen für Alle Wirklichkeit werden kann.
Referenzen
[1] Daniel Santini, Vom Traum des Jahres 2013 zum Albtraum der Uberisierung, in: Michael Brie/Judith Dellheim, Nulltarif, Hamburg 2020
[2] Mobilitätswende ausgebremst, Das EU-Mercosur-Abkommen und die Autoindustrie, Juni 2022
Portugiesische Version:
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Direito à mobilidade em ambos os lados do Atlântico Manuela Kropp